BREMISCHE BÜRGERSCHAFT Drs. 19/1760 Landtag 19. Wahlperiode 31.07.18 Antwort des Senats auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 12. Juni 2018 „Werden Opfer sexueller Gewalt vor Gerichtsverhandlungen abgeschoben?“ Die Fraktion DIE LINKE hat folgende Kleine Anfrage an den Senat gerichtet: „Die Verurteilungsquote bei Sexualdelikten nach §177 StGB ist bundesweit erschreckend gering. Um die Ursachen dieser Tatsache im Land Bremen zu ermitteln, bekam das Institut zur Polizeiund Sicherheitsforschung (IPOS) in 2014 den Auftrag, eine Fallstudie durchzuführen, in der alle angezeigten Fälle aus dem Jahr 2012 analysiert und ausgewertet werden sollten. Die Ergebnisse der Studie sind lehrreich und ausführlich. Es wurde festgestellt, dass nur für 13 von den 107 Beschuldigten das Verfahren mit einem Urteil (6 Freisprüche und 7 Verurteilungen) endete. Alle anderen Fälle wurden eingestellt. Eine Reihe von Maßnahmen und Empfehlungen konnten aus der Studie herausgearbeitet werden. Zurzeit wird geprüft, welche von jenen Maßnahmen und welche Fortschritte die Polizei, die Staatsanwaltschaft und alle anderen in dem Bereich der Sexualstraftaten beteiligten Akteuren ergriffen und erreicht haben. Durch Angaben des Justizressorts wurde klar, dass obwohl mehrere Empfehlungen aus der Studie umgesetzt und die Reichweite vom § 177 verbessert wurden, noch Vieles zu tun ist. Dass Strafverfahren eingestellt werden müssen, weil wichtige Zeug*innen und Opfern von Sexualstraftaten zum Zeitpunkt der Verhandlung bereits abgeschoben wurden, ist beispielsweise eine inakzeptable Gemengelage. Dem Justizressort nach soll dies auch in Fällen von Menschenhandeln der Fall sein. Wir fragen den Senat: 1. Wie viele Sexualstraftaten nach §177 wurden im Land Bremen seit 2012 von Personen ohne sicheren Aufenthaltsstatus angezeigt und wie viele Fälle kamen zur Verhandlung? (Bitte wenn möglich nach Geschlecht, Alter und Herkunftsland der Betroffenen und Tätern aufschlüsseln) 2. Wie viele Personen wurden im Land Bremen seit 2012 abgeschoben, die in Deutschland Opfer einer Sexualstraftat nach §177 geworden sind? (Bitte wenn möglich nach Geschlecht, Alter und Herkunftsland aufschlüsseln) 3. Wie viele Strafverfahren wegen Sexualstraftaten nach §177 mussten seit 2012 im Land Bremen eingestellt werden, weil Zeug*innen oder Opfer bereits vor der Verhandlung abgeschoben wurden ? (Bitte zwischen Zeug*innen und Opfern unterscheiden) 4. Wie viele Strafverfahren wegen Sexualstraftaten nach §177 endeten im Land Bremen seit 2012 in einem Freispruch, weil Zeug*innen oder Opfer bereits vor der Verhandlung abgeschoben wurden ? 5. In wie vielen Fällen kam es zu Verurteilungen, wie lautete das Urteil und wie fiel die Strafe aus? 6. In wie vielen Fällen handelte sich um Menschenhandel? Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft - 2 - 7. Nach § 25 Abs. 4 S. 1 AufenthG kann einer ausreisepflichtigen Person eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn „dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen Ihre vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern .“ Wie bewertet es der Senat, wenn Zeug*innen von Sexualdelikten vor Ende des Verfahrens abgeschoben werden? 8. Zieht der Senat in Erwägung, ausreisepflichtigen Personen, die in Deutschland sexuelle Gewalt nach §177 erfahren haben, als Härtefall zu sehen und eine Aufenthaltsgenehmigung über die Verfahrensdauer hinaus zu bewehren?“ Der Senat beantwortet die Kleine Anfrage wie folgt: Frage 1: Wie viele Sexualstraftaten nach § 177 wurden im Land Bremen seit 2012 von Personen ohne sicheren Aufenthaltsstatus angezeigt und wie viele Fälle kamen zur Verhandlung? (Bitte wenn möglich nach Geschlecht, Alter und Herkunftsland der Betroffenen und Tätern aufschlüsseln) In der polizeilichen Kriminalstatistik wird erst seit 2016 der Aufenthaltsstatus „Asylbewerber/ Flüchtling“ bei der Anzeigenerstattung erfasst. Eine Beantwortung der Frage ist daher für die Jahre 2012 bis 2015 nicht möglich. In der Zeit vom 01.01.2016 bis 30.06.2018 zeigten zehn Personen mit dem Aufenthaltsstatus „Asylbewerber/Flüchtling“ (sechs Frauen im Alter von 17 bis 31 Jahren und vier Männer im Alter von 15 bis 25 Jahren) zehn Taten an. Die Anzeigenden stammten aus den Herkunftsländern Syrien , Afghanistan, Iran, Nigeria und Serbien. Sämtliche Tatverdächtigen im Alter von 16 bis 62 Jahren waren männlich. Sie stammten aus denselben Herkunftsländern wie die Anzeigenden. Frage 2: Wie viele Personen wurden im Land Bremen seit 2012 abgeschoben, die in Deutschland Opfer einer Sexualstraftat nach § 177 geworden sind? (Bitte wenn möglich nach Geschlecht , Alter und Herkunftsland aufschlüsseln) Statistische