Deutscher Bundestag Drucksache 18/2176 18. Wahlperiode 21.07.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jan Korte, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/1987 – Historische Aufarbeitung der Akten im Bundeskanzleramt Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Bundesministerien und Behörden der Bundesrepublik Deutschland ist auch 69 Jahre nach dem Ende des NSFaschismus in Deutschland nicht abgeschlossen. Erst in den letzten Jahren hat es eine breitere Initiative zur Aufarbeitung der NS-Bezüge in einer Reihe von Bundesministerien und Behörden des Bundes gegeben, die zum Teil spektakuläre Ergebnisse zu Tage gefördert haben. So wurde im Rahmen der Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (BND) bekannt, dass sich bereits im Jahr 1950 eine geheime Armee unter maßgeblicher Beteiligung ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS und der Wehrmacht im Umfeld der Organisation Gehlen und damit des Vorläufers des BND gründete. Kenntnis über diese illegale militärische Struktur muss laut einer aktuellen Studie (Agilolf Keßelring: „Die Organisation Gehlen und die Verteidigung Westdeutschlands. Alte Elitedivisionen und neue Militärstrukturen, 1949–1953“) auch das Bundeskanzleramt gehabt haben. Auch in anderen Zusammenhängen der Geschichtsaufarbeitung stößt man immer wieder auf die Frage, inwieweit die exekutive Schaltzentrale, das Bundeskanzleramt , von den einzelnen Vorgängen Kenntnis hatte, so bei der Indienstnahme hochrangiger NS-Täter durch die Organisation Gehlen bzw. den BND oder beim Umgang mit der Suche nach Adolf Eichmann. Zu einer vollständigen Aufarbeitung der personellen und inhaltlichen Verbindungslinien bundesdeutscher Regierungspolitik nach dem Jahr 1949 gehört sicherlich auch in diesem Zusammenhang eine Aufarbeitung der Rolle des Bundeskanzleramtes. Anders als für die meisten Bundesministerien gibt es für das Bundeskanzleramt keine Aufarbeitung seiner historischen Rolle und auch keinen Zugang der Wissenschaft zu entsprechenden Akten aus dieser Zeit. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundeskanzleramtes vom 17. Juli 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Drucksache 18/2176 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode Vo r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g 1. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Institutionen war ein bewusster Neubeginn nach den Erfahrungen Deutschlands mit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Fragen insbesondere nach personellen Kontinuitäten in Staat und Gesellschaft sind erst in neuerer Zeit vertieft von der Forschung in den Blick genommen worden . Mehrere Bundesministerien haben in den vergangenen Jahren unabhängige Forschungsprojekte initiiert. Außerdem gibt es Forschungsprojekte bei nachgeordneten Bundesbehörden, wie dem Bundeskriminalamt, dem Bundesamt für Verfassungsschutz oder dem Robert Koch-Institut (wegen der Einzelheiten wird auf die Antwort zu Frage 4 der Großen Anfrage „Umgang mit der NS-Vergangenheit “ der Fraktion DIE LINKE. vom 14. Dezember 2011 – Bundestagsdrucksache 17/8134 – verwiesen). Diese Projekte sind in die Hände unabhängiger Forscher gelegt worden. Die Bundesregierung unterstützt diese Forschungsarbeiten uneingeschränkt und bleibt offen für die Unterstützung von Arbeiten, die der weiteren Erforschung dieses Komplexes dienen. In der Koalitionsvereinbarung für die 18. Legislaturperiode wird insoweit ausgeführt: „Die Koalition wird die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden vorantreiben. In einer Bestandsaufnahme soll der aktuelle Forschungsstand und bestehende Forschungsbedarf auf Bundesebene zur Aufarbeitung der früheren Nachkriegsgeschichte von Ministerien und Behörden in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR ermittelt werden.