Deutscher Bundestag Drucksache 18/175 18. Wahlperiode 16.12.2013 Antwort der Bundesregierung der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Andrej Hunko, Kersten Steinke und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/114 – Erweiterung des Vereinigungsbegriffs in den §§ 129 und 129a des Strafgesetzbuchs aufgrund des Rahmenbeschlusses der Europäischen Union zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Der am 24. Oktober 2008 von der Europäischen Union verabschiedete Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität definiert in Artikel 1 die Begriffe der „kriminellen Vereinigung“ sowie des „organisierten Zusammenschlusses“. Nach dieser Definition ist eine Unterordnung der einzelnen Gruppenmitglieder unter einen gemeinsam Gruppenwillen für das Vorliegen einer „kriminellen Vereinigung “ nicht erforderlich. Entsprechend sieht auch der Rahmenbeschluss der Europäischen Union zur Terrorismusbekämpfung für die Bildung einer „terroristischen Vereinigung“ nicht vor, dass ein Gesamt- oder Gruppenwille gebildet werden muss. Diese Definitionen in den Rahmenbeschlüssen der Europäischen Union unterscheiden sich damit deutlich von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH), der bislang die Bildung eines Gemeinschaftswillens als erforderlich für die Bildung einer „kriminellen“ oder „terroristischen“ Vereinigung ansieht. Der BGH lehnt bislang eine Anpassung seiner Rechtsprechung zu den §§ 129 und 129a des Strafgesetzbuchs (StGB) an den Vereinigungsbegriff des Europarechts ab. Nach der herrschenden Meinung sind solche Gruppierungen vom Anwendungsbereich des § 129 StGB ausgeschlossen, deren Mitglieder sich jeweils nur für sich der vom Gruppenwillen nicht abgeleiteten autoritären Führung einer bestimmten Person unterwerfen. Nach dieser Auffassung fällt ein gewisser Anteil der kriminellen Organisationen nicht unter den § 129 StGB. Auf Bundestagsdrucksache 16/12346 wies die Bundesregierung allerdings daraufhin, dass diese Meinung nicht unumstritten sei und die Gegenauffassung darauf verweise, dass sie nach dem Wortlaut und Gesetzessinn keineswegs zwingend sei. Die Bundesregierung sah zum damaligen Zeitpunkt im Frühjahr 2009 „keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf“. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums der Justiz vom 13. Dezember 2013 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Vielmehr sollte die weitere Entwicklung insbesondere im Hinblick auf den Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität sorgfältig beobachtet werden. Die Umsetzungsfrist für diesen Rahmenbeschluss der Europäischen Union ist am 10. Mai 2010 abgelaufen. Drucksache 18/175 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 1. Wie genau definiert der Rahmenbeschluss der Europäischen Union zur organisierten Kriminalität und zur Terrorismusbekämpfung die Begriffe „kriminelle Vereinigung“, „terroristische Vereinigung“ und „organisierter Zusammenschluss “, und wie unterscheiden sich diese Definitionen von den bislang gültigen Definitionen der deutschen Rechtsprechung? Nach Artikel 1 Nummer 1 des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI bezeichnet der Ausdruck „kriminelle Vereinigung“ einen auf längere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die, um sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen , in Verabredung handeln, um Straftaten zu begehen, die mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung im Höchstmaß von mindestens vier Jahren oder einer schwereren Strafe bedroht sind. Nach Artikel 2 Absatz 1 Satz 1 des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI bezeichnet der Ausdruck „terroristische Vereinigung“ einen auf längere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die zusammenwirken, um terroristische Straftaten zu begehen. Nach Artikel 1 Nummer 2 des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI und Artikel 2 Absatz 1 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI bezeichnet der Ausdruck „organisierter Zusammenschluss“ einen