Deutscher Bundestag Drucksache 18/2393 18. Wahlperiode 25.08.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Cornelia Möhring, Diana Golze, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/2248 – Der so genannte Marsch für das Leben Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Am 20. September 2014 wird vor dem Bundeskanzleramt in Berlin erneut ein so genannter Marsch für das Leben beginnen. Abtreibungsgegnerinnen und -gegner fordern dabei das vollständige Verbot und die Bestrafung aller Schwangerschaftsabbrüche – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Diese vom Bundesverband Lebensrecht organisierte Demonstration verzeichnet Jahr für Jahr einen größeren Zulauf. Tausende zogen in den Jahren 2012 und 2013 unter dem Motto „Für ein Europa ohne Abtreibung und Euthanasie “ mit weiß gefärbten Kreuzen und überdimensionierten Nachbildungen von Embryonen durch Berlin. 1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass sexuelle Selbstbestimmung ein Menschenrecht ist? Wenn nein, warum nicht? Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) schützt das Recht auf Privatleben. Dies umfasst nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auch die Achtung der sexuellen Selbstbestimmung eines Menschen. Artikel 17 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte schützt ebenfalls das Privatleben und hat einen vergleichbaren Anwendungsbereich . Darüber hinaus ist der Schutz vor Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität ein im Koalitionsvertrag und im Nationalen Aktionsplan Menschenrechte festgeschriebener wichtiger Bestandteil des MenDie Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 21. August 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. schenrechtsschutzes in Deutschland und in der deutschen Europa- und Außenpolitik . Der völkerrechtlich in Zivil- und Sozialpakt verankerte Schutz vor Diskriminierung gilt unteilbar und unveräußerlich auch für Menschen, die aufgrund ihrer sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität in ihren Menschenrechten Drucksache 18/2393 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode verletzt werden. Explizit ist das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung in Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Nichtdiskriminierung) festgelegt. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention wiederholt festgestellt, dass Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität unzulässig sind. 2. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Gewährung reproduktiver Rechte ein Menschenrecht ist? Wenn nein, warum nicht? Ein ausdrückliches Menschenrecht auf „Gewährung reproduktiver Rechte“ besteht nicht. Bestimmte Einzelaspekte sind aber menschenrechtlich geschützt, so etwa als Teil des Rechts auf Zugang zu Gesundheitsversorgung (Artikel 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Artikel 12 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes) oder als Teil des Rechts auf Privatleben nach Artikel 8 der EMRK. In der Leitentscheidung A,B und C gegen Irland vom 16. Dezember 2010 (Beschwerde-Nr. 25579/05) hat die Große Kammer des EGMR festgestellt, dass die EMRK zwar kein Recht auf Schwangerschaftsabbruch gewährt, aber dennoch im Einzelfall die faktische Verweigerung eines rechtmäßigen Abbruchs einen Verstoß gegen Artikel 8 der EMRK darstellen kann. Unabhängig davon besteht in Deutschland auf der Grundlage des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) ein umfangreiches qualifiziertes Beratungsangebot für alle Frauen und Männer, um ihnen eine selbstbestimmte Entscheidungen zu ermöglichen, damit sie ihre reproduktiven Rechte in Anspruch nehmen können (siehe hierzu auch Antworten zu den Fragen 3 und 4). 3. Wie gewährleistet die Bundesregierung, dass Frauen unabhängig von ihrer Herkunft, sexuellen Orientierung oder sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Situation einen Schwangerschaftsabbruch durchführen können? Nach geltendem Recht sind Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Voraussetzungen straflos (sog. Beratungsregelung nach § 218 a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs – StGB) bzw. rechtmäßig (medizinische und kriminologische Indikation nach § 218a Absatz 2 und 3 StGB). Weder Herkunft, noch sexuelle Orientierung oder die soziale, ökonomische und gesundheitliche Beeinträchtigung der Schwangeren sind Kriterien, die der Bewertung der Straflosigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen noch der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen zugrunde zu legen sind. Die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch auf der Grundlage einer Indikation werden von der gesetzlichen Krankenversicherung, die Kosten für einen Abbruch nach der Beratungsregelung bei Vorliegen sozialer Bedürftigkeit auf der Grundlage des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) von den Ländern übernommen. Die Länder haben zudem die Verpflichtung, ein ausreichendes plurales Angebot wohnortnaher Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen (§§ 5 und 6 SchKG) sowie ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen (§ 8 bzw. § 13 SchKG). Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2393 4. Wie gewährleistet die Bundesregierung, dass sich Frauen unabhängig von ihrer Herkunft, sexuellen Orientierung oder sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Situation eine selbstbestimmte Familienplanung erfüllen können? In Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrags entwickelt und verbreitet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unentgeltlich bundeseinheitliche Medien und Maßnahmen zur Sexualaufklärung (§ 1 SchKG). Unter Beteiligung der Länder und in Zusammenarbeit mit Vertretern der Familienberatungseinrichtungen aller Träger stellt sie zielgruppen- und altersgerechten Informationen über biologische Fakten, Verhütungsmittel und -methoden, auch unterstützende Begleitung und Maßnahmen zur Kompetenzförderung bei der Entwicklung von Einstellungen und Verhaltensweisen in der Sexualität zur Verfügung. Erweitert wurde der Auftrag um den Arbeitsschwerpunkt „Familienplanung“. Dazu gehören zielgruppen- und lebenskontextbezogene Informationen und Materialien u. a. zu Fragen der Kontrazeption, Partner- und Elternschaft, Schwangerschaft und Geburt, Pränataldiagnostik und Behinderung sowie zur Thematik des Schwangerschaftsabbruchs. Die Lebenswirklichkeit und damit die Vielfalt von Einstellungen, Verhaltensmöglichkeiten und Lebensstilen werden dabei berücksichtigt . Die Maßnahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung enthalten unabhängige wissenschaftlich fundierte Informationen. Zahlreiche Publikationen sind darüber hinaus mehrsprachig erhältlich, der Zugang zu diesen Informationen ist für Frauen und Männer, Mädchen und Jungen, unabhängig von Herkunft, sexueller Orientierung, sozialer, ökonomischer oder gesundheitlicher Situation gewährleistet. Nach § 2 SchKG hat zudem jede Frau und jeder Mann das Recht, sich zu Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung, Familienplanung und Schwangerschaft an eine hierfür vorgesehene Beratungsstelle zu wenden. Die Bundesländer stellen diesbezüglich ein ausreichendes wohnortnahes Angebot sicher, bei dem die Ratsuchenden zwischen unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung wählen können. Dieses flächendeckende und kostenfreie Beratungsangebot bietet ein breites Spektrum an psychosozialer Beratung zur selbstbestimmten Familienplanung, bei Bedarf auch unter Wahrung der Anonymität der ratsuchenden Person. Der Zugang ist uneingeschränkt möglich, u. a. auch unabhängig von Herkunft, sexueller Orientierung, sozialer, ökonomischer oder gesundheitlicher Situation von Ratsuchenden. Um Zugangsbarrieren hinsichtlich bestimmter schwer erreichbarer Gruppen, wie z. B. Menschen mit Lernschwierigkeiten, weiter zu verringern, führt die Bundesregierung unterschiedliche Projekte mit bundeszentralen Trägern der Schwangerschaftsberatung durch. Dabei geht es u. a. um Angebote für schwule und lesbische Jugendliche. Seit dem 1. Mai 2014 existiert zudem das vom Bund eingerichtete Hilfetelefon „Schwangere in Not – anonym und sicher“, das zum 1. Oktober 2014 um eine Online-Funktion ergänzt wird, um Lücken im Hilfesystem zu schließen und schwer erreichbaren Gruppen den Zugang zu Beratung zu erleichtern. Das Hilfetelefon ist unter der Nummer 0800 40 40 020 rund um die Uhr unentgeltlich und barrierefrei erreichbar und bietet kompetente Erstberatung unter Wahrung der Anonymität. Mithilfe einer Dolmetschung ist die Beratung in vielen Sprachen möglich, auch Hörgeschädigte und Schwerhörige können über die Website ab dem 1. Oktober 2014 eine Gebärdendolmetschung in Anspruch nehmen. Drucksache 18/2393 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 5. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es in den letzten Jahren zu einer deutlichen Zunahme der Stigmatisierung gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und gegen Frauen gekommen ist? Wenn nein, worauf beziehen sich diese Erkenntnisse? Der Bundesregierung liegen keine Informationen oder Anhaltspunkte vor, die begründeten Anlass geben könnten, diese Auffassung zu teilen. 6. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, dass Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, Einschüchterungen, Belästigungen und Gewalttätigkeiten bei der Ausführung ihrer Arbeit erfahren? Wenn ja, wo, und in welchem Umfang? Hierzu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor. 7. Wurden in den letzten zehn Jahren nach Kenntnis der Bundesregierung gegen Beratungsstellen und Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, Ermittlungs- oder Strafverfahren nach § 219a des Strafgesetzbuchs (StGB) geführt? Der Bundesregierung sind keine entsprechenden Verfahren bekannt. 8. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, ob im Rahmen von so genannten Gehsteigberatungen gezielt Frauen vor Beratungsstellen auf Schwangerschaft und Schwangerschaftsunterbrechung angesprochen werden und ihnen unaufgefordert Bilder, Broschüren oder Gegenstände zu diesem Thema gezeigt oder überreicht werden? Wenn ja, wie viele Anzeigen gab es nach Kenntnis der Bundesregierung von Einzelpersonen oder Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen gegen dieses Vorgehen? Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor. 9. Wie hoch war nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl der Teilnehmenden an der Demonstration im Jahr 2013? Wie hoch war nach Kenntnis der Bundesregierung die Teilnehmendenzahl seit dem Jahr 2002 (bitte nach Jahren und Teilnehmenden aufschlüsseln)? 10. Aus welchen Gruppen, Initiativen und weiteren Unterstützenden, auch aus anderen Ländern, setzte sich nach Kenntnis der Bundesregierung der „Marsch für das Leben“ zusammen? 11. Wer waren nach Kenntnis der Bundesregierung die Anmeldenden dieser Demonstration sowie der Versammlung vor dem Bundeskanzleramt? 12. Hat die Bundesregierung Erkenntnisse, ob die für den 20. September 2014 angekündigte Versammlung mit anschließender Demonstration genehmigt wurde? Wenn ja, mit welcher Teilnehmendenzahl wird nach Kenntnis der Bundesregierung gerechnet? Die Fragen 9 bis 12 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam be- antwortet. Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/2393 13. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Auflegung eines Veranstaltungstickets durch die Deutsche Bahn AG, mit der Teilnehmende des Marsches vergünstigt anreisen können (www.marsch-fuer-das-leben.de/bahn.php)? Der Bundesregierung liegen keine Kenntnisse über das Veranstaltungsticket vor. 14. Wie viele dieser Veranstaltungstickets wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten Jahren von der Deutschen Bahn AG für den „Marsch für das Leben“ veräußert (bitte nach Anzahl und Jahr sowie Höhe der Einsparungen aufschlüsseln)? 15. Existieren nach Kenntnis der Bundesregierung Veranstaltungstickets für Großereignisse, die die sexuelle Vielfalt und die Stärkung sexueller und reproduktiver Rechte vertreten, zum Beispiel für den Berliner Christopher Street Day? Wenn nein, warum nicht? Die Fragen 14 und 15 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Hierzu liegen der Bundesregierung keine Kenntnisse vor. 16. Welche der auf der Homepage der Veranstaltung genannten Unterstützenden (www.marsch-fuer-das-leben.de/unterstuetzer.php) werden direkt oder nach Kenntnis der Bunderegierung indirekt durch Finanzmittel des Bundes unterstützt? Von den auf der Homepage der Veranstaltung aufgeführten Trägern wird die Junge Union Deutschlands mit Bundesmitteln gefördert. Die Förderung erfolgt gemäß § 83 Absatz 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch und ist für die überregionale Tätigkeit der Jugendorganisationen der politischen Parteien auf dem Gebiet der eigenständigen Jugendarbeit in der freien Kinder- und Jugendhilfe bestimmt. Außerdem erhält der Verein „Kooperative Arbeit Leben ehrfürchtig bewahren“ (KALEB e. V.) für die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes im Rahmen der Beschäftigungsphase des Modellprojektes „Bürgerarbeit“ eine Zuwendung im Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis 30. November 2014. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333