BREMISCHE BÜRGERSCHAFT Drs. 19/1873 Landtag 19. Wahlperiode 23.10.18 Antwort des Senats auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 15. August 2018 „Medikamentenversuche an Heimkindern in der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und in der stationären Psychiatrie“ Die Fraktion DIE LINKE hat folgende Kleine Anfrage an den Senat gerichtet: „Der missbräuchliche Einsatz von Medikamenten an Kindern und Jugendlichen, die zwischen den Jahren 1949 und 1975 in Einrichtungen der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und in Psychiatrien untergebracht waren, wird seit einiger Zeit endlich stärker thematisiert. Durch eine Studie der Pharmahistorikerin Sylvia Wagner1 im Jahr 2016 wurde bekannt, dass auch in den nahe gelegenen Rotenburger Werken über Jahre Medikamente an etwa 80 Kindern und Jugendlichen, ohne Einwilligung der Eltern oder gesetzlichen Vertreter*innen, getestet wurden. Verschiedene Landtage anderer Bundesländer, vor allem Nordrhein-Westfalen und Hessen, haben bereits eigene Schritte für eine umfangreiche Aufklärung dieses dunklen Kapitels der stationären Unterbringung von Minderjährigen ergriffen. Im März 2017 erschien eine Vorstudie des nordrheinwestfälischen Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter zum Medikamenteneinsatz. Im Hessischen Landtag fand ebenfalls im März 2017 eine Anhörung zum Thema statt. Auch die Rotenburger Werke haben aktuell eine Dokumentation der Medikamentenversuche an Kindern und Jugendlichen vorgestellt. Berichtet wurde auch über stereotaktische Hirnoperationen an „besonders renitenten“ Jugendlichen, bei denen Hirnbereiche operativ durch Wechselstrom zerstört wurden. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: 1. In welchen Einrichtungen der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und Psychiatrien im Land Bremen waren zwischen 1949 und 1975 Kinder- und Jugendliche stationär untergebracht? 2. Welche Erkenntnisse liegen dem Senat zu Medikamentenversuchen an Heimkindern der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und in den Psychiatrien im Land Bremen vor? 3. Welche Bemühung hat der Senat unternommen oder welche Bemühungen wird er unternehmen, um dieses Unrecht in der stationären Unterbringung von Minderjährigen aufzuklären? 4. Hat der Senat selbst schon bei Pharmaunternehmen und Heimbetreibern angefragt, ob zwischen 1949 und 1975 Medikamente an Heimkindern in Einrichtungen der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und Psychiatrien in Bremen getestet wurden? 1 Wagner, Sylvia: Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern. (siehe duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate- 42079/04_Wagner_Heime.pdf), 2016 Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 2 5. Steht der Senat mit den Rotenburger Werken in Kontakt, um festzustellen, ob auch Kinder und Jugendliche aus Bremen unter den von Medikamentenversuchen und stereotaktischen Hirnoperationen betroffenen Heimkindern waren? 6. In Bremen leben wahrscheinlich einige Tausend Menschen, die als Kinder und Jugendliche in psychiatrischen Heimen untergebracht waren. Sie haben Anrecht auf eine Entschädigung für erlittene Misshandlungen aus der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“. Viele dieser Menschen werden Behinderungen haben, die es ihnen erschweren oder verunmöglichen, selbst den dazu notwendigen Antrag an die entsprechende Stelle zu richten. Wie viele Anträge sind inzwischen eingegangen? 7. Wird der Senat seine Bemühungen intensivieren, auf die Stiftung Anerkennung und Hilfe aufmerksam zu machen, um vor Ablauf der Anmeldefrist noch möglichst viele der Betroffenen zu erreichen? Wir halten insbesondere eine Kontaktaufnahme mit allen Trägern sowie alle vom Betreuungsgericht bestellten Betreuer*innen, die behinderte Menschen im entsprechenden Alter betreuen, für hilfreich und geboten. 8. Sieht der Senat Möglichkeiten, sich auf Bundesebene für eine verlängerte Anmeldefrist für Betroffene für Entschädigungsleistungen aus dem Fonds der Stiftung Anerkennung und Hilfe über den 31. Dezember 2019 hinaus einzusetzen?“ Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 3 Der Senat beantwortet die Kleine Anfrage wie folgt: Vorbemerkung Wie der Mitteilung des Senats an die Bremische Bürgerschaft (Landtag) vom 24.10.2017 auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 05.09.2017 „Umsetzung der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ in Bremen“ zu entnehmen ist, wurden bremische Kinder und Jugendliche mit der einer Zuordnung „behindert“ oder „psychiatrisch erkrankt“, wie im Zeitraum 1949 bis 1975 üblich, in Einrichtungen außerhalb Bremens untergebracht und betreut. Personenbezogene Einzelakten und Daten der zuständigen Behörden und der im Einzelnen belegten Einrichtungen stehen nach mehr als 40 Jahren und Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfristen insgesamt - auch im Staatsarchiv - nicht mehr zur Verfügung. Vollständige Angaben zu den einzelnen bundesweiten Unterbringungsorten und belegten Einrichtungen sowie zu Anzahl, Dauer, Alter oder Geschlecht der Unterbringungsfälle stehen dem Senat daher nicht zur Verfügung. Auch eine Auswertung des erlittenen Unrechts nach einzelnen Kriterien wie Gewalt, sexuellem Missbrauch oder Medikamentenmissbrauch ist daher nicht möglich. „Bei einer Heranziehung der bundesweiten Schätzung im Rahmen der Errichtung der Stiftung (Anm. Anerkennung und Hilfe) könnte man für den Zeitraum 1949-1975 von 8.000 bremischen Kindern und Jugendlichen ausgehen ohne Nennung von Verweildauern und Orten.“(vgl. Drs. 19/1276, ebenda Antwort zu Frage 1). 1. In welchen Einrichtungen der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und Psychiatrien im Land Bremen waren zwischen 1949 und 1975 Kinder- und Jugendliche stationär untergebracht? Bereits im Rahmen des ersten errichteten „Fonds Heimerziehung“ ist eine Einzelaufstellung aller im fraglichen Zeitraum durch die Jugendämter Bremen und Bremerhaven sowie das Landesjugendamt Bremen belegten Kinder- und Jugendheime aufgrund des Zeitablaufes und nicht mehr vollständig rekonstruierbarem Aktenbestand nach mehr als 30 Jahren nicht mehr möglich gewesen. Sie steht dem Senat daher auch aktuell nicht zur Verfügung. Die von der damaligen Senatorin für Soziales, Kinder, Jugend und Frauen in Auftrag gegebene und unter Leitung des Landesjugendamtes vom eingesetzten Arbeitskreis zur Aufarbeitung der Heimerziehung im Land Bremen im Mai 2012 veröffentlichte Studie des Historikers Robert Fuchs „Und keiner hat sich gekümmert! Dokumentation zur Geschichte der Bremer Heimerziehung 1945 -1975“ gibt jedoch Aufschluss über die damaligen innerbremischen Heime der Jugendhilfe. Nach damaliger Auswertung der zum Teil noch privat vorhandenen Quellen (insbesondere der Sammlung Prof. Dr. Jürgen Blandow) ist im fraglichen Zeitraum zudem von mindestens 125 auswärtig belegten Einrichtungen auszugehen, davon 105 durch das Jugendamt Bremen sowie 20 im Rahmen der Fürsorgeerziehung durch das damalige Landesjugendamt (ebenda Seite 32). Entsprechende Erhebungen des Magistrates Bremerhaven für diesen Zeitraum liegen nicht vor. Die Gesamtdokumentation zur bremischen Heimerziehung kann bei der Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport unter dem nachfolgenden Link https://www.soziales.bremen.de/detail.php?template=20_search_d&search%5Bsend%5D=tr ue&search%5Bvt%5D=fuchs&lang=de&skip=10 abgerufen werden. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 4 Nach aktuellem Forschungsstand ist davon auszugehen, dass in der Bundesrepublik Deutschland im fraglichen Zeitraum insgesamt rd. 116.000 junge Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie untergebracht waren, davon 66.500 in stationären Einrichtungen der Psychiatrie und 49.600 in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe (siehe Jungmann, Joachim (2016): Ermittlung der Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die in den Jahren 1949-1919 75 in der Bundesrepublik Deutschland sowie in den Jahren 1949 bis 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben.“ Machbarkeitsstudie.Bonn, Kurzbeschreibung, 28.11.2017.) Nach dem vorliegenden Forschungsexposé für eine geplante Bremer Studie gab es in Bremen direkt nach Kriegsende sowie noch bis 1966 jedoch keine einzige Einrichtung, in der Kinder und Jugendliche mit geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen leben konnten: „Das 1898 eröffnete Haus Reddersen, Bremens erste Pflege- und Erziehungsanstalt für Kinder und Jugendliche mit geistigen und körperlichen Behinderungen, war zu Beginn des zweiten Weltkrieges von der nationalsozialistischen Regierung geschlossen worden. Das Vermögen des ehemaligen Vereins „Haus Reddersen“ ging 1966 auf den Verein Friedehorst, Vereinigte Anstalten der Innern Mission, über.“ Gemäß Angaben des Magistrates Bremerhaven wurden im Rahmen der Sozialhilfe zwischen 1949 und 1975 keine Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen der dortigen Behindertenhilfe untergebracht. Nach einem noch im Staatsarchiv aufgefundenen Dokument der damaligen Behindertenfürsorge des Hauptgesundheitsamtes, waren am Stichtag 07. September 1967 Insgesamt 181 Kinder und Jugendliche aus Bremen und Bremerhaven in 29 auswärtigen Heimen untergebracht, davon 23 aus Bremerhaven und 158 aus Bremen. Die meisten der insgesamt 117 männlichen Minderjährigen (davon 102 aus Bremen und 15 aus Bremerhaven) sowie 64 weiblichen Kinder und Jugendlichen (davon 56 aus Bremen und 8 aus Bremerhaven) lebten in den Rotenburger Anstalten (55), im Evangelischen Hospital Lilienthal (43) und im Waldheim Cluvenhagen (16). . Nach der Antwort des Senats vom 24.10.2017 zur Großen Anfrage DIE LINKE vom 05.09.2017 konnten für die stationäre psychiatrische Versorgung folgende Daten herangezogen werden: „Im Dezember 1949 wurde eine neue tiefenpsychologisch orientierte Bremer Kinderbeobachtungsstation eröffnet. Die Station war für eine Belegung mit 15 Kindern ausgelegt. In den ersten 4 Jahren wurden 340 PatientInnen aufgenommen. Unter Berücksichtigung der sich im Laufe der Jahre verkürzenden Verweildauer und der Kapazitätsausweitung auf 18 Plätze wurden in den Jahren 1950- 1975 hier geschätzt 3.000 Kinder und Jugendliche behandelt.“ In 1962 wurde zusätzlich eine psychiatrische Kinderabteilung mit 15 Betten eröffnet, die bereits 1963 auf 25 Betten aufgestockt wurde. Jugendliche wurden damals auf der Erwachsenenstation untergebracht. Eine eigene Station wurde erst 1977 errichtet. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 5 Mit zunächst 30 Betten wurde 1969 in der Klinik Kloster Blankenburg eine „Jugendpsychiatrische Station für sog. „Verwahrfälle und Imbezille“ eingerichtet, die im Laufe der Jahre auf eine Kapazität von 35 Betten ausgeweitet wurde (vgl. Drs. 19/1276, ebenda Antwort zu Frage 1). 2. Welche Erkenntnisse liegen dem Senat zu Medikamentenversuchen an Heimkindern der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und in den Psychiatrien im Land Bremen vor? Eigene Untersuchungen oder Erkenntnisse über Medikamentenversuche an Heimkindern der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und in den Psychiatrien im Land Bremen liegen dem Senat bisher nicht vor. Der Senat stützt den Verdacht auf möglichen Medikamentenmissbrauch an behinderten Kindern und Jugendlichen - ggf. auch aus dem Land Bremen - daher auf wissenschaftliche Studien im Auftrag des Bundes bzw. anderer Länder sowie eigene Forschungen außerbremischer Hochschulen. Zu nennen sind hier z. B. frühe Studien von Schrapper & Sengling (1988), von Schmuhl & Winkler (2011), das Gutachten Dr. Friederike Wapler (2013), die sog. Bonner Machbarkeitsstudie von Joachim Jungmann (2016) in dem Kooperationsprojekt der Universitäten Düsseldorf, Heidelberg, Bochum, Berlin und dem Deutschen Institut für Heimerziehungsforschung. Einschlägig relevant für das Land Bremen ist auch die Untersuchung von Gerda Engelbracht aus dem Jahr 1995 zum Haus Reddersen sowie die Veröffentlichung von Frau Engelbracht aus 2014 zu „Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus“ sowie weitere Untersuchungen von Wilke, Schmuhl, Winkler und Wagner (2018). Wie der Antwort der Bundesregierung vom 20.04.2018 (Drs. 19/1772) auf die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE „Aufklärung der Medikamentenversuche an Heimkindern und mögliche Entschädigungszahlungen an Betroffene“ (Drs. 19/1520) zu entnehmen ist, ergeben sich Hinweise insbesondere auch durch die 2016 von der Pharmazeutin Sylvia Wagner veröffentlichte Studie „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern“. Als frühe Hinweisquelle zu benennen ist ferner auch der bereits 2010 veröffentlichte Abschlussbericht des Runden Tisch Heimerziehung (RTH), Berlin 2010, ebenda Seite 19 folgende. Teil der damaligen länderübergreifenden Aufklärungsarbeit war u. a. auch der Einsatz von Medikamenten bzw. die Durchführung von Medikamentenversuchen. Trotz intensiver Bemühungen konnten hierzu seinerzeit jedoch nur sehr begrenzte Erkenntnisse gewonnen werden. Im Rahmen des Fonds Heimerziehung haben mit Stand 31.08.2017 245 Personen einen Antrag in der bremischen Anlauf- und Beratungsstelle beim Amt für Versorgung und Integration (AVIB) gestellt. Aus den dort beratenen Fällen haben sich auf Landesebene in keinem Fall Anhaltspunkte bzw. konkrete Hinweise auf möglichen Medikamentenmissbrauch oder medizinische Versuche ergeben. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 6 3. Welche Bemühung hat der Senat unternommen oder welche Bemühungen wird er unternehmen, um dieses Unrecht in der stationären Unterbringung von Minderjährigen aufzuklären? Die Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz sowie die Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport planen, den Auftrag einer wissenschaftlichen Untersuchung „Forschung zur Situation der stationären Einrichtungen und der Psychiatrie für Bremer Kinder und Jugendliche von 1949 bis 1975“ an Frau Gerda Engelbracht zu vergeben. Frau Engelbracht hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Geschichte der Bremer Psychiatrie und der Behindertenhilfe – auch in der NS- Zeit befasst und mehrere Bücher zu dem Themenkreis veröffentlicht. Da Forschungsmittel des Bundes oder andere Drittmittel hierfür nicht zur Verfügung stehen, können Mittel in Höhe von einmalig insgesamt 15.000 Euro zur Durchführung einer solchen Studie jeweils anteilig nur im Laufe des Haushaltsvollzuges der beiden Senatsressorts dargestellt werden. Die Auftragnehmerin soll vertraglich verpflichtet werden, in diesem Rahmen auch gezielte Recherchen und Auswertungen zur Frage möglichen Medikamentenmissbrauches vorzunehmen. Das Ergebnis der Studie soll zum Ende des 2. Quartals 2019 vorliegen. Der Senat verweist zudem auf eine über das BMAS in Auftrag gegebene wissenschaftliche Untersuchung zur Aufarbeitung der Geschehnisse in Behinderteneinrichtungen und der Psychiatrie. Im Rahmen dieser Untersuchung werden bundesweit insgesamt mindestens 16 Einrichtungen, davon jeweils vier Einrichtungen der Psychiatrie sowie der Behindertenhilfe in der ehemaligen DDR und in der BRD untersucht werden. Nach Angaben des BMAS wurde die wissenschaftliche Aufarbeitung im Oktober 2017 aufgenommen und soll innerhalb von 3 Jahren abgeschlossen werden. An der inhaltlichen Vorbereitung der öffentlichen Ausschreibung hat eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Errichter der Stiftung Anerkennung und Hilfe und Betroffenenvertretern mitgewirkt, Eine Veröffentlichung der Zwischenergebnisse soll zum Ende des ersten Quartals 2019 vorliegen. 4. Hat der Senat selbst schon bei Pharmaunternehmen und Heimbetreibern angefragt, ob zwischen 1949 und 1975 Medikamente an Heimkindern in Einrichtungen der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und Psychiatrien in Bremen getestet wurden? Im Rahmen der Aufarbeitung der Heimerziehung lagen durch die Betroffenen selbst, die befragten Träger und vorhandene Dokumente keine Hinweise auf Medikamentenmissbrauch vor. Eine Aufarbeitung des Unrechts und Leids in Behinderteneinrichtungen und der Psychiatrie war seinerzeit auf Bund- Länder Ebene noch nicht konsensfähig und ist damals auch in Bremen nicht erfolgt. Dem entsprechend ist bisher auch noch keine gezielte Recherche zu dieser Frage bei Pharmaunternehmen durchgeführt worden. Der Senat erachtet ggf. eine gemeinsame Initiative des Bundes und der Länder zu dieser Frage zudem für sinnvoller. Die Senatorinnen für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport sowie Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz haben diese Frage daher an Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 7 die nationale Lenkungsgruppe der Stiftung Anerkennung und Hilfe herangetragen und um Verfügbarmachung vorhandener oder geplanter länderbezogener Untersuchungen gebeten. Entsprechend der o.g. Antwort der Bundesregierung vom 20.04.2018 (Bundestagsdrucksache 19/1772) zur Kleinen Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE ist seitens der Bundesregierung auch aktuell keine Initiative in Richtung Pharmaindustrie geplant. Für eine gemeinsame Initiative der Stiftungsmitglieder wurde unter Verweis auf die unter Frage 3 genannte laufende wissenschaftliche Untersuchung gegenwärtig keine Basis gefunden. Der Senat schließt sich diesem Beratungsergebnis an. Weitergehende Kenntnisse zu länderspezifischen Forschungsvorhaben in Richtung der verschiedenen Einrichtungsbetreiber liegen dem Senat nicht vor. Zur Frage der weiteren Forschungs- und Aufarbeitungsbemühungen des Senats in Richtung Einrichtungsbetreiber siehe Antwort zu Frage 3. 5. Steht der Senat mit den Rotenburger Werken in Kontakt, um festzustellen, ob auch Kinder und Jugendliche aus Bremen unter den von Medikamentenversuchen und stereotaktischen Hirnoperationen betroffenen Heimkindern waren? Siehe Antwort zu Frage 3. Eine Kontaktaufnahme mit den Rotenburger Werken ist vorgesehen, aber noch nicht erfolgt. Der Senat geht von einer Aufarbeitung im Rahmen des vorgesehenen Forschungsauftrages aus. 6. In Bremen leben wahrscheinlich einige Tausend Menschen, die als Kinder und Jugendliche in psychiatrischen Heimen untergebracht waren. Sie haben Anrecht auf eine Entschädigung für erlittene Misshandlungen aus der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“. Viele dieser Menschen werden Behinderungen haben, die es ihnen erschweren oder verunmöglichen, selbst den dazu notwendigen Antrag an die entsprechende Stelle zu richten. Wie viele Anträge sind inzwischen eingegangen? Zur geschätzten Fallzahl möglicher Betroffener siehe Antwort des Senats vom 24.10.2017 zur Großen Anfrage DIE LINKE vom 05.09. 2017 und nachstehende Antworten zu Fragen 7. und 8. Im Zeitraum bis 31.08.2018 sind auf Landesebene beim AVIB insgesamt 47 Anmeldungen erfolgt, davon 44 Anmeldungen in der Stadtgemeinde Bremen, 3 in der Stadtgemeinde Bremerhaven. Von den Anmeldungen in der Stadtgemeinde Bremen betrafen 7 weibliche und 37 männliche Betroffene, in der Stadtgemeinde Bremerhaven waren alle 3 Antragstellenden männlich. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 8 7. Wird der Senat seine Bemühungen intensivieren, auf die Stiftung Anerkennung und Hilfe aufmerksam zu machen, um vor Ablauf der Anmeldefrist noch möglichst viele der Betroffenen zu erreichen? Wir halten insbesondere eine Kontaktaufnahme mit allen Trägern sowie alle vom Betreuungsgericht bestellten Betreuer*innen, die behinderte Menschen im entsprechenden Alter betreuen, für hilfreich und geboten. Nach einem Bericht der nationalen Lenkungsgruppe der Stiftung Anerkennung und Hilfe für deren Sitzung am 12. September 2018 haben sich von den seinerzeit geschätzten 97.100 Betroffenen bis zum Ende der ersten Hälfte des Anmeldezeitraumes am 30. Juni 2018 insgesamt 7.405 Betroffene bzw. deren Vertretungen an die Anlauf- und Beratungsstellen der Stiftung gewandt. Darin einbezogen sind auch die Meldungen vor der förmlichen Errichtung der Stiftung zum 01.Januar 2017. Die tatsächliche Zahl der bundesweiten Anmeldungen liegt damit deutlich unter den seinerzeit angenommenen 25 % aller geschätzten Leistungsberechtigten. Als Gründe für die niedrige Anmeldezahl werden vermutet, dass die betroffene Personengruppe der Menschen mit Behinderungen zum einen noch schwerer erreichbar ist als andere Opfergruppen und zum anderen auch persönlich mehr Zeit für eine Offenbarung des erlittenen Leids und Unrechts benötigt. Auch eine Antragstellung über eingesetzte gesetzliche Betreuerinnen und Betreuer führt vermutlich zu verlängerten Zeitspannen bis zur Antragsstellung. Daher wurde an die eingesetzte Lenkungsgruppe von verschiedener Seite, u.a. auch vom überregionalen Fachbeirat der Stiftung sowie von den Anlauf- und Beratungsstellen, die Forderung nach Verlängerung des Anmeldezeitraumes von drei auf vier Jahre (bis zum 31. Dezember 2020) herangetragen. Im Nachgang zu der breiten Informationsveranstaltung am 20.06.2017 in der Bremischen Bürgerschaft sowie gezielten Medieninformationen und dem dezentralen Aushang von Informationsplakaten beabsichtigen die beteiligten Senatsressorts Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport sowie Gesundheit, Wissenschaft und Verbraucherschutz und Wirtschaft, Arbeit und Häfen in Abstimmung mit dem Magistrat Bremerhaven die gezielte nochmalige Aufnahme einer Informationsreihe. Dies schließt auch die Information von gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuern sowie von Einrichtungsträgern und anderen MultiplikatorenInnen ein. 8. Sieht der Senat Möglichkeiten, sich auf Bundesebene für eine verlängerte Anmeldefrist für Betroffene für Entschädigungsleistungen aus dem Fonds der Stiftung Anerkennung und Hilfe über den 31. Dezember 2019 hinaus einzusetzen? Auf Initiative des Landes Nordrhein-Westfalen hat sich der Lenkungsausschuss der Stiftung Anerkennung und Hilfe am 12. September mit einem Mehrländerantrag zur Verlängerung der Anmeldefrist um ein weiteres Jahr (2020) befasst. Das Land Bremen hat diesen Antrag über die für Fragen der Stiftung federführende Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport im Einvernehmen mit der Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Verbraucherschutz als mitantragstellendes Land aktiv unterstützt. Dem Antrag wurde in der Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft 9 Sitzung einvernehmlich gefolgt. Eine förmliche Beschlussfassung hierzu ist in der ASMK am 05./06.12.2018 vorgesehen. Vorlä ufige, unredigierte Fassung – Parlamentsdokumentation der Bremischen Bü rgerschaft