Deutscher Bundestag Drucksache 18/1384 18. Wahlperiode 09.05.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche, Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Drucksache 18/1227 – Zweifel an der Wirksamkeit der Neuraminidasehemmer Tamiflu und Relenza Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Tamiflu und Relenza sind die meistverkauften Grippemittel der Welt. Nach zwei aktuell veröffentlichten Studien der Cochrane-Collaboration, einem weltweiten Netzwerk von unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern , ist die Wirksamkeit der beiden zu den Neuraminidasehemmern zählenden Medikamente zweifelhaft. Die Analyse von 20 Studien zu Tamiflu (T. Jefferson et al. (2014): Oseltamivir for influenza in adults and children: systematic review of clinical study reports and summary of regulatory comments) und 26 zu Relenza (C. J. Heneghan et al. (2014): Zanamivir for influenza in adults and children: systematic review of clinical study reports and summary of regulatory comments) mit insgesamt mehr als 24 000 Patientinnen und Patienten zeigt, was Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen seit dem Jahr 2009 immer wieder diskutierten: Tamiflu und Relenza sind laut der aktuellen Auswertung der vollständigen Zulassungsstudien nicht dazu geeignet, Grippe wirkungsvoll zu bekämpfen bzw. dieser vorzubeugen. Die Auswertung ergab, dass Tamiflu beispielsweise im Vergleich zu Placebo die klinischen Symptome bei Erwachsenen zwar geringfügig von 7 auf 6,3 Tage verkürzen konnte; bei Kindern zeigte sich dieser minimale Effekt aber nicht. Auch der immer wieder behauptete Schutz vor schweren Komplikationen , wie Lungenentzündung, Bronchitis, Nebenhöhlenentzündung oder Mittelohrentzündungen , ließ sich nicht nachweisen. Zudem blieb die Behauptung, dass eine präventive Behandlung mit Tamiflu eine Ansteckung bzw. Weiterverbreitung des Influenzavirus verhindere, unbewiesen. Beide Medikamente führen – anders als behauptet – auch nicht dazu, dass weniger Patientinnen und Patienten ins Krankenhaus eingewiesen werden mussten. Das Risiko von Nebenwirkungen , wie starke Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen, stieg hingegen durch die Einnahme unter Tamiflu um 5 Prozent. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit vom 8. Mai 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Angesichts der aktuell vorliegenden Auswertungen der vollständigen Zulassungsunterlagen der beiden antiviralen Arzneimittel Tamiflu und Relenza sind deren weiterer Einsatz und Bevorratung deutlich zu hinterfragen. Drucksache 18/1384 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode Nach dem Ausbruch der Schweinegrippe (A/H1N1) und der unklaren Bedrohungslage hatte Deutschland vor allem im Jahr 2009 Oseltamivir (Tamiflu) von der Firma Roche Deutschland Holding GmbH oder Zanamivir (Relenza) von der Firma GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG in großen Mengen bestellt. Da die antiviralen Arzneimittel nach Angaben der Bundesregierung ein geeignetes Mittel darstellten, um während einer Influenzapandemie die Mortalität und Morbidität in der Bevölkerung zu reduzieren bis ein für das aktuelle Influenzavirus spezifischer Impfstoff zur Verfügung steht, wurden für die Beschaffung von Tamiflu gut 70 Mio. Euro durch die Bundesregierung aufgewendet (Bundestagsdrucksache 17/13202). Die Bundesländer haben im Rahmen der Pandemieplanung antivirale Arzneimittel flächendeckend für mindestens 20 Prozent der deutschen Bevölkerung bevorratet, wofür schätzungsweise ein dreistelliger Millionenbetrag ausgegeben wurde. Als „Multiorganversagen“ bezeichnen die Cochrane-Forscher Tom Jefferson und Peter Doshi das fehlende Engagement auf allen politischen und regulatorischen Ebenen, um eine umfassende Arzneimittelbewertung von Tamiflu und Relenza