— 1 — B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Landtag 19. Wahlperiode Drucksache 19 / 858 (zu Drs. 19/753) 29. 11. 16 Mitteilung des Senats vom 29. November 2016 Kinderehen in Deutschland und Bremen – Welche Handlungsoptionen hat der Staat? Die Fraktion der FDP hat unter Drucksache 19/753 eine Große Anfrage zu obigem Thema an den Senat gerichtet. Der Senat beantwortet die vorgenannte Große Anfrage wie folgt: 1. Wie viele Fälle von Kinderehen sind jeweils in Bremen und Bremerhaven bekannt (bitte nach Jahren seit 2009, Staatsangehörigkeiten und Alter des jüngeren Ehepartners aufschlüsseln)? Nachfolgend aufgeführt sind Fälle derzeit im Land Bremen gemeldeter Ehepaare , in denen ein Ehepartner zum Zeitpunkt der in Deutschland oder im Ausland geschlossenen Ehe minderjährig war. Die Angaben zu den Eheschließungszeitpunkten beruhen häufig nur auf den eigenen Angaben der Ehepaare. Stadtgemeinde Bremen Alter des jüngeren (jeweils weiblichen) Jahr Anzahl/Fälle Staatsangehörigkeit Ehepartners 2009 5 Deutsch/Libanesisch 15 Deutsch 15 Bulgarisch 15 Bulgarisch 16 Türkisch 17 2010 3 Deutsch/Libanesisch 15 Deutsch 17 Deutsch/Libanesisch 17 2011 2 Bulgarisch 17 Türkisch 17 2012 1 Deutsch 17 2013 1 Afghanisch 13 2014 5 Afghanisch 17 Polnisch 17 Irakisch 17 Syrisch 15 Afghanisch 15 2015 4 Deutsch/Russisch 17 Deutsch 16 Syrisch 15 Syrisch 16 2016 3 Deutsch 17 Polnisch 17 Deutsch 17 — 2 — Stadtgemeinde Bremerhaven Alter des Jahr Anzahl/Fälle Staatsangehörigkeit jüngeren Ehepartners 2015 1 Afghanisch 17 2016 1 Syrisch 16 2. Wie hoch schätzt der Senat die Dunkelziffer von praktizierten Kinderehen im Land Bremen? Hierzu gibt es keine Erkenntnisse. 3. Sind dem Senat Fälle bekannt, in denen es in diesen Kinderehen zu Gewalttaten gekommen ist, wenn ja, wie viele jeweils in den Jahren seit 2009? Dem Senat sind zwei Fälle bekannt, in denen es in Kinderehen zu Gewalttaten kam. Diese Fälle trugen sich in den Jahren 2012 und 2013 zu. 4. Wie viele Mädchen haben im Land Bremen vor Vollendung der Schulpflicht ihren Schulbesuch jeweils in den Jahren seit 2009 eingestellt, bei denen der weitere Verbleib den Behörden unbekannt ist? Belastbare Zahlen darüber können nicht ermittelt werden. Die Schulpflicht ist gemäß § 52 Bremisches Schulgesetz an die Meldung in Bremen geknüpft. Deshalb wird die Schulpflicht nur bei mit Hauptwohnsitz in Bremen gemeldeten Schülerinnen und Schüler überwacht. Der Verbleib einer Schülerin, die vor Vollendung der Vollzeitschulpflicht das Bremer Schulsystem und das Land Bremen verlässt, bleibt unbekannt, da die Schulbehörden der Länder und Kommunen aus Datenschutzgründen die Schülerdaten nicht miteinander abgleichen. Der Grund für den Wegzug wird nicht erfasst. Es ist deshalb statistisch nicht nachzuvollziehen, ob eine Schülerin, die vor Vollendung ihrer Schulpflicht das Bundesland verlässt, also nicht mehr in Bremen gemeldet ist, den Schulbesuch insgesamt eingestellt hat oder ob sie in einem anderen Bundesland weiter zur Schule geht. 5. Wie viele Ordnungswidrigkeiten wurden im Land Bremen jeweils in den Jahren seit 2009 gemäß § 65 Landesschulgesetz verfolgt, und wie viele Geldbußen wurden in welcher Höhe verhängt (bitte nach den Ordnungswidrigkeiten und Staatsangehörigkeiten aufschlüsseln)? Die Anzahl der Bußgeldverfahren nach § 65 Landesschulgesetz seit dem Schuljahr 2009/2010 für die Stadtgemeinde Bremen ergibt sich aus nachfolgender Tabelle: Schuljahr 2009/2010 51 Schuljahr 2010/2011 102 Schuljahr 2011/2012 113 Schuljahr 2012/2013 130 Schuljahr 2013/2014 158 Schuljahr 2014/2015 288 Schuljahr 2015/2016 238 Die Anzahl der Bußgeldverfahren nach § 65 Landesschulgesetz seit dem Schuljahr 2009/2010 für die Stadtgemeinde Bremerhaven ergibt sich aus nachfolgender Tabelle: Schuljahr 2009/2010 226 Schuljahr 2010/2011 84 Schuljahr 2011/2012 18 Schuljahr 2012/2013 36 Schuljahr 2013/2014 14 Schuljahr 2014/2015 76 Schuljahr 2015/2016 25 — 3 — Die genauen Gründe für die Bußgeldverfahren, die genaue Höhe des Bußgelds und die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen werden statistisch nicht erfasst. 6. Wie viele Strafverfahren wurden im Land Bremen jeweils in den Jahren seit 2009 gemäß § 66 Landesschulgesetz eingeleitet, und wie viele davon endeten jeweils mit Geldbuße oder Freiheitsstrafe (bitte nach Staatsangehörigkeiten aufschlüsseln )? Die Staatsanwaltschaft Bremen hat seit 2009 insgesamt sechs Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs nach § 66 Bremisches Schulgesetz geführt. Diese verteilen sich auf die Jahre 2009 (zwei), 2010 (zwei) und 2011 (zwei). Sämtliche Verfahren haben mit einem Strafbefehl geendet, in dem die Beschuldigten mit einer Geldstrafe belegt worden sind. Vier Beschuldigte der Ermittlungsverfahren sind deutsche Staatsangehörige und zwei Beschuldigte der Ermittlungsverfahren aus den Jahren 2009 und 2010 sind serbisch-montenegrinische Staatsangehörige . 7. Werden im Ausland bei Minderjährigkeit geschlossene Ehen spätestens dann anerkannt, sobald beide Ehepartner volljährig sind oder bedarf es dazu einer erneuten Eheschließung vor einem deutschen Standesamt? Anders als bei Auflösungen von Eheschließungen im Ausland, bedarf es keiner förmlichen Anerkennung einer im Ausland geschlossenen Ehe. Eine beglaubigte Abschrift der Eintragung der geschlossenen Ehe in das Standesregister des Heimatstaats, das von der dazu ordnungsgemäß ermächtigten Person geführt wird, erbringt vollen Beweis der Eheschließung. Grundsätzlich unterliegen die Voraussetzungen der Eheschließung für jede und jeden Verlobten dem Recht des Staats, dem sie oder er angehört. Behörden oder Gerichte prüfen die Wirksamkeit von im Ausland geschlossenen Ehen nur als Vorfrage zu anderen Rechtsverhältnissen, so erfolgt diese Prüfung durch Standesämter bei anstehenden Beurkundungen, z. B. bei Nachbeurkundungen , Geburtsbeurkundungen, Namenserklärungen etc. 8. Welche Möglichkeiten sieht der Senat, zukünftig im Bundesrecht Aufhebungsbestimmungen für Ehen zu formulieren, bei denen einer der Ehepartner während der Eheschließung minderjährig gewesen ist? Nach § 1314 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) kann eine Ehe, die entgegen den Vorschriften des § 1303 BGB, nach denen eine Ehe grundsätzlich nur nach Eintritt der Volljährigkeit eingegangen werden kann, geschlossen worden ist, durch richterliche Entscheidung aufgehoben werden. Ausgenommen sind Fälle, in denen ein Familiengericht eine minderjährige Person, die das 16. Lebensjahr vollendet hat und eine volljährige Person heiraten will, vom Erfordernis der Volljährigkeit befreit hat. Derzeit wird diskutiert, ob diese Ausnahmemöglichkeit gestrichen werden sollte. Dazu wird auf die Antwort zu den Fragen 10 bis 13 verwiesen. § 1314 BGB kommt zur Anwendung, wenn für die Eheschließung deutsches Recht galt. Eine Erweiterung der Anwendung auf Eheschließungen nach ausländischem Recht würde voraussetzen, dass entweder das Volljährigkeitsgebot des § 1303 Absatz 1 BGB auch auf Auslandsehen erstreckt würde oder ein besonderer Aufhebungstatbestand für Auslandsehen mit Minderjährigen geschaffen würde. 9. Welche rechtlichen Änderungsmöglichkeiten sieht der Senat, damit im Ausland geschlossene Ehen nicht automatisch in Deutschland anerkannt werden, wenn sie beispielsweise gegen Bestimmungen des Jugendschutzes verstoßen? Nach Artikel 13 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) unterliegen die Voraussetzungen der Eheschließung für jeden der Ehepartner dem Recht des Staats, dem er angehört. Ist danach eine Ehe wirksam geschlossen , gilt dies auch im Inland. Dieser Grundsatz wird eingeschränkt durch Artikel 6 EGBGB. Danach ist die Rechtsnorm eines anderen Staats nicht anzuwenden , wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Ehemündigkeitsalter unter 16 Jahren dem deutschen ordre public widerspricht, wird in der Praxis sehr unterschiedlich beantwortet. — 4 — Die sich aus Artikel 6 EGBGB ergebene Einschränkung der Inlandswirkung ausländischen Rechts könnte für den Fall im Ausland geschlossener Ehen mit Minderjährigen gesetzlich konkretisiert und auch mit Aspekten des Jugendschutzes begründet werden. 10. Wie steht der Senat zu dem Vorschlag, Jugendämtern die Möglichkeit zu geben, auf Antrag im Ausland geschlossene Ehen zwischen zwei Minderjährigen, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland haben, aufheben zu lassen? Die Fragen 10 bis 13 sowie 15 und 16 werden, weil sie sämtlich den Ausschluss von Ehen mit Minderjährigen betreffen, zusammenfassend beantwortet: Sowohl die Streichung der mit § 1303 Absatz 2 bis 4 BGB im Inland bestehenden Möglichkeit der Eheschließung einer Person, die das 16. Lebensjahr vollendet hat, mit einer volljährigen Person als auch die möglichen Auswirkungen einer solchen Streichung auf die Behandlung von Auslandsehen mit Minderjährigen werden derzeit in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Vorsitz des Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz beraten. Dabei sind auch verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Fragen, insbesondere der Eheschließungsfreiheit , und europarechtliche Vorgaben zu prüfen. Grundsätzlich unterliegen nach ausländischem Recht geschlossene Ehen der Eheschließungsfreiheit. Eine Regelung, durch die eine solche Ehe aufhebbar oder unwirksam wird, ist deshalb nur möglich, wenn der damit verbundene Eingriff in die Eheschließungsfreiheit verhältnismäßig und zur Erreichung eines legitimen Regelungszwecks gerechtfertigt ist. Geprüft werden ebenfalls Möglichkeiten, für das auf die Eheschließung anzuwendende Recht an den gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten anzuknüpfen sowie Gestaltungsmöglichkeiten des Verfahrens zum rechtlichen Umgang mit Auslandsehen unter Beteiligung von Minderjährigen. Dabei steht auch die in der Frage 10 angesprochene Schaffung einer Befugnis des Jugendamts, die Aufhebung einer Ehe zu beantragen, zur Diskussion. Maßgeblich für die weiteren Beratungen der Arbeitsgruppe werden die derzeit bei den Familiengerichten und den Jugendämtern erhobenen und noch auszuwertenden Informationen zu den praktischen Erfahrungen mit Minderjährigenehen sein. Der Senat wird seine Meinungsbildung nach Vorlage der Ergebnisse der Arbeitsgruppe abschließen. 11. Wie steht der Senat zu dem Vorschlag, § 1303 BGB so neuzufassen, dass eine Ehe ausschließlich bei Volljährigkeit vollzogen werden kann? Siehe Antwort zu Frage 10. 12. Wie steht der Senat zu dem Vorschlag, ausländische Ehen, sofern der § 1303 BGB wie oben beschrieben neugefasst wird, nur anzuerkennen, wenn beide Ehepartner die Ehe bei Volljährigkeit geschlossen haben? Siehe Antwort zu Frage 10. 13. Wie steht der Senat zu dem Vorschlag, ausländische Ehen, sofern der § 1303 BGB wie oben beschrieben neugefasst wird, nur anzuerkennen, wenn beide Ehepartner volljährig sind? Siehe Antwort zu Frage 10. 14. Wie steht der Senat zu dem Vorschlag, das 2009 abgeschaffte Voraustrauungsverbot bzw. die Standesamtspflicht gemäß §§ 67 und 67a Personenstandsgesetz, wieder einzuführen? Eine Wiedereinführung des Voraustrauungsverbots kann verfassungsrechtlich einen Eingriff in die Religionsfreiheit der Betroffenen bedeuten und bedürfte eines diesen Eingriff rechtfertigenden Grundes. Die Diskussion dazu ist noch nicht abgeschlossen. Das Bundesministerium des Inneren hat einen Gesetzentwurf in Aussicht gestellt. Sobald dieser vorliegt, wird der Senat sich dazu verhalten . 15. Wie steht der Senat zu dem Vorschlag, das internationale Privatrecht dahingehend zu ändern, dass bei Eheschließungen künftig das Recht des gewöhnlichen — 5 — Aufenthaltsorts Anwendung findet, wenn zwei ausländische Staatsangehörige in Deutschland heiraten? Siehe Antwort zu Frage 10. 16. Wie steht der Senat zu dem Vorschlag, die Altersgrenze für die Ehemündigkeit ausnahmslos auf 18 Jahre festzusetzen und somit die bisherige Möglichkeit einer Eheschließung mit 16 Jahren bei Einwilligung des Familiengerichts abzuschaffen ? Siehe Antwort zu Frage 10. 17. Welche niederschwelligen Beratungs- und Hilfsangebote gibt es im Land Bremen für betroffene Kinder und Jugendliche, und wie viele Kinder und Jugendliche wurden hier jeweils in den letzten fünf Jahren betreut? Zum Jahresanfang wurde an alle Schulen der Sekundarstufe I und Sekundarstufe II der Flyer „Heiraten wen ich will“ verschickt. Intention ist, dass die Lehrkräfte an den Schulen das Thema im Rahmen des Unterrichts in geeigneter Weise aufgreifen. Herausgegeben wurde der Flyer als Gemeinschaftsprodukt der Bremischen Zentralstelle für die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau (ZGF) und der Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport. Da die Nachfrage in den Schulen sehr hoch war, erfolgte ein Nachdruck von 3 000 Exemplaren durch die Senatorin für Kinder und Bildung. Es gibt im Land Bremen für Kinder und Jugendliche, die von einer praktizierten Kinderehe betroffen sind oder sein könnten, keine ausgewiesenen niederschwelligen Beratungs- und Hilfsangebote. Die bekannten Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche und auch deren Eltern wie • der Allgemeine Sozialdienst im Amt für Soziale Dienste Bremen und im Amt für Jugend, Familie und Frauen Bremerhaven und deren Beratungsstellen , • die Beratungsangebote freier Träger in Bremen wie das Mädchenhaus, der Verein Schattenriss, Verein Refugio und die Asyl- bzw. Migrationsberatungsstellen , • in Bremerhaven der Jugendmigrationsdienst der Arbeiterwohlfahrt Bremerhaven e. V. (AWO), der Mädchennotruf Initiative Jugendhilfe Bremerhaven e. V. und die Frauenberatungsstelle Diakonisches Werk Bremerhaven e. V. stehen dem betroffenen Personenkreis prinzipiell mit ihren Anliegen zur Verfügung . In Bremerhaven wird aktuell ein Fall betreut. Darüber hinaus konnten die genannten Anlaufstellen auf Nachfrage keine Beratungs - oder Hilfsnachfragen aus diesem Personenkreis in den letzten fünf Jahren verzeichnen. Die Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport wird mit den bestehenden Trägern und Ämtern Vereinbarungen treffen, wie ihr jeweiliges Beratungs- und Hilfsangebot an Betroffene weitervermittelt werden kann. Möglicherweise wird durch die entstandene öffentliche Debatte zum Thema Kinderehe die Aufmerksamkeit für das Thema im Betreuungssystem erhöht. Dadurch könnten mehr Anlässe für eine Beratung der Betroffenen entstehen. Die Notwendigkeit für ein neues Angebot wird jedoch weder in Bremen noch in Bremerhaven gesehen. 18. Welche weiteren Möglichkeiten sieht der Senat, um niederschwellige Beratungsund Hilfsangebote für betroffene Jugendliche auszubauen bzw. neu einzurichten ? Siehe Antwort zu Frage 17. Druck: Anker-Druck Bremen