“ 2. Der Bundesnachrichtendienst (BND) hat zur Erforschung seiner Frühgeschichte der Jahre 1945 bis 1968 im Jahr 2011 eine Unabhängige Historikerkommission (UHK) berufen. Dieser Kommission hat der BND vertraglich Zugang zu allen Akten des BND – einschließlich der Verschlusssachen – zugesagt, die den Untersuchungszeitraum betreffen. Zu dem umfassenden Forschungsprojekt , in dem auch die Beziehungen des BND zum Bundeskanzleramt Berücksichtigung finden, gehört auch eine Untersuchung der in der Kleinen Anfrage mehrfach angesprochenen NS-Thematik. Auch das Bundeskanzleramt hat der Kommission im Rahmen ihrer Arbeit Zugang zu allen vorhandenen Aktenbeständen gewährt, soweit diese Bezug zum BND aufweisen und Gegenstand des Forschungsauftrags sind. Die Kommission hat dies bereits in großem Umfang in Anspruch genommen. 1. Hat es jemals eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung der Rolle des Bundeskanzleramtes im Zusammenhang des Umgangs mit der NS-Vergangenheit gegeben? Wenn ja, wann, und durch wen? Wenn nein, plant die Bundesregierung eine solche Aufarbeitung? Rolle und Funktion des Bundeskanzleramtes sind in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen und Publikationen dargestellt worden. Eine abgeschlossene systematische wissenschaftliche Aufarbeitung im Sinne der Fragestellung ist der Bundesregierung nicht bekannt. Die UHK sichtet im Rahmen ihres Auftrags umfangreich auch Aktenbestände des Bundeskanzleramtes und bezieht diese in ihre Tätigkeit ein (siehe Nummer 2 der Vorbemerkung der Bundesregierung ). Historische Forschung ist grundsätzlich Aufgabe der Wissenschaft. Die Bundesregierung unterstützt Forschungsarbeiten in vielfältiger Hinsicht. Überdies besteht im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften die Möglichkeit, Aktenbestände beim Bundesarchiv bzw. bei in Betracht kommenden Behörden zu Forschungs- zwecken einzusehen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2176 2. Wie bewertet die Bundesregierung die bereits abgeschlossenen und die laufenden wissenschaftlichen Untersuchungen zur NS-Vergangenheit einzelner Bundesministerien und Behörden des Bundes, und sieht sie es nicht auch als eine logische Schlussfolgerung dieser Aufarbeitung an, dass die exekutive Zentrale der Bundesrepublik Deutschland, das Bundeskanzleramt , in eine solche Aufarbeitung mit einzubeziehen ist? Hinsichtlich der Bewertung der Forschungsprojekte von Ministerien und Behörden des Bundes zur Aufarbeitung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit wird auf Nummer 1 der Vorbemerkung der Bundesregierung Bezug genommen. Hinsichtlich des Bundeskanzleramtes wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. 3. Wie gestaltet sich der Umgang mit dem Aktenbestand des Bundeskanzleramtes generell? Nach welchen Kriterien findet hier eine Archivierung statt, wem sind die Akten zugänglich, und welche Möglichkeit hat die Wissenschaft, diese Akten zu nutzen? 4. In welchen Abständen werden Akten des Bundeskanzleramtes dem Bundesarchiv übergeben, findet eine vollständige Übergabe der jeweiligen Jahrgänge statt, oder nach welchen Kriterien werden Akten vor der Übergabe ans Bundesarchiv zurückgehalten? Die Fragen 3 und 4 werden im Zusammenhang beantwortet. Der Aktenbestand des Bundeskanzleramtes wird gemäß den rechtlichen Bestimmungen zum Umgang mit Schriftgut in den Bundesbehörden verwaltet. Der Aktenbestand ist den fachlich zuständigen Beschäftigten des Bundeskanzleramtes zugänglich. Der Zugang Dritter zu dem Aktenmaterial richtet sich nach den gesetzlichen Vorschriften . Akten werden entsprechend den gesetzlichen Vorgaben an das Bundesarchiv abgegeben. 5. Wie viele Akten mit Bezug zu Tatbeständen, die personelle und/oder inhaltliche Bezüge zur NS-Vergangenheit aufweisen, befinden sich noch im Bundeskanzleramt (bitte nach Jahrgang und laufenden Metern angeben)? Im Bundeskanzleramt befinden sich Akten zu diesem Thema aus neuerer Zeit. Hierzu zählen etwa Vorgänge zu Gesetzentwürfen und anderen Initiativen der Bundesregierung, Veranstaltungen, Beantwortung parlamentarischer Anfragen, Anträge nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) u. Ä. Ältere Akten mit entsprechendem Bezug sind weitgehend an das Bundesarchiv abgegeben. Eine exakte Beantwortung der Frage ist nicht möglich, da die Veraktung nicht unter dem in der Fragestellung genannten Kriterium erfolgte. 