vornehmen zu können. In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 10. April 2014 („Sargnagel für Grippemittel“) wird kritisch hinterfragt, wieso sich die Bundesländer auf den Bund bzw. das Robert Koch-Institut (RKI) und dieses wiederum auf eine wissenschaftlich nicht haltbare Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) berufe, wonach Tamiflu ein sinnvolles Mittel gegen Grippe sei. Vo r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g Der Bundesregierung sind sowohl die aktuelle Veröffentlichung der Cochrane Collaboration über Studiendaten aus saisonalen Grippewellen wie auch die zeitgleich übermittelte Stellungnahme der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) sowie die Position des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bekannt. Nach den bisherigen Kenntnissen und Bewertungen der Zulassungsbehörden gibt es bislang keine den derzeit in Deutschland zugelassenen Neuraminidasehemmern überlegenen alternativen medikamentösen Therapiemaßnahmen für den Fall einer schwerwiegenden Influenzapandemie. Die Zulassungsbehörden bewerten diese Arzneimittel nach wie vor mit einem positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis und sehen auf der Basis der gesamten aktuell vorliegenden Daten keine Veranlassung, diese Einschätzung zu widerrufen. Die Erfahrungen mit der „Schweinegrippe“ im Jahr 2009 und ihren für die Bevölkerung vergleichsweise harmlosen Auswirkungen haben zwar keine breit angelegte Anwendung von Neuraminidasehemmern erforderlich gemacht. Die Bundesregierung hält es aber auf Grund der Erfahrungen mit den drei schwerwiegenden , mit vielen Todesfällen einhergehenden Influenzapandemien des letzten Jahrhunderts nicht für vertretbar, auf eine Vorsorge zum Schutz der Bevölkerung gänzlich zu verzichten. 1. Seit wann sind der Bundesregierung Zweifel an der Wirksamkeit der beiden Neuraminidasehemmern Tamiflu und Relenza bekannt, und was hat sie daraufhin unternommen? 2. Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund der neuen Ergebnisse der Cochrane-Collaboration die antivirale Wirksamkeit der Arzneimittel Tamiflu und Relenza? 3. Ist die Bundesregierung trotz der aktuell vorliegenden Auswertungsergebnisse weiterhin der Auffassung, dass Tamiflu und Relenza geeignete Mittel darstellen, um während einer Influenzapandemie die Mortalität und Morbidität in der Bevölkerung zu reduzieren bis ein für das aktuelle Influenza- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/1384 virus spezifischer Impfstoff zur Verfügung steht (siehe Bundestagsdrucksache 17/13202)? Die Fragen 1 bis 3 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet . Die Kritik der Cochrane Collaboration war der Bundesregierung seit deren Metaanalyse aus dem Jahr 2012 bekannt. Sie hat deren Kritik schon vor zwei Jahren vom BfArM und dem Robert Koch-Institut (RKI) prüfen lassen. Sowohl nach den wissenschaftlichen Bewertungen der Bundesoberbehörden als auch nach den Bewertungen durch andere wissenschaftliche Körperschaften sind keine (medikamentösen) Behandlungsmaßnahmen bekannt, die den Zeitraum bis zur Verfügbarkeit wirksamer Impfstoffe nachgewiesenermaßen effektiver überbrücken könnten. Auch der Bericht der Cochrane Collaboration enthält dazu keine Hinweise. Die neue Analyse der Cochrane Collaboration führt aber insbesondere nicht zu einer Einschätzung, dass ein Verzicht auf die Anwendung von Neuraminidasehemmern bei einer schwerwiegenden Influenzapandemie die Bevölkerung bis zur Verfügbarkeit wirksamer Impfstoffe besser schützen würde. 4. Existieren nach Kenntnis der Bundesregierung in europäischen Ländern Nutzen- oder Kosten-Nutzenbewertungen der Arzneimittel Tamiflu und Relenza? Wenn ja, zu welchen Ergebnisse kommen diese? Die Bundesregierung führt keine Übersichten über Nutzen- oder Kosten-NutzenBewertungen in europäischen Staaten zu einzelnen Arzneimitteln. 5. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass angesichts der Zweifel an der Wirksamkeit von Tamiflu und Relenza die Empfehlung des RKI aus dem Jahr 2007, welches eine Bevorratung für bis zu 20 Prozent der Bevölkerung mit Neuraminidaseinhibitoren beabsichtigt, noch aufrechtzuhalten ist? Die Ergebnisse des Cochrane-Reviews werden gemeinsam mit weiteren relevanten Studien bei der Überarbeitung des Pandemieplans berücksichtigt. 6. Plant die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Cochrane-Collabortation den vorsorglichen Ankauf und die weitere Bevorratung von Tamiflu und Relenza auf Bundesebene einzustellen und ein entsprechendes Vorgehen mit den Bundesländern abzustimmen? Aufgrund der bestehenden Vorräte an Neuraminidasehemmern bei Bund und Ländern besteht derzeit bundesweit keine Notwendigkeit, über die weitere Bevorratung mit Neuraminidasehemmern zu entscheiden. 7. a) Inwieweit werden die neuen Ergebnisse der Cochrane-Collaboration in Bezug auf die Auswahl und den Einsatz der Arzneimittel Tamiflu und Relenza zur Korrektur der Empfehlung, für 20 Prozent der Bevölkerung entsprechende Medikamente einzulagern, führen, wie dies auch Dr. Karl Lauterbach gefordert hatte (SPIEGEL ONLINE, „SPD-Gesundheitsexperte will den Kauf von Grippemittel Tamiflu durch Bund und Länder stoppen“, 13. April 2014)? Gemeinsam mit anderen relevanten Studien werden die Ergebnisse des aktuellen Cochrane-Reviews bei der Gesamtbewertung für pandemierelevante Arzneimit- Drucksache 18/1384 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode tel Berücksichtigung finden und in den wissenschaftlichen Teil des Pandemieplans Eingang finden (siehe auch Antwort zu Frage 5). b) Wie ist der Arbeitsstand zur Anpassung des Nationalen Pandemieplans von Bund und Ländern? Die Vorbereitung auf eine mögliche Influenzapandemie ist ein kontinuierlicher Prozess und die Aktualisierung des Nationalen Pandemieplans ist ein Teil dieses Prozesses. Dabei fließen auch die Erfahrungen aus der Pandemie des Jahres 2009 ein. Der Nationale Pandemieplan wird gemeinsam vom Bund und den Ländern überarbeitet. Er wird künftig nur noch aus zwei Teilen bestehen: Teil I soll das Krisenmanagement insgesamt (Maßnahmen und Handlungsempfehlungen ) umfassen. Die Federführung für die Fortschreibung dieses Teils wurde auf Beschluss der 83. Gesundheitsministerkonferenz im Juli 2010 durch die Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesgesundheitsbehörden der Arbeitsgemeinschaft Infektionsschutz (AGI) übertragen. Die AGI aktualisiert derzeit Teil I. Teil II des Nationalen Pandemieplans wird den wissenschaftlichen Teil darstellen , für den das RKI die Federführung übernommen hat. c) Welche Teile des Pandemieplans sollen überarbeitet werden? Alle Teile des Pandemieplans werden umfassend überarbeitet und an aktuelle Erkenntnisse und Entwicklungen angepasst. d) Wann soll der überarbeitete Nationale Pandemieplan vorliegen? Erste Ergebnisse zur Aktualisierung des ersten Teils des Pandemieplans sollen auf der AGI-Sitzung Ende September 2014 präsentiert werden. Die aktualisierten Kapitel des wissenschaftlichen Teils des Pandemieplans werden nach ihrer Fertigstellung zeitnah und schrittweise, beginnend in der zweiten Hälfte des Jahres 2014, auf der Webseite des RKI veröffentlicht und ersetzen dann die Kapitel des früheren Pandemieplans. 