Daten, die eine Beantwortung der Frage ermöglichen, liegen nicht vor. Frage 3: Wie viele Strafverfahren wegen Sexualstraftaten nach § 177 mussten seit 2012 im Land Bremen eingestellt werden, weil Zeug*innen oder Opfer bereits vor der Verhandlung abgeschoben wurden? (Bitte zwischen Zeug*innen und Opfern unterscheiden) Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft - 3 - Frage 4: Wie viele Strafverfahren wegen Sexualstraftaten nach § 177 endeten im Land Bremen seit 2012 in einem Freispruch, weil Zeug*innen oder Opfer bereits vor der Verhandlung abgeschoben wurden? Frage 5: In wie vielen Fällen kam es zu Verurteilungen, wie lautete das Urteil und wie fiel die Strafe aus? Frage 6: In wie vielen Fällen handelte sich um Menschenhandel? Die Fragen 3 bis 6 werden wegen des sachlichen Zusammenhangs gemeinsam beantwortet . Die zur Beantwortung dieser Fragen erforderlichen Daten sind nicht statistisch erfasst. Eine Beantwortung würde daher eine Einzelfallauswertung sämtlicher bei der Staatsanwaltschaft Bremen seit 2012 wegen des Vorwurfs nach § 177 StGB und wegen Menschenhandels (§ 232 StGB) geführten Verfahren erfordern. Dies ist mit einem vertretbaren personellen Verwaltungsaufwand innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu leisten. Bei der Staatsanwaltschaft Bremen ist kein Verfahren erinnerlich, in dem es aufgrund der Abschiebung einer betroffenen Zeugin oder eines betroffenen Zeugen einer Sexualstraftat zu einem Freispruch gekommen ist. Die bloße Abschiebung rechtfertigt zudem nicht das Absehen von der Vernehmung eines Zeugen in der Hauptverhandlung. Vielmehr kann davon nur dann abgesehen werden, wenn die Zeugin oder der Zeuge unerreichbar ist, was bei einem Aufenthalt im Ausland nicht grundsätzlich der Fall ist. Frage 7: Nach § 25 Abs. 4 S. 1 AufenthG kann einer ausreisepflichtigen Person eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn „dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen Ihre vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern.“ Wie bewertet es der Senat, wenn Zeug*innen von Sexualdelikten vor Ende des Verfahrens abgeschoben werden? Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft - 4 - Frage 8: Zieht der Senat in Erwägung, ausreisepflichtigen Personen, die in Deutschland sexuelle Gewalt nach § 177 erfahren haben, als Härtefall zu sehen und eine Aufenthaltsgenehmigung über die Verfahrensdauer hinaus zu bewehren? Die Fragen 7 und 8 werden wegen des sachlichen Zusammenhangs gemeinsam beantwortet . Unter den Voraussetzungen des § 25 Abs. 4 AufenthG kann einer nicht vollziehbar ausreisepflichtigen Person eine Aufenthaltserlaubnis für einen vorübergehenden Aufenthalt erteilt werden. Bei Vorliegen eines erheblichen öffentlichen Interesses kann nach der genannten Vorschrift eine Aufenthaltserlaubnis für den Zweck der Zeugenbefragung erteilt werden. Nach § 25 Abs. 4a Satz 1 und 2 AufenthG soll einer Person, die Opfer einer Straftat nach den §§ 232 bis 233a StGB wurde, auch wenn sie vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Die Aufenthaltserlaubnis darf nur erteilt werden, wenn − ihre Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen dieser Straftat von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne ihre Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre, − sie jede Verbindung zu den Personen abgebrochen hat, die beschuldigt werden, die Straftat begangen zu haben, und − sie ihre Bereitschaft erklärt hat, in dem Strafverfahren wegen der Straftat als Zeugin oder Zeuge auszusagen. Unter den genannten Voraussetzungen besteht daher die Gefahr der Abschiebung vor Abschluss des Strafverfahrens nicht, jedenfalls sofern der Staatsanwaltschaft bekannt ist, dass die Abschiebung droht. In geeigneten Fällen bescheinigt die Staatsanwaltschaft, dass die Zeugenaussage notwendig ist. Nach Beendigung des Strafverfahrens soll die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4a Satz 3 Aufenth G verlängert werden, wenn humanitäre oder persönliche Gründe oder öffentliche Interessen die weitere Anwesenheit der Person im Bundesgebiet erfordern. Die Bremer Ausländerbehörden berücksichtigen die Belastungen von Opfern sexueller Gewalt in besonderem Maße und schöpfen den rechtlichen Bewertungsmaßstab aus. Sofern aus sonstigen rechtlichen Gründen eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt werden kann, haben die Betroffenen die Möglichkeit, sich an die Härtefallkommission zu wenden, die unabhängig von den gesetzlichen Erteilungsvoraussetzungen ein Ersuchen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Senator für Inneres richten kann. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft