Deutscher Bundestag Drucksache 18/1412 18. Wahlperiode 14.05.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Harald Ebner, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 18/1245 – Auslegungsmerkmale und Risiken europäischer Atomkraftwerke Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r In Europa sind rund 150 Atomkraftwerke (AKW) in Betrieb, davon alleine 58 in Frankreich. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima wurde bekanntlich der so genannte EU-Stresstest der europäischen AKW durchgeführt. Dieser hatte jedoch ein wesentliches Manko: Er beschränkte sich auf die Betrachtung des Anlagenverhaltens in ausgewählten und aus dem Unfallverlauf von Fukushima abgeleiteten Unfallszenarien. Dabei war die Prämisse der Betrachtung, dass der Unfall bereits eintritt (siehe hierzu in der Erklärung der Gruppe der Europäischen Atomaufsichtsbehörden – European Nuclear Safety Regulators Group, kurz ENSREG – zum EU-Stresstest dessen Definitionsabschnitt „Vorläufig wird ,Stresstest‘ definiert als gezielte Neubewertung der Sicherheitsmargen von Kernkraftwerken vor dem Hintergrund der Ereignisse in Fukushima, nämlich extremer Naturereignisse, die die Sicherheitsfunktionen der Anlagen beeinträchtigen und zu schweren Unfällen führen. […]“, online verfügbar unter www.bmub.bund.de/fileadmin/bmu-import/files/pdfs/allgemein/application/pdf/ erklaerung_ensreg.pdf). Durch diesen Ansatz wurde ausgeklammert, dass die einzelnen AKWs insbesondere durch ihre unterschiedliche Auslegung und ihr unterschiedliches Alter ein sehr unterschiedliches Risiko haben, dass es überhaupt zu einem Unfall kommt. Zur Veranschaulichung ein grober alltagsnaher Vergleich: Hätte es sich um einen Autotest gehandelt, wäre nicht untersucht worden, welche unfallverhindernden bzw. das Unfallrisiko senkenden Merkmale das Auto aufweist, wie zum Beispiel die Anzahl und Qualität der Bremsen, ein Abstandswarnsystem, die Material- und Profilqualität der Reifen oder das Vorhandensein eines Antiblockiersystems (ABS). Vielmehr wäre für alle Autos als Anfangspunkt des Tests unterstellt worden, dass sie bestimmte Unfälle haben, und dann wäre für das jeweilige Unfallszenario anhand der Anzahl der im Auto vorhandenen AirDie Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit vom 12. Mai 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. bags, Feuerlöscher und Verbandskästen ihre so genannte Robustheit bzw. ihre Sicherheitsmargen während des Unfallverlaufs untersucht worden. Dieser Testansatz führt dazu, dass ein älteres Auto mit mehr Verbandskästen und Feuerlöschern besser abschneiden kann als ein neueres, das zwar weniger Ver- Drucksache 18/1412 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode bandskästen und Feuerlöscher hat, aber dank ABS, Abstandswarnsystem sowie weiterer Funktionen und Merkmale ein deutlich geringes Risiko, dass es überhaupt zum Unfall kommt. Insofern verwundert es nicht, dass der EU-AKW-Stresstest nicht dazu führte, dass anschließend der Weiterbetrieb auch nur eines einzigen der ältesten und/ oder als besonders anfällig geltenden europäischen AKW infrage gestellt war (zu den Defiziten des EU-AKW-Stresstests siehe auch den Beitrag des WDRTV -Magazins „Monitor“ vom 18. Oktober 2012 „Fukushima droht überall: Wie Europas Schrottreaktoren auch Deutschland gefährden“; das Manuskript des Beitrags ist online abrufbar unter www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/ 2012/1018/pdf/reaktor.pdf). Zu den Design- bzw. Auslegungsmerkmalen aller europäischen AKWs existiert nach Kenntnis der Fragesteller von offizieller Seite leider keine umfassende Übersicht. Eine solche ist auch im Rahmen einer Kleinen Anfrage und deren Beantwortung nicht zu leisten, hierfür bedürfte es eines deutlich umfassenderen Fragenkatalogs und einer Abfrage bei allen europäischen Atomaufsichten – was dem Deutschen Bundestag rechtlich nicht möglich ist. Gleichwohl ist das Ziel dieser Anfrage, durch Abfrage des bei der Bundesregierung vorhandenen Wissens über einzelne Auslegungsmerkmale ein – keinesfalls umfassendes – Schlaglicht auf die Unterschiedlichkeit europäischer Atomkraftwerke zu werfen. Dabei soll auch das spezifische Wissen der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) mbH abgefragt werden, da die GRS durch Kooperationen mit ausländischen Sachverständigenorganisationen wie zum Beispiel mit dem französischen „Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire“ (IRSN), durch eigene Auslandsdependancen oder Aufträge bezüglich ausländischer AKWs wie beispielsweise bezüglich der Materialdefekte in belgischen Reaktordruckbehältern (sog. Wasserstoffflocken oder Risse, vgl. hierzu Bundestagsdrucksachen 17/11348, 17/12975 und 18/1103) oder durch Tätigkeiten für ausländische Atomaufsichten, wie beispielsweise für die niederländische Atomaufsicht im Zusammenhang mit der Laufzeitverlängerung des AKW Borssele, spezifisches Wissen zu ausländischen AKWs erlangt hat (vgl. hierzu die Angaben auf www.grs.de und insbesondere den dort verfügbaren GRS-Jahres- und Geschäftsbericht 2012). Die folgenden Fragen beziehen sich nur auf diejenigen europäischen Atomkraftwerke , die sich noch im Leistungsbetrieb befinden bzw. noch eine Berechtigung zum Leistungsbetrieb haben. Der Begriff „Atomkraftwerk“ wird in den folgenden Fragen anlagen- bzw. reaktorscharf verwendet. Den Fragestellern ist bewusst, dass dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) nicht die Aufsicht ausländischer Atomkraftwerke obliegt. Deshalb wird hier auch nicht nach Bewertungen und etwaigem Handlungsbedarf gefragt, sondern lediglich nach den bereits vorhandenen Erkenntnissen des BMUB bzw. der Bundesregierung und der GRS zu bestimmten Daten und Fakten europäischer AKWs. Die Fragen zielen nicht auf ausschließlich umfassende Übersichten. Im Zweifel stellen bereits die auf Basis der vorhandenen Kenntnisse möglichen bruchstückhaften Angaben einen Fortschritt für den öffentlichen Informationsstand dar. Zugleich gehen die Fragesteller aber auch davon aus, dass vorhandene Kenntnisse zu einzelnen Anlagen nicht zurückgehalten werden, nur weil nicht zu allen Anlagen alle entsprechenden Kenntnisse vorliegen. Vo r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g Die Bundesregierung wird in Fragen der kerntechnischen Sicherheit durch die Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit mbH (GRS) beraten und unterstützt . Bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage entsprechen die Kenntnisse der Bundesregierung denen der GRS, daher wird nicht zwischen Kenntnissen der Bundesregierung und der GRS differenziert. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/1412 1. In welchen europäischen Atomkraftwerken haben nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS die Sicherheitssysteme (Störfallbeherrschungsebene ) nur einen Redundanzgrad n + 1, insbesondere in welchen AKWs in Deutschlands Nachbarstaaten (zum hierzulande vorgeschriebenen Redundanzgrad n + 2 siehe Bekanntmachung der „Sicherheitsanforderungen an Kernkraftwerke“ vom 20. November 2012 auf www.bmub.bund.de)? Nach Kenntnis der Bundesregierung/der GRS verfügen die Kernkraftwerke des Herstellers Siemens KWU in den Niederlanden und der Schweiz über die in Deutschland übliche n+2-Auslegung der Sicherheitssysteme. Diese Auslegung gilt im Wesentlichen auch für die Kernkraftwerke schwedischer Bauart und die Kernkraftwerke neuerer russischer Bauart (WWER-1000 und WWER-440/213). Die Kernkraftwerke der amerikanischen und französischen Reaktorhersteller (Westinghouse, General Electric, Framatome) verfügen über eine n+1-Auslegung der Sicherheitssysteme. 2. Welche europäischen Atomkraftwerke haben nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS keine gefilterte Druckentlastung (filtered venting), insbesondere welche AKWs in Deutschlands Nachbarstaaten? Nach Kenntnis der Bundesregierung/der GRS verfügen die Kernkraftwerke in Frankreich, den Niederlanden, Schweden und der Schweiz sowie die Siedewasserreaktoren in Finnland über gefilterte Druckentlastungen. Für die neueren Kernkraftwerke russischer Bauart des Typs WWER-1000 wurde in Bulgarien eine gefilterte Druckentlastung installiert. 3. Welche europäischen Atomkraftwerke haben nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS zwar eine gefilterte Druckentlastung (filtered venting), aber keine Filterstufe für organisches Jod, insbesondere welche AKWs in Deutschlands Nachbarstaaten und in Deutschland? Der Bundesregierung/der GRS liegen keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, in welchen weiteren europäischen Kernkraftwerken Filterstufen für organisches Jod eingesetzt werden. Der Bundesregierung/der GRS liegen jedoch Informationen vor, dass in mindestens 50 in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken ein von Siemens/AREVA entwickeltes nasses Filtersystem eingesetzt wird. Dieses betrifft u. a. die Siemens KWU-Anlagen in den Niederlanden und in der Schweiz sowie die WWER-1000 Anlagen in Bulgarien. Zu den Rückhaltemöglichkeiten anderer im Ausland eingesetzter Systeme für organisches Jod liegen der Bundesregierung/der GRS keine ausreichenden Informationen vor. Alle in Deutschland noch im Leistungsbetrieb befindlichen Kernkraftwerke verfügen über eine gefilterte Druckentlastung mit einer Rückhaltung für organisches Jod (Venturiwäscher oder Mikrosieb-Jodfilter). Drucksache 18/1412 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 4. Welche europäischen Atomkraftwerke haben nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS welche Auslegung gegen Flugzeugabstürze (bitte möglichst differenzierte Angaben, also bei vorhandener detaillierter Kenntnis , und nicht nur verallgemeinernde Auslegungsangaben, wie beispielsweise „schnell fliegende Militärmaschine“, sondern Starfighter, Phantom, Tornado etc.)? Welche AKWs haben keine explizite Auslegung gegen Flugzeugabstürze, insbesondere welche AKWs in Deutschlands Nachbarstaaten? Der Bundesregierung/der GRS liegen keine gesicherten Erkenntnisse zur Auslegung europäischer Kernkraftwerke gegen Flugzeugabsturz vor. 5. Bei welchen europäischen Atomkraftwerken haben die dazugehörigen Brennelemente-Lagerbecken und -Zwischenlager nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS welche Auslegung gegen Flugzeugabstürze (bitte ebenfalls möglichst differenzierte Angaben)? Insbesondere, welche dieser Lagerbecken und Zwischenlager haben keine explizite Auslegung gegen Flugzeugabstürze? Die Brennelement-Lagerbecken in europäischen Kernkraftwerken sind teilweise im Reaktorgebäude untergebracht. Wenn dies der Fall ist, gilt für die Brennelement-Lagerbecken die gleiche Auslegung wie für das Reaktorgebäude. Auf die Antwort zu Frage 4 wird verwiesen. Über die Auslegung von Brennelement -Lagerbecken und -Zwischenlagern in europäischen Kernkraftwerken außerhalb der Reaktorgebäude liegen der Bundesregierung/der GRS keine Informationen vor. 6. In welchen europäischen Atomkraftwerken ist nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS eine dem deutschen 30-Minuten-Konzept vergleichbare vollautomatische Beherrschung der ersten Phase eines Störfalls realisiert, in der zur Störfallbeherrschung keine Handmaßnahmen nötig sind (zum hierzulande vorgeschriebenen „30-Minuten-Konzept“ siehe Bekanntmachung der „Sicherheitsanforderungen an Kernkraftwerke“ vom 20. November 2012 auf www.bmub.bund.de)? Nach den der Bundesregierung/der GRS vorliegenden Informationen wurde ein dem deutschen 30-Minuten-Konzept vergleichbares Konzept in den Kernkraftwerken in Großbritannien, den Niederlanden, Schweden und der Schweiz sowie in den belgischen Kernkraftwerken Doel-3 und -4, Tihange-2 und -3 und der spanischen Anlage Trillo realisiert. Ein ähnliches Konzept kommt auch in neueren Kernkraftwerken russischer Bauart (WWER-440/213, WWER-1000) zur Anwendung. 7. In welchen europäischen Atomkraftwerken gibt es nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS keine dem deutschen 30-MinutenKonzept vergleichbare vollautomatische Beherrschung der ersten Phase eines Störfalls, sondern sind (auch) Handmaßnahmen nötig, insbesondere in welchen AKWs in Deutschlands Nachbarstaaten? Nach den der Bundesregierung/der GRS vorliegenden Informationen sind in verschiedenen Kernkraftwerken der Nachbarstaaten für einige spezielle Auslegungsstörfälle kurzfristig Handmaßnahmen zur Beherrschung erforderlich. Dies betrifft auch die in Frankreich in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke sowie die Kernkraftwerke Doel-1/-2 und Tihange-1 in Belgien. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/1412 8. In welchen europäischen Atomkraftwerken werden nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS digitale Komponenten im Reaktorschutzsystem eingesetzt, insbesondere in welchen AKWs in Deutschlands Nachbarstaaten ? Der Bundesregierung/der GRS liegen Informationen vor, dass in Kernkraftwerken in Frankreich, Großbritannien, Schweden, der Schweiz, der Slowakei, Tschechien, der Ukraine und Ungarn digitale Komponenten im Reaktorschutz eingesetzt werden. 9. Bei welchen europäischen Atomkraftwerken, für die eine Laufzeitverlängerung über eine 40-jährige Betriebszeit hinaus geplant, beantragt oder bewilligt ist, wurde nach Kenntnis a) der Bundesregierung und b) der GRS mit welcher Methodik und welchen Fragestellungen fachlich die sicherheitstechnische Unbedenklichkeit dieser Laufzeitverlängerung geprüft bzw. soll noch mit welcher Methodik und welchen Fragestellungen geprüft werden? Der Bundesregierung/der GRS liegen keine umfassenden Informationen über die detaillierten Voraussetzungen eines Betriebs von Kernkraftwerken, die über eine Betriebszeit von mehr als 40 Jahren verfügen, vor. Nach Information der Bundesregierung/der GRS richten sich die bestehenden nationalen Regelungen zur Prüfung der sicherheitstechnischen Unbedenklichkeit des Langzeitbetriebs in den Niederlanden und Belgien vor allem an den entsprechenden Anforderungen der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEA SRS 57) bzw. an der Praxis der US Nuclear Regulator Commission (US NRC 10CFR54) aus. Für die französischen Kernkraftwerke gibt es keine generellen Laufzeitbeschränkungen . Die Laufzeiten werden, abhängig von den Ergebnissen der 10-jährigen periodischen Sicherheitsüberprüfung, jeweils um weitere 10 Jahre verlängert. Basis hierfür sind nach Informationen der Bundesregierung/der GRS internationale Anforderungen zum Alterungsmanagement, Anforderungen der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEA SRS 57) bzw. die Praxis der US Nuclear Regulator Commission (US NRC 10CFR54). Nach Information der Bundesregierung/der GRS erfolgt die Prüfung der Unbedenklichkeit des Weiterbetriebs, über die ursprüngliche Auslegungsdauer hinaus , für Kernkraftwerke in der Schweiz insbesondere im Rahmen des Alterungsmanagements unter Berücksichtigung internationaler Anforderungen. Nach Information der Bundesregierung/der GRS basieren geplante, beantragte oder bereits bewilligte Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken der russischen Bauart WWER ebenfalls auf den oben genannten Anforderungen der IAEO (IAEA SRS 57) bzw. der Praxis der US NRC (10CFR54). Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333