Zusammenschluss, der nicht nur zufällig zur unmittelbaren Begehung einer strafbaren Handlung gebildet wird und der nicht notwendigerweise förmlich festgelegte Rollen für seine Mitglieder, eine kontinuierliche Zusammensetzung oder eine ausgeprägte Struktur hat. Die Rechtsprechung versteht unter einer Vereinigung im Sinne der §§ 129, 129a des Strafgesetzbuchs (StGB) einen auf gewisse Dauer angelegten organisatorischen Zusammenschluss von mindestens drei Personen, die bei der Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke (Begehung von Straftaten bzw. Begehung der in § 129a Absatz 1 und 2 StGB genannten Straftaten) verfolgen und unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen. Das erfordere ein Mindestmaß an fester Organisation mit gegenseitiger Verpflichtung der Mitglieder sowie einen verbindlichen Gemeinschaftswillen, der unter Einbindung der einzelnen Mitglieder nach verbindlichen Regeln entstanden sein muss. Daran fehlt es nach der Rechtsprechung, wenn mehrere zur Begehung von Straftaten entschlossene Personen sich jeweils der autoritären, nicht vom Gruppenwillen abgeleiteten Führung einer Person unterwerfen (vergleiche Krauß in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Auflage, § 129 Rn. 18 ff.). 2. Inwieweit müssen diese Vereinigungsdefinitionen der Rahmenbeschlüsse der Europäischen Union zwingend in deutsches Recht überführt werden? Rahmenbeschlüsse sind hinsichtlich ihrer Ziele verbindlich, den Mitgliedstaaten ist jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlassen. Damit ist eine Übernahme von Definitionen nicht zwingend geboten. 3. Hat sich die auf Bundestagsdrucksache 16/12346 geäußerte Haltung der Bundesregierung geändert, wonach kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf bezüglich des Vereinigungsbegriffs in § 129 StGB besteht? Wenn ja, wann, und warum? Diese Frage wird von der Bundesregierung im Hinblick auf die neueren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) zum Vereinigungsbegriff der §§ 129, 129a StGB (vergleiche BGH NStZ 2008, S. 146 ff., BGHSt 54, S. 216) geprüft. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/175 4. Welche rechtlichen und politischen Alternativen zu einer Änderung des Vereinigungsbegriffs in den §§ 129 und 129a StGB sieht die Bundesregierung zur Anpassung an die Definitionen im europäischen Recht? Auf die Antwort zu Frage 3 wird verwiesen. 5. Welche Mindermeinungen von Juristinnen und Juristen sind der Bundesregierung bekannt, die für eine andere als die derzeit vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung des Vereinigungsbegriffs in den §§ 129 und 129a StGB plädieren? In der Literatur gibt es Auffassungen (vergleiche dazu Krauß in Leipziger Kommentar , § 129 Rn. 48 sowie die Nachweise in Fußnote 152 bis 155), wonach es für den Begriff der kriminellen bzw. terroristischen Organisation in organisatorischer und voluntativer Hinsicht genügen würde, wenn der Zusammenschluss ein Mindestmaß längerfristiger instrumenteller Vorausplanung und Koordinierung sowie eine irgendwie geartete regelhafte Willensbildung aufweist. Nach dieser Auffassung wäre der Nachweis eines durch die Art der Organisation gewährleisteten Gesamtwillens, dem sich die einzelnen Mitglieder unterordnen, ausreichend, unabhängig davon, ob die Willensbildungs- und Führungsstruktur durch Vereinbarung sämtlicher Mitglieder im Sinne eines gemeinsamen Unterwerfungsbeschlusses zustande gekommen ist, und ob die Willensbildungs- und Führungsstruktur geeignet ist, das Gefühl einer Gruppenidentität aufzubauen. Auch unabhängig von der Umsetzung der Rahmenbeschlüsse wird die Auffassung vertreten, die Auslegung von den §§ 129, 129a StGB solle sich „weniger am Bild von Vereinssatzungen oder Parteibeschlüssen als an dem wirklichkeitsnäheren Bild hierarchisch strukturierter Verbrecherorganisationen“ orientieren (Fischer, Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 129 Rn. 4). 