– 1 – B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Drucksache 19 / 1982 Landtag 19. Wahlperiode Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis90/Die Grünen vom 13. November 2018 25 Jahre Bremer Modell – das Gesundheitsprogramm des Bremer Gesundheitsamts für Geflüchtete und Asylsuchende Mit den Kriegen und Konflikten Anfang der Neunzigerjahre einher ging eine Zuwanderung von Menschen, die sich nach Deutschland in Sicherheit und Schutz flüchteten – aus dem Balkan, Äthiopien, Eritrea, Mali, Burkina Faso, dem Kongo, Senegal, Simbabwe oder auch aus der ehemaligen Sowjetunion. Im Jahr 1993 wurde beim Gesundheitsamt Bremen ein Gesundheitsprogramm ins Leben gerufen, das später als „Bremer Modell“ Vorbild für viele Städte wurde. Ziel war es neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Infektionsschutz auch eine ganzheitliche Erfassung des Gesundheitszustands und eine Versorgung der Geflüchteten zu etablieren. Daher wurde der Zugang zum Gesundheitssystem nach der vorgeschriebenen Erstuntersuchung erleichtert und die Wohn- und Lebensbedingungen in den Unterkünften wurden unter Gesundheitsgesichtspunkten verbessert. Insbesondere die Einführung der Bremer Gesundheitskarte im Jahr 2005 gilt bundesweit als Erfolgsmodell. Das Gesundheitsprogramm richtet sich sowohl an neu ankommende Geflüchtete als auch an solche, die aufgrund nicht abgeschlossener Asylverfahren oder nicht durchführbarer Abschiebungen geduldet werden und die längere Zeit in Erstaufnahmeeinrichtungen leben. Bis heute hat das Gesundheitsprogramm mehr als 33 000 Geflüchtete erreicht und mehr als 100 000 Untersuchungen durchgeführt. Bis zu 90 Prozent der Geflüchteten in den Wohnheimen werden erreicht. Zudem lieferten 25 Jahre Arbeit nach dem Bremer Modell dem Gesundheitsamt eine umfassende Datengrundlage zum Auftreten und zur Verbreitung von Erkrankungen und zur Gesundheitssituation sowohl von neu ankommenden Geflüchteten als auch von Menschen, die aufgrund nicht abgeschlossener Asylverfahren oder nicht durchführbarer Abschiebungen in Bremen geduldet werden . Wir fragen den Senat: 1. Aus welchen Gründen wurde 1993 das Bremer Gesundheitsmodell für Geflüchtete eingeführt? Welche Erkenntnisse und welche Zielsetzungen lagen der Einführung zugrunde? 2. Wie wurde das Angebot gesundheitlicher Untersuchung und Beratung nach Einführung des Bremer Modells von nach Bremen Geflüchteten angenommen und welche Entwicklung hat dies, vor allem in den Jahren 2015 bis heute, genommen? a) Welche Erkenntnisse hat der Senat darüber, wen das Bremer Modell erreicht und wen nicht? b) Was mögen nach Einschätzung des Senats jeweils die Gründe sein? 3. Welche Kenntnisse hat der Senat über Infektionskrankheiten, denen sich nach Bremen Geflüchtete in den letzten 25 Jahren ausgesetzt sahen und – 2 – sehen, die in den jeweiligen Herkunftsländern nicht oder nur in geringem Maß auftraten? a) In welcher Weise wurden und werden die nach Bremen Gekommenen vor solchen Infektionskrankheiten geschützt (zum Beispiel Impfungen )? b) Welche Kenntnisse hat der Senat über bestimmte Bevölkerungsgruppen , die diese Maßnahmen nicht annahmen beziehungsweise annehmen ? 4. Welche Erkenntnisse hat der Senat darüber, in welcher Anzahl Geflüchtete und Asylsuchende andere Krankheitsbilder (außer Infektionskrankheiten ) aufweisen? Inwieweit haben sich die Krankheiten in den letzten 25 Jahren verändert? Mit welchen gesundheitlichen Belastungen haben Geflüchtete und Asylsuchende insbesondere seit 2015 bis heute zu tun? 5. Welche personelle, räumliche und technische Infrastruktur steht aktuell für die Behandlung von Geflüchteten und Asylsuchenden zur Verfügung? Inwiefern kann der Senat die Entwicklung von 1993 bis heute vergleichen? 6. Welche Erkenntnisse hat der Senat darüber, wie die Vermittlung von Geflüchteten zu niedergelassenen Ärzten stattfindet beziehungsweise welche Hürden gegebenenfalls bestehen? 7. In welcher Weise wurden und werden sprachliche Hürden beim Angebot gesundheitlicher Untersuchung und Beratung überwunden? Welche technischen Möglichkeiten stehen in welchem Umfang dafür zur Verfügung? 8. Wie bewertet der Senat die Einführung der Bremer Gesundheitskarte? Welche Vor- und Nachteile haben sich aus der Nutzung der Karte gezeigt? Welche Chancen bestehen aus Sicht des Senats, eine Gesundheitskarte auch über Bremens Grenzen hinaus einzuführen? 9. Welche Handlungsempfehlungen leitet der Senat aufgrund der Erfahrungen mit dem Bremer Modell und der heute vorhandenen Datengrundlage für die gesundheitliche Versorgung des betroffenen Personenkreises ab? Nima Pirooznia, Kabire Yildiz, Sahhanim Görgü-Philipp, Dr. Maike Schaefer und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen D a z u Antwort des Senats vom 18. Dezember 2018 Vorbemerkung Das Bremer Modell wurde vor 25 Jahren implementiert und entwickelte sich seinerzeit und bis heute zu einem bundesweiten Vorbild. Es verfolgt einen differenzierten und ganzheitlichen Ansatz für Menschen mit Migrationshintergrund in Würdigung der besonderen Herausforderung im akutmedizinischen Bereich. Es schließt dabei nicht nur Geflüchtete ein, sondern wurde zwischenzeitlich ein Teil des Gesamtangebotes in der medizinischen Versorgung. Menschen ohne Aufenthaltsstatus und zum Teil Bürgerinnen und Bürger aus EU- Staaten ohne Krankenversicherung profitierten ebenfalls von diesem Angebot. Die bundesweite erhebliche Zunahme an Geflüchteten hat sich in 2015 und 2016 auch in Bremen bemerkbar gemacht. Die bereits vorliegenden Erfahrungen des Bremer Modells, wie etwa die bereits etablierte Gesundheitskarte, haben sich bei der Bewältigung der krisenhaften Herausforderungen bewährt. Die dort hinterlegten Versorgungsstrukturen wurden als Teil der ressortübergreifenden umfassenden Strategie eingesetzt. Das Bremer Modell stellt allerdings kein vollständiges Spiegelbild der im Zuge der Flüchtlingskrise notwendigen und auch gesetzlich vorgegebenen und erheblich umfassenderen staatlichen Verpflichtungen dar. Daher ist auch kein Abgleich der „realen“ Flüchtlingszahlen mit den Daten aus dem Bremer Modell möglich, da die dort eta- – 3 – blierten Maßnahmen zwar einen wichtigen, aber nicht allseits umfassenden Beitrag zum Wohle der Geflüchteten beigetragen haben. 1. Aus welchen Gründen wurde 1993 das Bremer Gesundheitsmodell für Geflüchtete eingeführt? Welche Erkenntnisse und welche Zielsetzungen lagen der Einführung zugrunde? Mit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 wurden die Behandlungsmöglichkeiten für Asylsuchende und anderer Einwanderer in Gemeinschaftsunterkünften auf akute Erkrankungen oder Schmerzen begrenzt . Da sich die Zahl der nach Bremen kommenden Geflüchteten von 1988 bis 1992 vervielfacht hatte, konnte die Unterbringung der Flüchtlinge nur in Sammelunterkünften realisiert werden: in schwach frequentierten Hotels, Pensionen, Häusern und Wohnungen, ehemaligen Kasernen, öffentlichen Gebäuden, Turnhallen, ausgemusterten Schiffen, Zelten, Containern und Weltkriegsbunkern. Alle Notunterkünfte wiesen bauliche und organisatorische Problemlagen auf. Kochmöglichkeiten und Gemeinschaftsräume fehlten in der Regel ebenso wie Gesundheits- oder Freizeitangebote . Das damalige Hauptgesundheitsamt (HGA) gab eine Studie (Mohammadzadeh , 1993) in Auftrag, um unter diesen Umständen belastbare Erkenntnisse über die gesundheitliche Lage der Flüchtlinge zu gewinnen. In den Vorannahmen über die Gesundheit der Geflüchteten dominierte die Angst, vor allem in der öffentlichen Meinung, vor einer befürchteten Einschleppung von Seuchen. Die Studie legte dagegen nahe, dass die Flüchtlinge bei der Ankunft eher selten an ansteckungsfähigen Erkrankungen litten. Häufiger jedoch sei ihre Gesundheit durch die Folgen von Krieg, Folter oder individueller Gewalterfahrung belastet. Die beschriebenen Wohnverhältnisse mit zahlreichen, nicht zuletzt hygienischen Mängeln und eine ungewohnte Ernährung konnten zudem gesundheitlich abträglich sein. Ursachen für Morbidität einschließlich infektiöser Erkrankungen lagen eher hierzulande. Die Umstände behinderten die schnelle Gesundung der fast immer aus belastenden Situationen in den Herkunftsländern kommenden Menschen. Sie bedingten und verstärkten neue, zusätzliche Krankheitsursachen. Aus der Studie kristallisierten sich als wichtigste Erkenntnisse heraus: — Der konservative Ansatz mit der Beschränkung auf den Ausschluss ansteckungsfähiger Krankheiten lässt sich objektiv nicht begründen. — Die Flüchtlinge bringen gesundheitliche Belastungen wie etwa die Folgen defizitärer Gesundheitsversorgung im Herkunftsland, körperliche und seelische Traumata mit. — Der aufnehmenden Gesellschaft entstehen durch diese Gesundheitsprobleme keine bedrohlichen Risiken, während es den Flüchtlingen unter den hier vorgefundenen pathogenen Lebensbedingungen kaum möglich ist, ihre Gesundheitsbelastungen aus eigener Kraft zu überwinden . — Der Zugang zu medizinischer Hilfe wird neben rechtlichen Beschränkungen durch mangelnde Information, Kommunikationsbarrieren und interkulturelle Hindernisse erschwert. — Ein umfassendes Gesundheitsangebot von Anfang an, das ärztliche Untersuchung, Akutversorgung, Beratung und Zugangshilfen zu weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen umfasst, ist für eine Verbesserung des Gesundheitsstatus der Flüchtlinge unabdingbar . Das Gesundheitsamt erarbeitete in der Folge einen konsensfähigen Unterbringungsstandard , der gesundheitlich relevante Fragen wie Mindestwohnfläche , Hygiene, Gemeinschaftsräume, kultursensible Ernährung – 4 – (wenn möglich mit individueller Kochgelegenheit), psychosoziale Betreuung und Spielmöglichkeiten, insbesondere für Kinder, einbezog. Ebenso wurden Überlegungen angestellt, wie die vorgeschriebene Erstuntersuchung genutzt werden konnte, um ein weitergehendes Versorgungsangebot zu machen. Das daraus entwickelte „Bremer Modell“ im Gesundheitsamt Bremen (GAB) mit von Beginn an finanzieller Unterstützung durch das Sozialressort zielt darauf ab, für die Menschen in Gemeinschaftsunterkünften anstelle alleiniger Seuchenhygiene ein Gesundheitsangebot bereitzustellen, den gesetzlichen Vorschriften zum medizinischen Umgang mit dieser Migrantengruppe zu genügen, zugleich aber eine breite empirische epidemiologische Grundlage zur gesundheitlichen Lage dieser Bevölkerungsgruppe zu schaffen, um die Auswirkungen der gesundheitsrelevanten Lebens - und Unterkunftsbedingungen unmittelbar zu kennen und in Kooperation mit den Trägern der Gemeinschaftsunterkünfte günstig zu beeinflussen . 2. Wie wurde das Angebot gesundheitlicher Untersuchung und Beratung nach Einführung des Bremer Modells von nach Bremen Geflüchteten angenommen und welche Entwicklung hat dies, vor allem in den Jahren 2015 bis heute, genommen? Das Gesundheitsangebot des Bremer Modells erreichte von Anfang an eine hohe Akzeptanz, die im Laufe der Entwicklung des Untersuchungsprogramms noch gesteigert werden konnte. 1993 bis 2017: 30 000 Flüchtlinge (gesamter Zeitraum 25 Jahre) 2008 bis 2017: 16 000 Flüchtlinge (Zeitraum 10 Jahre) 2013 bis 2017: 5 100 Flüchtlinge (Zeitraum 5 Jahre) Männer und Jungen waren häufiger betroffen als Frauen und Mädchen. In 50 Prozent der Fälle betrug das Alter zwischen 15 und 35 Jahre. Eine weitere große Gruppe waren Säuglinge und Kleinkinder bis 5 Jahre. a) Welche Erkenntnisse hat der Senat darüber, wen das Bremer Modell erreicht und wen nicht? Das Bremer Modell basiert auf bundesgesetzlichen Vorgaben (Asylverfahrensgesetz und Infektionsschutzgesetz) für die Zielgruppe der asylsuchenden Flüchtlinge, die in den Zentralen Aufnahmestellen untergebracht werden. Entsprechend wird bei Neuankömmlingen die vorgeschriebene Erstuntersuchung durchgeführt. Dabei wird der Gesundheitszustand der Untersuchten ganzheitlich erfasst. Bei diagnostizierten Gesundheitsproblemen wird ein vorläufiger Befund erstellt, aufgrund dessen entweder eine Sofortbehandlung einschließlich Ausgabe von Medikamenten oder bei weiterem diagnostischem Bedarf die Weitervermittlung an fachärztliche Einrichtungen erfolgt. Erweitert wird das Gesundheitsmodell auch durch Akutsprechstunden durch Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) – siehe die Antwort zu Frage 2 b). Das Bremer Modell erreicht seine Zielgruppe regelmäßig. Die Motivation zur Wahrnehmung des Sprechstundenangebots ist in der Regel hoch. b) Was mögen nach Einschätzung des Senats jeweils die Gründe sein? Folgende Gründe könnten aus der Sicht der Betroffenen gegen eine Wahrnehmung des Sprechstundenangebots sprechen: — Kommunikationsprobleme mit der Folge ungenügender Informationen , – 5 – — die (unbegründete) Sorge mancher Flüchtlinge, die Ergebnisse der Untersuchungen könnten Einfluss auf das Asylverfahren beziehungsweise die Aufenthaltserlaubnis haben, — weiterhin werden einige Probleme nicht gleich nach der Ankunft zur Sprache gebracht. Viele Flüchtlinge neigen aufgrund ihrer Herkunftskultur dazu, Gesundheitsstörungen herunterzuspielen, zu verschweigen oder psychische Probleme zu körperlichen zu machen („somatisieren“). 3. Welche Kenntnis hat der Senat über Infektionskrankheiten, denen sich nach Bremen Geflüchtete in den letzten 25 Jahren ausgesetzt sahen und sehen, die in den jeweiligen Herkunftsländern nicht oder nur in geringem Maß auftraten? Über Infektionskrankheiten, die in den jeweiligen Herkunftsländern nicht oder nur in geringem Maß auftraten, liegen keine Erkenntnisse vor. Die häufigsten Infektionen in Anlehnung an international übliche Klassifikationen sind unspezifische Virusinfektionen, Krätze, Erkrankungen des Magen- Darmtraktes, Tuberkulose (überwiegend) der Atmungsorgane, Hepatitis, HIV und andere sexuell übertragbare Erkrankungen sowie bei Kindern und Jugendlichen Masern und Windpocken. Diese Infektionskrankheiten treten in vergleichbarem Maße auch in den Herkunftsländern auf. In seltenen Fällen wurden Verdachtsbefunde auf eher herkunftslandspezifische Infektionskrankheiten festgestellt, zum Beispiel Malaria. a) In welcher Weise wurden und werden die nach Bremen Gekommenen vor solchen Infektionskrankheiten geschützt (zum Beispiel Impfungen )? Das Bremer Modell bietet Impfungen nach den Vorgaben der Ständigen Impfkonferenz (STIKO) gleich bei der Ankunft an. Es handelt sich um ein niedrigschwelliges Angebot vor Ort in der Unterkunft, in der die neu Ankommenden wohnen. Bis 2014 erfolgten Impfungen im niedergelassenen Bereich. Infolge der Entwicklung 2015 mit einer erheblichen Zunahme von Geflüchteten führte das Gesundheitsamt mehrere Impfaktionen durch. Seit Mai 2016 sind Impfungen nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) ein integraler Bestandteil der Erstuntersuchung. Ein Vergleich mit den angegebenen Herkunftsländern erweist sich als wenig aussagekräftig, zumal die in Deutschland Einreisenden in der Regel oftmals längere Zeit nicht im Herkunftsland gelebt haben. b) Welche Kenntnisse hat der Senat über bestimmte Bevölkerungsgruppen , die diese Maßnahmen nicht annahmen beziehungsweise annehmen ? Im Bremer Gesundheitsamt liegen keine Erkenntnisse über bestimmte Bevölkerungsgruppen vor, die diese Maßnahmen nicht annahmen beziehungsweise annehmen. 4. Welche Erkenntnisse hat der Senat darüber, in welcher Anzahl Geflüchtete und Asylsuchende andere Krankheitsbilder (außer Infektionskrankheiten ) aufweisen? Inwieweit haben sich die Krankheiten in den letzten 25 Jahren verändert? Mit welchen gesundheitlichen Belastungen haben Geflüchtete und Asylsuchende insbesondere seit 2015 bis heute zu tun? Entgegen von Befürchtungen bestätigen die dokumentierten Untersuchungen , dass der Gesundheitszustand der Geflüchteten und Asylsuchenden dem einer altersvergleichbaren Gruppe in der deutschen Bevölkerung entspricht, bundesweit bestätigt durch Angaben des Robert Koch Instituts. Dies gilt auch für die Zeit der hohen Zugangszahlen (zweite Jahreshälfte 2015 und die erste Jahreshälfte 2016). – 6 – Die häufigsten Diagnosen waren in diesem Zeitraum: Infekte der oberen Atemwege, Zahnkaries sowie unspezifische Schmerzzustände ohne erkennbare organische Ursache. Zumindest ein Teil der beobachteten Symptome sind als körperliche Reaktion auf seelische Belastungen und Stress während der Flucht, in der Phase der Einreise und auf die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen sowie auf die ungewisse Zukunftsperspektive zu sehen. 2016 ist der Anteil der 16- bis 20- Jährigen von 35 Prozent auf 12 Prozent gesunken. Dafür ist der Anteil an Kindern (bis 15 Jahre) mit 37 Prozent aller Geflüchteten deutlich angestiegen, darunter rund die Hälfte unter 5 Jahren. Parasitäre Erkrankungen wie Kopflausbefall und Krätze, die in erster Linie auf die Flucht- und Unterbringungsumstände zurückzuführen sind, haben zugenommen. Im Übrigen hat sich das Krankheitsspektrum seit 2015 nicht signifikant verändert. 5. Welche personelle, räumliche und technische Infrastruktur steht aktuell für die Behandlung von Geflüchteten und Asylsuchenden zur Verfügung? Inwiefern kann der Senat die Entwicklung von 1993 bis heute vergleichen? Zu Beginn des Gesundheitsprogramms 1993 wurde das Sprechstundenangebot bei der Erstaufnahme und in Übergangswohnheimen von einzelnen Ärztinnen und Ärzten geleistet, die auf Honorarbasis vergütet wurden. Später wurden ärztliche Stellen geschaffen, seit 2015 mehrere Arztstellen und erstmalig auch medizinische Fachangestellte (MFA). Die aufsuchende Arbeit vor Ort (Sprechstundenangebot) wird zurzeit von vier Ärztinnen und Ärzten, vier medizinischen Fachangestellten beziehungsweise Krankenschwestern des ÖGD mit unterschiedlichem Stellenvolumen sichergestellt. In den zentralen Aufnahmestellen werden tägliche Sprechstunden angeboten . Weitere Angebote sind flexibel je nach Bedarf an verschiedenen Standorten möglich. Seit 2016 steht dem Bremer Modell eine praxisähnliche räumliche und technische Infrastruktur in der Zentralen Aufnahmestelle in Bremen Nord und ihrer Nebenstelle zur Verfügung. Seit 2017 ist die Räumlichkeit in der ehemaligen Vulkan-Werft mit einer kleinen, gut ausgestatteten Klinikambulanz vergleichbar. An technischer Ausstattung ist nicht zuletzt die vorhandene und gut genutzte Videotechnik für Videodolmetschen hervorzuheben . Im Vergleich zu 1993 wurde die Versorgung kontinuierlich ausgebaut und gefestigt. 6. Welche Erkenntnisse hat der Senat darüber, wie die Vermittlung von Geflüchteten zu niedergelassenen Ärzten stattfindet beziehungsweise welche Hürden gegebenenfalls bestehen? Das Untersuchungsprogramm stellt eine Basisversorgung durch ärztliche Sprechstunden an Ort und Stelle bereit. Die Kombination mit der Bremer Gesundheitskarte ermöglicht eine fließende Weitervermittlung in das ambulante und stationäre Gesundheitssystem. Es kann teilweise zu längeren Wartezeiten kommen, sodass für einen Übergangszeitraum vorläufige Versicherungsnachweise oder alternativ Krankenscheine des Gesundheitsamtes ausgestellt werden. Die Weiterleitung an die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte erfolgt immer dann, wenn weitere Diagnostik oder eine fachärztliche Behandlung notwendig ist, abhängig vom jeweiligen Krankheitsbild. Bevorzugt werden die Praxen, die sich in räumlicher Nähe zur Unterkunft befinden und im Team über mehrsprachige Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter verfügen. Das Verfahren kann durch verschiedene Faktoren im Alltag erschwert werden: Kommunikationsprobleme, Zeitdruck, ein unterschiedliches – 7 – Krankheitsverständnis bei Flüchtlingen, hohe Erwartungen seitens der Erkrankten , Somatisierung von psychischen Problemlagen. Auch das Nichteinhalten der vereinbarten Termine oder das Aufsuchen der Sprechstunden mit vielen Familienangehörigen gleichzeitig können den Ablauf im Sprechzimmer behindern. Solche Probleme können zu Überlastung, Überforderung und auch zu Aufnahmestopps seitens beteiligter Arztpraxen führen. Dies kann zum Teil aufgefangen werden, indem zur Terminvergabe bereite Praxen gesucht werden, die dann weiter entfernt von der Unterkunft liegen. 7. In welcher Weise wurden und werden sprachliche Hürden beim Angebot gesundheitlicher Untersuchung und Beratung überwunden? Welche technischen Möglichkeiten stehen in welchem Umfang dafür zur Verfügung? Die erste Voraussetzung, um sprachliche Hürden zu überwinden, ist die zum Teil vorhandene Mehrsprachigkeit des eingesetzten Personals. Angesichts der Heterogenität der Zielgruppe können jedoch trotz der im Team verfügbaren Mehrsprachigkeit nicht alle Kommunikations- und Schwellenprobleme gelöst werden. Seit 2017 verfügt der Standort in der ehemaligen Vulkan-Werft über einen Videodolmetscherdienst. Damit kann spontan oder nach Terminvereinbarung auf Dolmetscherleistungen für unterschiedliche Sprachen zugegriffen werden. Für bestimmte Themen und Gesundheitsprobleme wird der Zielgruppe mehrsprachiges Informationsmaterial zur Verfügung gestellt, zum Beispiel zu Schwangerschaft, zu Krätze, zum Befall mit Kopfläusen und so weiter. 8. Wie bewertet der Senat die Einführung der Bremer Gesundheitskarte? Welche Vor- und Nachteile haben sich aus der Nutzung der Karte gezeigt? Welche Chancen bestehen aus Sicht des Senats, eine Gesundheitskarte auch über Bremens Grenzen hinaus einzuführen? Die Einführung der Gesundheitskarte für Geflüchtete im Jahr 2005 hat sich in Bremen ohne Einschränkungen bewährt. Vorteile bestehen nicht nur für den Kreis der Leistungsberechtigten, sondern auch für die Stadtgemeinden Bremen und Bremerhaven. Leistungsberechtigte Personen können sich bei Krankheit direkt an die Ärztinnen und Ärzte oder gegebenenfalls auch an die Krankenhäuser wenden. Leistungseinschränkungen, wie sie zum Teil noch in anderen Bundesländern bestehen, wurden in Bremen weitestgehend abgeschafft. Eine Stigmatisierung der Geflüchteten durch die Vorlage eines Krankenscheines des Sozialamtes entfällt. Auch aus fiskalischen Gründen überwiegen die Vorteile. Die Auswertungen der Krankenbehandlungskosten der vergangenen Jahre haben ergeben , dass diese zum Teil niedriger sind als bei der vergleichbaren Gruppe der SGB-XII-Leistungsberechtigten. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass ein erheblicher Verwaltungsaufwand in den Sozialhilfedienststellen entfallen ist. Vor 2005 mussten dort nicht nur Krankenscheine ausgestellt, sondern auch Ansprüche auf einzelne Leistungen der Krankenhilfe geprüft werden. Entfallen sind auch die aufwendigen Vertragsabschlüsse und Abrechnungen mit den Leistungserbringern. Wesentliche Nachteile in diesem Bremer Modell sind bisher nicht aufgetreten . Zwischenzeitlich ist auch das Risiko der missbräuchlichen Nutzung der Gesundheitskarte durch die Aufnahme eines Passbildes eingeschränkt worden. Durch gesetzliche Änderungen haben in den vergangenen Jahren immer mehr Bundesländer und Kommunen Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen zur Übernahme der Krankenbehandlung von Geflüchteten abgeschlossen . Die Bremer Erfahrungen zur Gesundheitskarte flossen häufig in die Vertragsabschlüsse anderer Bundesländer ein. – 8 – 9. Welche Handlungsempfehlungen leitet der Senat aufgrund der Erfahrungen mit dem Bremer Modell und der heute vorhandenen Datengrundlage für die gesundheitliche Versorgung des betroffenen Personenkreises ab? Die gesundheitliche Integration, wie sie das Bremer Modell leistet, ist als unverzichtbarer Baustein der „Integration vom ersten Tag an“ zu betrachten . Die drei wesentlichen Bestandteile des Bremer Modells – ein niedrigschwelliges regelmäßiges Sprechstundenangebot in den Gemeinschaftsunterkünften auf der Grundlage der Freiwilligkeit, die Möglichkeit, akuten Behandlungsbedarf durch eine ärztliche Basisversorgung an Ort und Stelle abzudecken und die Gesundheitskarte zur Ermöglichung des Zugangs zur Regelversorgung – sollten beibehalten und künftigen Entwicklungen angepasst werden. Zur ausreichenden Verständigung bei Anamnese, Diagnostik und Behandlung ist professionelle Sprachmittlung unabdingbar. Eine angemessene Verständigung zwischen Behandelnden und Behandeltem ist gesetzlich festgeschrieben. 1 Der Einsatz mehrsprachig beziehungsweise interkulturell kompetenten Personals ist vorteilhaft, wird jedoch bei der Heterogenität der Zielgruppe nicht alle Anforderungen abdecken können. Die mit dem Videodolmetschen gegebene kurzfristig verfügbare professionelle Sprachmittlung hat sich im Sprechstundenangebot des Bremer Modells bewährt. Die verstärkte Zusammenarbeit mit den Sozialpsychiatrischen Diensten des ÖGD, der Psychotherapeutenkammer und dem Verein „Refugio – Behandlungszentrum für Flüchtlinge e. V.“ kann zu einer verbesserten Versorgung von traumatisierten Flüchtlingen führen. Eine finanzielle und personelle Absicherung muss im Folgenden geprüft werden, um unter anderem Fortbildungen finanzieren zur können als auch dolmetschergestützt arbeiten zu können. 1 BGB §630c (2) "Der Behandelnde ist verpflichtet, dem Patienten in verständlicher Weise zu Beginn der Behandlung und, soweit erforderlich, in deren Verlauf sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnose, die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die Therapie und die zu und nach der Therapie zu ergreifenden Maßnahmen“. https://dejure.org/gesetze/BGB/630c.html (10. September 2018) Bremische Bürgerschaft Drucksache 19 / 1982 Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis90/Die Grünen vom 13. November 2018 25 Jahre Bremer Modell – das Gesundheitsprogramm des Bremer Gesundheitsamts für Geflüchtete und Asylsuchende Antwort des Senats vom 18. Dezember 2018