6. Sind diese Akten für die Wissenschaft und interessierte Öffentlichkeit zugänglich , und wenn nein, wie begründet die Bundesregierung die Zurückhaltung dieser Akten? Der Zugang Dritter zu Akten des Bundeskanzleramtes und zu Archivgut des Bundesarchivs richtet sich nach den einschlägigen rechtlichen Vorschriften. 7. Wie viele Akten mit Bezug zu Tatbeständen, die personelle und/oder inhaltliche Bezüge zur NS-Vergangenheit aufweisen, wurden ans Bundesarchiv abgegeben und mit einem Sperrvermerk versehen (bitte nach Jahrgang und laufenden Metern angeben)? Der Begriff „Sperrvermerk“ existiert im behördlichen Registraturwesen nicht. Die Einstufung von Akten als Verschlusssache richtet sich nach den einschlä- Drucksache 18/2176 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode gigen Vorschriften und ist unabhängig von einer Abgabe an das Bundesarchiv. Zur Quantifizierung des Aktenmaterials wird auf die Antwort zu Frage 5 verwiesen . 8. Wie begründet sich gegebenenfalls ein solcher Sperrvermerk, und für welche Dauer besitzt er eine Gültigkeit? Hinsichtlich des Begriffs „Sperrvermerk“ wird auf die zu Frage 7 gegebene Antwort verwiesen. Der Begriff der Verschlusssache ist in § 4 des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes definiert. Weitere Regelungen enthält u. a. die Verschlusssachenanweisung . 9. Finden sich nach Kenntnis der Bundesregierung im Bundeskanzleramt noch Akten zum Vorgang der Gründung einer „Geheimarmee“, wie sie in einer Einzelstudie der Unabhängigen Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des BND der Historiker Agilolf Keßelring vorgelegt hat? Wenn ja, wie viele, und wurden oder werden sie der Historikerkommission zugänglich gemacht? Bei einer Recherche für die Beantwortung einer anlässlich der Veröffentlichung von Dr. Agilolf Keßelring gestellten parlamentarischen Anfrage (vgl. Bundestagsdrucksache 18/1942) konnten keine Unterlagen zu dem in der Frage beschriebenen Vorgang festgestellt werden. 10. Finden sich nach Kenntnis der Bundesregierung im Bundeskanzleramt noch Akten zum Vorgang der Suche nach Adolf Eichmann? Wenn ja, wie viele sind dies, und wurden oder werden sie der Historikerkommission zugänglich gemacht? Altaktenbestände des Bundeskanzleramtes, die einen Bezug zu Adolf Eichmann aufweisen, befinden sich im Bundesarchiv und können dort nach Maßgabe der Vorschriften des Bundesarchivgesetzes genutzt werden. Es handelt sich um eine Akte mit zwei Bänden. Im Übrigen wird auf Nummer 2 der Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen. 11. Finden sich nach Kenntnis der Bundesregierung im Bundeskanzleramt noch Akten zu Vorgängen im Zusammenhang der Zusammenarbeit des BND mit NS-Tätern? Wenn ja, wie viele, und wurden oder werden sie der Historikerkommission zugänglich gemacht? Zur Zahl dieser Unterlagen kann die Bundesregierung keine Angaben machen, da deren Veraktung nicht unter dem in der Frage formulierten Kriterium erfolgte . Entsprechend Nummer 2 der Vorbemerkung der Bundesregierung hat die UHK Zugang zu den hier noch befindlichen Akten. 12. Finden sich nach Kenntnis der Bundesregierung im Bundeskanzleramt noch Akten zu Vorgängen im Zusammenhang der Zusammenarbeit anderer deutscher Sicherheitsbehörden mit NS-Tätern? Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/2176 Wenn ja, wie viele, und wurden oder werden sie z. B. der Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz oder anderen Historikern zugänglich gemacht? Ein Großteil der in der Frage beschriebenen Unterlagen wurde an das Bundesarchiv abgegeben. Sie stehen dort den Wissenschaftlern des Forschungsvorhabens zur „Organisationsgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1950–1975“, aber auch anderen Historikern zur Verfügung. Hinsichtlich des Umfangs wird auf die Antwort zu Frage 11 verwiesen. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333