8. Was gedenkt die Bundesregierung mit den derzeitigen Vorräten an Tamiflu und Relenza zu tun? Die Haltbarkeit der bestehenden Vorräte des Bundes an antiviralen Arzneimitteln und Wirkstoffpulver wird regelmäßig geprüft. Über ihren Einsatz wird im Ereignisfall unter Berücksichtigung aller dann vorhandenen Erkenntnisse zu entscheiden sein. 9. Wie sind nach Kenntnis der Bundesregierung die anderen europäischen Länder bzgl. der Bevorratung von antiviralen Arzneimittel für den Pandemiefall vorgegangen, und was planen diese für die Zukunft? Bei einem Vergleich der Pandemiepläne von 29 europäischen Ländern im Vorfeld der Pandemie des Jahres 2009 zeigte sich, dass in fast allen Plänen die Bevorratung von antiviralen Arzneimitteln vorgesehen war und in 14 Plänen ein bestehender Vorrat beschrieben war1. Nach Kenntnisstand der Bundesregierung haben acht EU/EFTA-Länder nach der Pandemie des Jahres 2009 ihre nationalen Pandemiepläne überarbeitet. Aus den in englischer Sprache verfügbaren Plänen von Frankreich, der Schweiz und 1 Mounier-Jack et al. Progress and shortcomings in European national strategic plans for pandemic influenza. Bull World Health Organ. Dec 2007; 85(12): 923 bis 929 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/1384 Großbritannien geht hervor, dass in diesen Ländern weiterhin antivirale Arzneimittel bevorratet werden. 10. a) Hat die Bundesregierung in der Vergangenheit Gespräche mit der WHO geführt, um daraufhin zu wirken, die Empfehlung der WHO, große Mengen (für 25 Prozent der Bevölkerung) an antiviralen Arzneimittel als Maßnahme zur Vorbeugung gegen Influenzapandemien vorrätig zu halten, zu überprüfen? b) Inwieweit wird die Bundesregierung auf Grundlage der neuen Ergebnisse des Cochrane-Collaboration Gespräche mit der WHO führen, um darauf hinzuwirken, diese Empfehlung zu korrigieren? Das RKI war an den Beratungen zur Überarbeitung des WHO-Pandemieplans beteiligt. Derzeit liegt erst ein Entwurf des Pandemieplans der WHO vor. Er enthält nur allgemeine Empfehlungen für die Mitgliedstaaten zur Bevorratung von antiviralen Mitteln. 11. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass das vorliegende Beispiel der jahrelang verweigerten Herausgabe von (Zulassungs-)Studiendaten der Arzneimittel Tamiflu und Relenza dafür spricht, im Sinne der Transparenz und der Ermöglichung einer unabhängigen Datenauswertung eine verpflichtende Registrierung von Arzneimittelstudien verbunden mit der Verpflichtung zur Veröffentlichung aller Studienergebnissen (auch der von abgebrochenen Studien) vorzusehen? Die Bundesregierung hat sowohl die Registrierung klinischer Prüfungen mit Humanarzneimitteln am Menschen wie die Veröffentlichung aller Ergebnisse der klinischen Prüfungen unabhängig davon, ob sie günstig oder ungünstig sind, verbindlich geregelt. Die Verpflichtung zur Registrierung besteht seit dem Jahr 2004 und wurde mit der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG) sowie der Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Menschen (GCP-Verordnung) in Umsetzung von europäischem Recht (Richtlinie 2001/20/ EG) eingeführt. In Deutschland besteht seit dem 1. Januar 2011 nach § 42b AMG die Pflicht, Ergebnisse klinischer Prüfungen der zuständigen Bundesoberbehörde zur Einstellung in eine allgemein zugängliche Datenbank zur Verfügung zu stellen. Diese Informationen sind seit Sommer 2013 im Internetportal PharmNetBund2 öffentlich zugänglich und werden nach und nach rückwirkend auf alle klinischen Prüfungen, die seit dem 6. August 2004 beantragt wurden, erweitert . Darüber hinaus sind auch Informationen über klinische Prüfungen für alle in der EU durchgeführten klinischen Prüfungen in der Datenbank der europäischen Arzneimittel-Agentur öffentlich zugänglich3. Mit der vom Europäischen Parlament und vom Rat beschlossenen EU-Verordnung über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln werden die zu veröffentlichenden Informationen noch erweitert . Künftig sollen alle relevanten Informationen zu klinischen Prüfungen in einer öffentlich zugänglichen Datenbank erfasst werden. 2 www.pharmnet-bund.de/dynamic/de/klinische-pruefungen/index.htm 3 www.clinicaltrialsregister.eu/ Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333