1 Bremische Bürgerschaft Drucksache 19/1727 Landtag 19.06.18 19. Wahlperiode Antwort des Senats auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD vom 14. Mai 2018 „Reform des Finanzausgleichs der Krankenkassen: Anreiz „Patientinnen und Patienten auf dem Papier kränker zu machen“ beseitigen“ Die Fraktion der SPD hat folgende Kleine Anfrage an den Senat gerichtet. „Bei Einführung des Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen bestand ein politischer Konsens, dass im Kassenwettbewerb faire Bedingungen herrschen sollen. Dazu gehört, dass die Struktur der Versicherten einen möglichst geringen Einfluss auf die Finanzlage der der Krankenkasse ausübt. Ziel des Wettbewerbs soll die optimale Versorgung der Versicherten sein. Bei den Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD ist ein alter Streit zwischen den Krankenkassen über eine Reform des Finanzausgleichs der Krankenkassen, den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) wieder aufgeflammt. Aus dem Risikostrukturausgleich erhalten die Krankenkassen seit dem Jahr 2009 mehr Geld für Versicherte mit Krankheiten, die besonders häufig, langwierig und teuer in der Behandlung sind. Der Solidarausgleich über den Morbi- RSA soll dafür sorgen, dass Krankenkassen, die überproportional viele kranke Mitglieder haben, im Wettbewerb finanziell nicht benachteiligt sind. Bei dem Ringen nach einer möglichst hohen Zuweisung aus dem Morbi-RSA besteht für Krankenkassen ein Anreiz, auf die Diagnosecodierung bei 80 festgelegten Krankheitsbildern der Ärztinnen und Ärzte Einfluss zu nehmen. Vereinfacht dargestellt: Je kränker Versicherte sind, umso höher fallen die Zuweisungen an die Krankenkassen aus. Bei einer Umfrage der Techniker Krankenkasse im Jahr 2017 gaben 82 Prozent der befragten Medizinerinnen und Mediziner an, schon einmal von einer Krankenkasse hinsichtlich der Diagnose ihrer Versicherten beeinflusst worden zu sein. Auf Basis dieser Diagnose erhalten die Krankenkassen Gelder aus dem Morbi-RSA. Das schafft Anreize, Patientinnen und Patienten auf dem Papier kränker zu machen, als sie sind. Die Nutzung der Spielräume bei ambulanten Diagnosen ist aus Sicht der Kassen im bestehenden System rational, hat aber eine negative Wirkung auf die Gesetzliche Krankenversicherung. Der Gesetzgeber reagierte auf den Vorwurf der Einflussnahme der Kassen und hat sie im April 2017 (Reform der Heil- und Hilfsmittelversorgung (18/10186)) explizit untersagt. Danach dürfen sich Krankenkassen oder Ärztinnen und Ärzte über eine unzulässige Beeinflussung von Diagnosen keine finanziellen Vorteile verschaffen. Eine neue Studie der Techniker Krankenkasse zeigt jedoch, dass das entsprechende Gesetz bislang keine ausreichende Wirkung entfaltet hat: Schon in den ersten Quartalen nach Inkrafttreten seien bereits wieder knapp 20 Prozent der befragten Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 2 Ärztinnen und Ärzte von Krankenkassen zu ihrer Diagnosestellung „beraten“ worden. Die Kassenverbände sehen weiterhin fehlerhafte Strukturen beim Morbi-RSA, die nicht nur zu einer unfairen Mittelverteilung, sondern zunehmend zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Das habe auch Nachteile für die Leistungserbringer und ihre Mitglieder. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 3 Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: 1. Sind dem Senat Fälle in Bremen und Bremerhaven bekannt, bei denen Krankenkassen gezielt auf Ärztinnen und Ärzte Einfluss nehmen wollten, um die Kodierung von Krankheiten zu beeinflussen („Höherkodierung“)? 2. Welche Einflussmöglichkeiten hat der Senat auf den Fehlanreiz einer „Höherkodierung“ des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichsystems einzuwirken? 3. Wie steht der Senat der Forderung gegenüber, einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich für Deutschland zu entwickeln, der resistent gegenüber Manipulationen ist? Ist er hierüber im Austausch mit anderen Bundesländern und/oder dem Bund? 4. Welche Erkenntnisse liegen dem Senat darüber vor, wie ein Regionalfaktor oder die Aufnahme sozialökonomischer Faktoren als Risikomerkmal in den Risikostrukturausgleich sich positiv für die gesetzlich Versicherten in Bremen und Bremerhaven auswirken könnte?“ Der Senat beantwortet die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung: Die Morbidität der Versicherten ist ein wesentlicher Aspekt des Risikostrukturausgleichs, der im Zusammenspiel mit dem Gesundheitsfonds die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen sichert und gleichzeitig für faire Bedingungen im Wettbewerb der Krankenkassen untereinander sorgen soll. Über die tatsächliche Ausgestaltung insbesondere des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs herrschen jedoch seit seiner Einführung unterschiedliche Auffassungen je nach Interessenslage der Beteiligten. Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich stand daher von Anfang an in der öffentlichen Diskussion. Vor diesem Hintergrund ist auch die Diskussion über die unterschiedlichen Anstrengungen der Krankenkassen zu sehen, die Vertragsärzte zu einer – je nach Blickwinkel „korrekten“ oder „günstigeren“ – Kodierung der für den Risikostrukturausgleich relevanten Krankheitsbilder zu veranlassen. Die Morbidität der Versicherten ist jedoch auch ein wesentlicher Aspekt bei der Bemessung der für die Versorgung der Versicherten an die Kassenärztlichen Vereinigungen zu entrichtenden Gesamtvergütung. In der Diskussion über „richtiges Kodieren“ oder „Höherkodieren“ trat dieser Aspekt regelmäßig in den Hintergrund, auch wenn sich Veränderungen in der Kodierung der Krankheitsbilder mit zeitlicher Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 4 Verzögerung auf die Feststellung des Behandlungsbedarfs der Versicherten und damit auf die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung der Vertragsärztinnen und Vertragsärzte auswirken. Zu Frage 1: Dem Senat sind keine konkreten Fälle aus Bremen und Bremerhaven bekannt geworden, bei denen Krankenkassen gezielt auf Ärztinnen und Ärzte Einfluss nehmen wollten, um die Kodierung von Krankheiten im Sinne einer „Höherkodierung“ zu beeinflussen. Allerdings haben Krankenkassen, aber auch die Kassenärztliche Vereinigung Bremen, in der Vergangenheit die behandelnden Ärztinnen und Ärzte regelmäßig auf die Bedeutung einer umfassenden und korrekten Kodierung aller behandelten Krankheitsbilder hingewiesen. In diesem Zusammenhang kam es gelegentlich auch zu Hinweisen, wenn im Zeitverlauf der Behandlung unstimmige Kodierungen zu erkennen waren. Zu Frage 2: Dem Senat stehen keine unmittelbaren Instrumente zur Verfügung, auf den Fehlanreiz einer „Höherkodierung“ des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichsystems einzuwirken. Als Aufsichtsbehörde über die landesunmittelbaren Körperschaften in der gesetzlichen Krankenversicherung wirkt die Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz allgemein darauf hin, dass sich diese Körperschaften – ebenso wie alle anderen Körperschaften auch – an das für sie geltende Recht halten. Im extremen und bisher nur theoretischen Fall eines rechtswidrigen Verhaltens stünden der Aufsichtsbehörde die gesetzlichen Aufsichtsmittel zur Verfügung, dieses Verhalten zu unterbinden. Andererseits betont der Senat das Interesse sowohl der Krankenkassen als auch der Vertragsärztinnen und der Vertragsärzte sowie der Patientinnen und Patienten an einer korrekten Kodierung der Krankheiten. Denn eine korrekte Kodierung wirkt sich nicht nur über die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds positiv auf die Einnahmen der Krankenkassen aus, sondern über den jährlich festzustellenden Behandlungsbedarf auch auf die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung und damit auf die Honorare der Vertragsärztinnen und Vertragsärzte. Für die Versorgung der Patientinnen und Patienten dürfte dies sich ebenfalls positiv gestalten. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 5 Zu Frage 3: Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich ist von Beginn an als ein sogenanntes lernendes System angelegt, das stetig weiter entwickelt und verbessert werden soll. Entsprechend wird es wissenschaftlich begleitet, regelmäßig an sich verändernde Gegebenheiten angepasst und eine stetige Verbesserung in der Resistenz gegenüber Manipulationen angestrebt. Auf diesem Weg arbeitet das Land Bremen kontinuierlich mit dem Bund und den übrigen Ländern zusammen. So sollte bspw. die Kodierung der Krankheitsbilder mittels Wiedereinführung von Kodierrichtlinien vereinheitlicht und verbessert werden. Zu Frage 4: Dem Senat sind diverse Gutachten bekannt, die sich mit der Einbeziehung von Regionalfaktoren oder sozialökonomischen Faktoren als Risikomerkmale in den Risikostrukturausgleich beschäftigen. Diese Gutachten umfassen jedoch jeweils nur Teilaspekte möglicher Veränderungen, ohne dass sich das komplexe System des Risikostrukturausgleichs darin umfassend abbilden lässt. Dem Senat liegen keine Erkenntnisse vor, ob und inwieweit sich das Einbeziehen von Regionalfaktoren, sozialökonomische Faktoren oder sonstige Veränderungen positiv oder negativ auf die gesetzlich Versicherten in Bremen und Bremerhaven, aber auch auf die im Land Bremen tätigen Krankenkassen sowie die Vertragsärztinnen und Vertragsärzte auswirken werden. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft