Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 13. Dezember 2016 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Deutscher Bundestag Drucksache 18/10686 18. Wahlperiode 15.12.2016 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Annette Groth, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/10461 – Erweiterung der Zollunion trotz Demokratie-Abbaus in der Türkei V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Im Jahr 1996 trat die Türkei der europäischen Zollunion bei. Seitdem können die Europäische Union (EU) und die Türkei ihre Industriegüter praktisch zollfrei handeln. „Das Zollabkommen ist zum Rückgrat der europäisch-türkischen Beziehungen geworden“, so die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ (www.zeit.de/2016/ 35/eu-tuerkei-zollabkommen-handelsvertraege). Zur engen Partnerschaft mit der Türkei führte die Europäische Kommission im Jahr 2015 aus: „Die Türkei ist das Schwellenland, das der EU am nächsten liegt, und ein maßgeblicher regionaler Akteur; die Handels- und Investitionsbeziehungen lassen jedoch zu wünschen übrig. Seit dem 31. Dezember 1995 verbindet die EU und die Türkei eine Zollunion. In ihrer derzeitigen Form gilt die Zollunion nur für gewerbliche Waren; es fehlt ein Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten. Eine Modernisierung der Zollunion sollte das ungenutzte wirtschaftliche Potenzial von Bereichen wie Landwirtschaft, Dienstleistungen und öffentliches Beschaffungswesen freisetzen. Eine reformierte Zollunion könnte auch den Weg zu einer Assoziierung der Türkei mit künftigen Freihandelsabkommen (FHA) der EU ebnen. Die Kommission wird: einen neuen, ehrgeizigeren Rechtsrahmen mit der Türkei erarbeiten, der die Zollunion aktualisiert.“ (http://trade.ec.europa.eu/ doclib/docs/2015/october/tradoc_153880.PDF). Seit zirka zwei Jahren ist die potentielle Modernisierung und Ausweitung der Zollunion mit der Türkei ein Thema in der Europäischen Kommission. Derzeit wird an einem Entwurf für Richtlinien zur Aufnahme von Verhandlungen gearbeitet , der bis Dezember 2016 den Mitgliedstaaten im Rat vorgelegt werden soll. Ein Ausbau der Zollunion mit der EU würde der türkischen Wirtschaft „neuen Schub“ geben, so die Zeitschrift „Capital“ (www.capital.de/meinungen/tuerkeierdogan -steinmeier-wachstum-wirtschaft-investitionen-8148.html) mit Verweis auf eine Studie der Bertelsmann Stiftung. „Kämen im Zuge einer Reform die Agrarwirtschaft und der Dienstleistungssektor hinzu, könnte das türkische BIP um ganze 1,8 Prozent zulegen. Ein Effekt steigender Exporte, die sich jeweils verdoppeln und vervierfachen dürften.“ Schon jetzt sei die EU mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Türkei und umgekehrt sei die Türkei der sechstgrößte Handelspartner der EU. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 18/10686 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode Im Oktober 2015 führte EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström zur neuen Handels- und Investitionsstrategie aus: „Bei der neuen Strategie geht es auch darum, Handelsabkommen und -präferenzsysteme als Hebel einzusetzen, umweltweit Werte wie nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte, fairen und ethischen Handel sowie die Bekämpfung der Korruption zu fördern.“ (http://trade. ec.europa.eu/doclib/docs/2015/october/tradoc_153880.PDF). Der Europaabgeordnete der CDU Elmar Brok hat auf die wirtschaftliche Abhängigkeit der Türkei von der EU hingewiesen. Der Aufschwung wäre ohne Zugang zum Binnenmarkt und die Direktinvestitionen aus der EU nicht möglich gewesen: Die EU müsse diese Abhängigkeit nun deutlicher in den Vordergrund stellen und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan klarmachen , dass er mit seinem Vorgehen nicht nur die Demokratie verletze, sondern auch eigene Interessen schädige (www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-imausnahmezustand -welchen-einfluss-hat-der-westen-auf-erdogan/13910872.html). Als mögliche Reaktion der EU auf den harten Kurs Erdoğans brachte Elmar Brok die Option ins Gespräch, auf den geplanten Ausbau der Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei zu verzichten. Auch der Vize- Präsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), sprach sich gegen die geplante Vertiefung der Zollunion aus. „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über solche Projekte zu disku-tieren“, sagte er dem „Tagesspiegel “ (www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-im-ausnahmezustand-welchen-einflusshat -der-westen-auf-erdogan/13910872.html). Der Vorsitzende des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union im Deutschen Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU/CSU), sagte ebenfalls, er halte es „im Augenblick nicht für das richtige Signal“, die Zollunion mit der Türkei zu vertiefen. Der Schritt sei erst dann sinnvoll, wenn es wieder zu einer Festigung der rechtsstaatlichen Strukturen in der Türkei komme (ebenda). 1. Welche Hauptziele verfolgt die geplante Erweiterung der Zollunion mit der Türkei aus Sicht der Bundesregierung? Eine von der Europäischen Kommission finanzierte und von der Weltbank durchgeführte Studie „Evaluation of the EU-Turkey Customs Union“ (vorgestellt am 8. April 2014 in Istanbul und am 10. April 2014 in Brüssel; http:// documents.worldbank.org/curated/en/298151468308967367/Evaluation-of-the- EU-Turkey-customs-union) kommt zu dem Ergebnis, dass die Lösung systematischer Probleme im Rahmen der bestehenden Zollunion und die Erweiterung ihres Wirkungsbereiches auf weitere Wirtschaftssektoren den Nutzen der Zollunion für alle Parteien erhöhen würde. Diese Auffassung wird durch die Bundesregierung grundsätzlich geteilt. 2. Inwiefern sieht die Bundesregierung angesichts der antidemokratischen Entwicklungen in der Türkei diese Hauptziele gefährdet? 3. Was hat sich aus der Sicht der Bundesregierung seit Juli 2016, als führende CDU-Politiker angesichts des harten Kurses des türkischen Präsidenten gegen eine Vertiefung der Zollunion waren, geändert, so dass eine modernisierte Zollunion mit der Türkei gerechtfertigt erscheint (www.tagesspiegel. de/politik/tuerkei-im-ausnahmezustand-welchen-einfluss-hat-der-westen-auferdogan /13910872.html)? Die Fragen 2 und 3 werden zusammen beantwortet. Die Bundesregierung wird sich zur Frage der Erweiterung bzw. Vertiefung der EU-Türkei-Zollunion dann positionieren, wenn ein förmlicher Vorschlag der Europäischen Kommission vorliegt. Die Bundesregierung verfolgt die innenpolitische Entwicklung in der Türkei mit größter Aufmerksamkeit. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10686 4. Inwieweit sieht die Bundesregierung in der Erweiterung der Zollunion einen „Hebel“, um die von der EU formulierten Werte „wie nachhaltige Entwicklung , Menschenrechte, fairen und ethischen Handel sowie die Bekämpfung der Korruption zu fördern“ (http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/ october/tradoc_153880.PDF)? Es wird auf die Antwort zu Frage 3 verwiesen. Die Bundesregierung sieht grundsätzlich in allen Gesprächen mit der Türkei Kanäle, um über alle relevanten Fragen im Gespräch zu bleiben. 5. Inwiefern teilt die Bundesregierung die Einschätzung, „die europäisch-türkischen Beziehungen ließen sich stärken, auch in schwierigen Zeiten wie diesen“, Voraussetzung dafür sei aber, dass sich beide Seiten nicht in den „komplexen Verhandlungen“ um eine EU-Vollmitgliedschaft „festbeißen“, die während der Flüchtlingskrise wiederbelebt wurden, „sondern dass sie andere Verträge neu verhandeln: die Zollabkommen zwischen der Türkei und der EU“ (www.zeit.de/2016/35/eu-tuerkei-zollabkommen-handelsvertraege)? Die Haltung der Bundesregierung zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist unverändert. 6. Welche wirtschaftlichen Vorteile für die Türkei sieht die Bundesregierung in der geplanten Erweiterung der Zollunion? In der in der Antwort zu Frage 1 genannten Studie „Evaluation of the EU-Turkey Customs Union“ werden die wirtschaftlichen Vorteile für die Türkei analysiert und dargestellt. 7. Mit welchen wirtschaftlichen Nachteilen muss die Türkei nach Kenntnis der Bundesregierung im Fall einer Nichterweiterung der Zollunion rechnen? Die in der Studie „Evaluation of the EU-Turkey Customs Union“ analysierten und dargestellten möglichen wirtschaftlichen Vorteile auch für die Türkei würden nicht realisiert. 8. Inwieweit hält die Bundesregierung eine Nichterweiterung der Zollunion angesichts des „Hineinschlitterns“ der Türkei in eine „Diktatur“ (so der SPD- Europaabgeordnete Arne Lietz laut dpa vom 21. November 2016) für geboten ? Es wird auf die Antwort zu den Fragen 2 und 3 verwiesen. 9. Welche wirtschaftlichen Konsequenzen hätte nach Kenntnis der Bundesregierung eine Aufkündigung der Zollunion für die Türkei? Die bestehende Zollunion bringt beiden Seiten wirtschaftliche Vorteile. Die Bundesregierung nimmt im Übrigen zu hypothetischen Fragen nicht Stellung. 10. Welche negativen Implikationen sieht die Bundesregierung im Fall einer Aufkündigung der Zollunion für Deutschland und für die anderen Mitgliedsländer der EU? Auf Antwort zu Frage 9 wird verwiesen. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 18/10686 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 11. Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung die jährlichen Finanzhilfen aus der EU für den Beitrittskandidaten Türkei seit dem Beginn der Beitrittsgespräche (bitte nach Jahren aufschlüsseln und danach, wie viel Deutschland und die anderen EU-Mitgliedstaaten im Einzelnen jeweils beisteuern )? Für die Türkei wurden seit Beginn der Beitrittsgespräche 2005 Finanzhilfen (sog. Vorbeitrittshilfen IPA bzw. IPA II) wie folgt vorgesehen: Jahr Vorbeitrittshilfe/Heranführungshilfe (indikative Finanzhilfen in Mio. €) 2016 630,8 2015 626,4 2014 620,4 2013 902,9 2012 860,2 2011 779,9 2010 653,7 2009 566,4 2008 538,7 2007 497,2 2006 450,0 2005 277,7 Die Vorbeitrittshilfen werden aus dem EU-Haushalt finanziert. Die EU-Mitgliedstaaten finanzieren diesen nach den Eigenmittelregelungen der EU. Der Finanzierungsanteil Deutschlands liegt derzeit bei rund 20 Prozent. 12. Für welchen Zeitraum in der Zukunft und in welcher Höhe sind Zahlungen der EU an die Türkei im Rahmen der „Instrument for Pre-accession Assistance “ (IPA) geplant? Heranführungshilfe ist für die Türkei im aktuellen IPA-II-Finanzierungszeitraum bis 2020 geplant. Für 2017 sind 636,4 Mio. Euro vorgesehen und für die Jahre 2018 bis 2020 insgesamt 1 940 Mio. Euro (noch nicht nach Jahren aufgeteilt). 13. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Verwendung der Mittel aus den sogenannten Vorbeitrittshilfen der EU seitens der türkischen Regierung , insbesondere der Mittel, die für den Ausbau des Rechtsstaats und die Sicherung der Menschenrechte vorgesehen sind? Die Vorbeitrittshilfe (bis 2006) sowie die Heranführungshilfe (IPA seit 2007) wurden und werden in Programmen festgelegt, die sich nach Sektoren gliedern. Die Implementierung dieser Programme dauert noch an. „Rechtstaatlichkeit und Grundrechte“ ist seit 2014 (IPA II) als eigener Sektor ausgewiesen. 2014 wurden hierfür 111,5 Mio. Euro vorgesehen, 2015 167,4 Mio. Euro und 2016 119,1 Mio. Euro. Für den Zeitraum von 2007 bis 2013 (IPA I) wurden „Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“ in einem übergeordneten Sektor der Heranführungshilfe gefördert . Für diesen wurden im Zeitraum 2007 bis 2013 insgesamt 312,6 Mio. Euro vorgesehen. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/10686 14. Inwiefern kann die Bundesregierung ausschließen, dass die für den Ausbau des Rechtsstaats und die Sicherung der Menschenrechte vorgesehenen Transferzahlungen im Rahmen der EU-Vorbeitrittshilfen in der Türkei für den Bau von 174 neuen Gefängnissen verwendet werden, den die türkische Regierung im September 2016 angekündigt hat (www.stol.it/Artikel/ Politik-im-Ueberblick/Politik/Tuerkische-Regierung-kuendigt-Bau-neuer- Gefaengnisse-an)? Die Europäische Kommission ist mit der Durchführung und Kontrolle der Mittel der Heranführungshilfe und der Vorbeitrittshilfen betraut. Der Bau von Gefängnissen aus IPA-Mitteln ist nicht vorgesehen und wird nicht daraus unterstützt. Der genannte Zeitungsartikel nimmt auf diese Mittel keinen Bezug. 15. Aus welchen Fördertöpfen fließen neben den sogenannten Vorbeitrittshilfen aus der EU zudem Gelder in welcher Höhe an die Türkei (bitte aufschlüsseln, wie viel Deutschland und die anderen EU-Mitgliedstaaten im Einzelnen jeweils beisteuern)? Der Bundesregierung sind folgende Mittel bekannt: 2016 sind Mittel aus dem Instrument , das zu Stabilität und Frieden beiträgt (IcSP), in Höhe von 20 Mio. Euro für den Kapazitätsaufbau der türkischen Küstenwache zur Durchführung von Such- und Rettungseinsätzen bereitgestellt worden. Die Gelder aus der EU-Türkei -Fazilität in Höhe von zunächst 3 Mrd. Euro werden für konkrete Projekte eingesetzt , die den Flüchtlingen in der Türkei und den betroffenen Kommunen und Regionen zugutekommen. Sie werden bilateral (2 Mrd. Euro, Deutschland: 428 Mio. Euro) und aus dem EU-Haushalt (1 Mrd. Euro) finanziert. Ende Oktober 2016 waren von 3 Mrd. Euro ca. 2,24 Mrd. Euro zugeteilt, 1,25 Mrd. Euro vertraglich gebunden und 676 Mio. Euro ausgezahlt. 16. Inwiefern sieht die Bundesregierung in der Ankündigung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Türkei könne sich der von Russland und China dominierten Shanghaier Kooperationsorganisation (SCO) anschließen, den Versuch, angesichts der wachsenden Kritik in der EU Druck auf die Verhandlungen in Richtung Erweiterung der Zollunion auszuüben (www.welt.de/ politik/ausland/article159622127/Erdogan-liebaeugelt-mit-dem-Russland- China-Pakt.html)? Die Bundesregierung hat die entsprechenden Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten zur Kenntnis genommen. Es obliegt ausschließlich der Republik Türkei , darüber zu entscheiden, welchen internationalen Organisationen sie angehören möchte. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass enge Beziehungen zwischen der EU und der Republik Türkei für beide Seiten von Nutzen sind. 17. Welche Vorteile hätte nach Kenntnis der Bundesregierung ein Beitritt der Türkei zur SCO für die Türkei? Die Bundesregierung nimmt zu hypothetischen Fragen nicht Stellung. 18. Welche Konsequenzen hätte nach Einschätzung der Bundesregierung ein Beitritt der Türkei zur SCO für deren weitere Mitgliedschaft in der NATO? Die Bundesregierung nimmt zu hypothetischen Fragen nicht Stellung. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333