6. Inwieweit, wann, und durch welche europäischen Behörden oder Institutionen gab es Ermahnungen an die Bundesrepublik Deutschland, den Vereinigungsbegriff in den §§ 129 und 129a StGB an die Definition der entsprechenden Rahmenbeschlüsse der Europäischen Union anzupassen? Bisher hat es solche „Ermahnungen“ durch europäische Behörden oder Institutionen an die Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben. 7. Welche Staaten oder Behörden fremder Staaten (EU- und Drittstaaten) sind bislang an die Bundesregierung mit der Forderung herangetreten, die Definitionen der §§ 129 und 129a StGB dem Rahmenbeschluss der Europäischen Union anzupassen, und wenn, mit welcher Begründung? Es sind bisher keine Staaten oder Behörden fremder Staaten an die Bundesregierung mit dieser Forderung herangetreten. 8. Sind der Bundesregierung Forderungen der Justiz- und Ermittlungsbehörden nach einer Erweiterung des Vereinigungsbegriffs bekannt, und wenn ja, von welchen Behörden, mit welchem Inhalt, und mit welchen Begründungen? Inwieweit wird dabei auf (welche) konkreten Erfahrungen verwiesen? Das Bundeskriminalamt hat – basierend auf den Erfahrungen aus Ermittlungsverfahren in Bezug auf Vereinigungen im Sinne des § 129 StGB – wiederholt die Problematik der Auslegung des Vereinigungsbegriffs thematisiert. Dabei wurde auf die hohen Beweisanforderungen hingewiesen; gerade bei mafiösen Struktu- Drucksache 18/175 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode ren, die intensiv die Abschottung nach innen und außen betreiben, bestehe ein Problem damit, den vom BGH geforderten gemeinsamen Täterwillen zur Begehung konkreter Straftaten nachzuweisen. Auch hat es auf das von der Rechtsprechung entwickelte Ausschlusskriterium der Unterordnung unter den autoritären Willen eines Anführers hingewiesen. Gerade bei stark hierarchisch geprägten Formen organisierter Kriminalität reduziere sich die Möglichkeit der Anwendung des § 129 StGB. Zudem vertritt der BGH in seiner Rechtsprechung die Auffassung (vergleiche unter anderem BGHSt 54, S. 216, 224), dass eine „europarechtsfreundliche “ Modifikation des bisherigen Begriffs der kriminellen Vereinigung Sache des Gesetzgebers sei. Zu § 129a StGB sind derartige Forderungen der Bundesregierung nicht bekannt. 9. In wie vielen und welchen Fällen hat nach Kenntnis der Bundesregierung die herrschende Rechtsprechung zu konkreten Problemen bei der Verfolgung schwerer Straftaten bzw. zur Einstellung von Ermittlungen oder zu Freisprüchen in Gerichtsverfahren geführt? Dazu liegen der Bundesregierung keine Zahlen vor. Es ist aber kein konkreter Fall bekannt, bei dem eine in Deutschland agierende terroristische Gruppierung letztlich nicht unter den Begriff der terroristischen Vereinigung (§ 129a, § 129b StGB) gefasst werden konnte. Die veröffentlichte BGH-Rechtsprechung zu § 129 StGB, sofern sie sich auf Fälle bezieht, in denen die Täter aus finanziellen Motiven gehandelt haben (nur diese kriminellen Vereinigungen sind nach dessen Artikel 1 Nummer 1 Gegenstand des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI) kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen. So wurde beispielsweise das Bestehen einer kriminellen Vereinigung verneint in den Entscheidungen BGHSt 31, S. 202 bei einem ausschließlich zum Zweck der illegalen Arbeitsvermittlung gegründeten oder betriebenen Wirtschaftsunternehmen, BGH NJW 1992, S. 1518 bei einer Organisation, die Spielkasinos betrieb, in denen illegales Glücksspiel veranstaltet wurde, und BGH wistra 2006, S. 462 bei einer Gruppierung, deren Ziel der gewinnbringende Schmuggel und Absatz unversteuerter Zigaretten war. Das Bestehen einer kriminellen Vereinigung wurde hingegen bejaht in der Entscheidung BGHSt 57, S. 14 („Diebe im Gesetz“). Ergänzend ist anzumerken, dass die restriktive Rechtsprechung zum Vereinigungsbegriff bereits im Ermittlungsstadium , das heißt bei der ermittlungstechnischen Ausgestaltung, berücksichtigt wird, was sich auch auf die Frage auswirkt, ob überhaupt ein Verfahren wegen der §§ 129 ff. StGB geführt wird. Gesamtherstellung: H. 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