Deutscher Bundestag Drucksache 18/249 18. Wahlperiode 07.01.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/156 – Gefahr von rechtswidrigen Inhaftierungen in Abschiebungshaft Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Abschiebungshaft stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsrechte der Person dar, insbesondere weil die Betroffenen nicht etwa wegen eines Verbrechens inhaftiert werden, sondern allein zur Erleichterung der Durchsetzung einer Verwaltungsentscheidung (Ausreisepflicht). Es geht also regelmäßig um Menschen, die niemals zuvor mit dem Gesetz in Konflikt standen und die den Freiheitsentzug als einen drastischen Einschnitt in ihr bisheriges Leben empfinden . Sie können zumeist nicht verstehen, weshalb sie überhaupt inhaftiert werden . Umso schwerwiegender ist es, wenn in Deutschland viele Menschen zu Unrecht in Abschiebungshaft genommen werden. Zum einen gibt es sehr häufig Fehler bei Haftanträgen und Gerichtsentscheidungen der ersten Instanz, zum anderen sind Inhaftierungen in normalen Haftanstalten mit EU-Recht unvereinbar – so ist jedenfalls der Tenor vieler aktueller Gerichtsentscheidungen (z. B. der Beschluss des Landgerichts München II vom 16. Oktober 2013, 6 T 4334/13). Insgesamt könnte sich die Mehrheit aller derzeitigen Abschiebungsinhaftierungen als rechtswidrig erweisen, was nach Ansicht der Fragesteller für einen höchst fahrlässigen Umgang mit den Freiheitsrechten nichtdeutscher Staatsangehöriger spricht. Der in Hannover ansässige Rechtsanwalt Peter Fahlbusch bearbeitet seit Jahren bundesweit Abschiebungshaftverfahren. Die Ergebnisse der von ihm betriebenen Verfahren wertet er kontinuierlich statistisch aus, um die Fehleranfälligkeit des Abschiebungshaftverfahrens dokumentieren zu können. Zum Stand 29. November 2013 hatte er seit dem Jahr 2002 bundesweit 868 Mandantinnen und Mandanten in Abschiebungshaftverfahren vertreten. Nach den ihm vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen befanden sich davon 421, das heißt knapp die Hälfte, (jedenfalls teilweise) zu Unrecht in Haft. Angefallen sind bei diesen 421 Menschen 11 860 rechtswidrige Hafttage; im Durchschnitt befanden sich die Betroffenen damit gut 28 Tage zu Unrecht in Haft. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch bezeichnet diese Bilanz als ein „rechtsstaatliches Desaster“. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 20. Dezember 2013 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) überprüft derzeit auf Vorlage des Bundesregierungshofs (BGH), ob die Unterbringung von Abschiebungshäftlingen in regulären Strafvollzugsanstalten, wie sie in den meisten Bundesländern prakti- Drucksache 18/249 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode ziert wird, gegen Artikel 16 Absatz 1 Satz 1 der EU-Rückführungsrichtlinie verstößt (Beschluss vom 11. Juli 2013, V ZB 40/11, Rn. 15). Der BGH hat in seiner Vorlageentscheidung erklärt: „Der vorlegende Senat neigt mit Blick auf den Wortlaut der Richtlinie dazu, dass auf die Mitgliedstaaten und nicht auf föderale Untergliederungen abzustellen ist.“ Damit dürfte nach Auffassung des höchsten zuständigen deutschen Fachgerichts die Abschiebungshaft in regulären Hafteinrichtungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit grundsätzlich rechtswidrig sein. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie war die Bundesregierung darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Vorschrift des § 62a Absatz 1 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) den EU-Vorgaben nicht entspricht, wonach die grundsätzliche Unterbringung von Abschiebungshäftlingen in speziellen Einrichtungen nur dann nicht obligatorisch ist, wenn es in einem Mitgliedstaat keine entsprechenden Einrichtungen gibt (vergleiche hierzu die Vorbemerkung der Fragesteller auf Bundestagsdrucksache 17/10597 und dort die Antworten der Bundesregierung zu den Fragen 3 und 5 bis 10). Die Bundesregierung erklärte in ihrer Antwort auf die Schriftliche Fragen 11 und 12 der Abgeordneten Ulla Jelpke am 1. November 2013 (Bundestagsdrucksache 18/36, S. 7 f.), man wolle erst „nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes prüfen, ob und ggf. inwieweit sich ein Änderungsbedarf im nationalen Recht ergibt. Für die Durchführung des Aufenthaltsrechts einschließlich der Abschiebungshaft sind im Übrigen die Länder zuständig.“ Diese Auskunft wirkt auf die Fragesteller befremdlich angesichts der vielfach gerichtlich festgestellten rechtswidrigen Inhaftierungen und weil es die Bundesregierung war, die mit dem genannten Gesetzgebungsverfahren den Bundesländern die Möglichkeit zur Inhaftierung in regulären Haftanstalten eingeräumt hat, obwohl sie wusste, dass dies gegen EU-Recht verstößt bzw. verstoßen könnte. Inzwischen hat das Bundesland Bayern auf die Rechtsprechung reagiert und angekündigt, „bis auf weiteres“ bzw. bis zu einer Entscheidung des EuGH Abschiebungshäftlinge nur noch in der generalsanierten Justizvollzugsanstalt Mühldorf am Inn und getrennt von anderen Strafgefangenen unterzubringen und deren 82 Haftplätze für diesen Zweck noch einmal umzubauen (kna, Meldung vom 18. November 2013). Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst weist in einer Pressemitteilung vom 17. Oktober 2013 darauf hin, dass nach seiner Einschätzung 60 bis 80 Prozent aller von Abschiebungshaft Betroffenen Asylsuchende seien, bei denen die Zuständigkeit innerhalb des EU-Dublin-Systems noch nicht geklärt sei: „Diese Menschen suchen Schutz in Europa, und wir sperren sie ein“, kritisiert der Jurist des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, Heiko Habbe. Zu Unrecht von Abschiebungshaft betroffen sind auch Menschen, die eine zeitlich unbefristete Wiedereinreisesperre aufgrund einer Ausweisung oder Abschiebung erhielten und nach einer Wiedereinreise inhaftiert wurden. Denn der EuGH hat in der Sache Filev/Osmani mit Urteil vom 19. September 2013 klargestellt , dass die mit einer Ausweisung bzw. Abschiebung einhergehende Wiedereinreisesperre von Amts wegen auf höchstens fünf Jahre befristet werden muss und diese Befristung prinzipiell auch rückwirkend gilt. Das AufenthG sieht in § 11 Absatz 1 Satz 3 jedoch weiterhin vor, dass eine Befristung nur auf Antrag erfolgen muss. Strafverfahren und Verurteilungen wegen illegaler Einreise sind nach dem EuGH-Urteil rechtswidrig, wenn gegen unbefristete Wiedereinreisesperren verstoßen wurde, der Fünfjahreszeitraum jedoch bereits abgelaufen war. Soweit zur umfassenden Beantwortung der nachfolgenden Fragen eine Abfrage unter den Bundesländern erforderlich ist, räumen die Fragesteller der Bundesregierung hierfür vorsorglich eine längere Beantwortungsfrist ein. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/249 1. Welche Statistiken oder Informationen zur Inhaftierung im Rahmen der Abschiebungshaft haben die Bundesländer, und welche Kernaussagen (Zahl, Dauer, Grund der Abschiebungshaft, Herkunfts- und Zielländer, veranlassende Behörde, Anteil von „Dublin-Fällen“ usw.) lassen sich hieraus ableiten (bitte differenziert für die Jahre 2010 bis 2013 und nach Bundesländern getrennt darstellen)? Auf die Antwort der Bundesregierung auf die Großen Anfragen auf Bundestagsdrucksachen 17/10596 und 17/10597 vom 5. September 2012 zu dieser Thematik wird verwiesen. Darüber hinaus liegen der Bundesregierung keine weiteren Erkenntnisse vor. 2. Welche Statistiken oder Informationen hat die Bundespolizei über von ihr beantragte Abschiebungshaft und über die bei ihr geführten Abschiebungsbzw . Zurückschiebungshaftverfahren und Gerichtsentscheidungen, und wie lauten diese im Detail (bitte entsprechend den in Frage 1 genannten Kriterien, differenziert für die Jahre 2010 bis 2013 und soweit möglich, getrennt nach Bundesländern darstellen)? Falls es keine solchen Statistiken gibt, wie wird dies angesichts des schwerwiegenden Eingriffs in die Freiheitsrechte der Person begründet? Die Bundespolizei führt keine Statistiken zu beantragter Abschiebungshaft, Abschiebungs - und Zurückschiebungsverfahren sowie Gerichtsentscheidungen, da diese für die Aufgabenerfüllung der Bundespolizei nicht erforderlich sind. 3. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der in der Vorbemerkung der Fragesteller dargestellten Statistik des Rechtsanwalts Peter Fahlbusch, der gegenüber den Fragestellern betont hat, Mandate für Abschiebungshäftlinge unabhängig von etwaigen Erfolgsaussichten oder entsprechenden Vorprüfungen zu übernehmen und der aufgrund der Entscheidungen in den vielen von ihm persönlich betreuten Gerichtsverfahren zu dem Ergebnis kommt, dass fast die Hälfte aller von ihm vertretenen Menschen (zumindest teilweise) zu Unrecht in Abschiebungshaft saßen, und inwieweit teilt sie seine Wertung, dass dies ein „rechtsstaatliches Desaster“ sei (bitte ausführen)? 4. Welche gesetzgeberischen oder untergesetzlichen Maßnahmen sind vorstellbar oder von der Bundesregierung geplant, um den hohen Anteil rechtswidriger Abschiebungshaft absenken zu können, und inwieweit plant die Bundesregierung insbesondere eine Angleichung der gesetzlichen Vorschriften zur Abschiebungshaft an die Vorgaben der nationalen und europäischen Rechtsprechung (bitte ausführen)? Die Fragen 3 und 4 werden wegen ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet . Die Bundesregierung widerspricht der Unterstellung der Fragesteller, auch in der Vorbemerkung, dass die Abschiebungshaft in Deutschland regelmäßig rechtswidrig verhängt werde. Die Aussagefähigkeit einer nicht repräsentativen Einzelwahrnehmung möchte die Bundesregierung dabei nicht bewerten. Abschiebungshaft bedarf in Deutschland jedenfalls einer richterlichen Anordnung, die nur bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen erfolgt; die Anordnung ist auch gerichtlich überprüfbar. Drucksache 18/249 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 5. Welche Auswirkungen und Änderungen erwartet die Bundesregierung infolge des Inkrafttretens der diesbezüglichen Regelungen zur (Un-)Zulässigkeit von Inhaftierungen entsprechend der neuen Dublin-III-Verordnung, und was unternimmt sie zur Umsetzung dieser Regelungen (bitte genau erläutern )? Die neugefasste Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 enthält erstmals Regelungen zur Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung (Artikel 28 und 2 Buchstabe n). Damit wird die Beantragung und Anordnung von Haft im Zusammenhang mit dem sog. DublinVerfahren unter den dort genannten Voraussetzungen auch weiterhin möglich sein. Die Bundesregierung prüft derzeit den Umsetzungsbedarf zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und den jeweiligen Regelungen der einzelnen Rechtsakte. Ungeachtet dessen ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 mit 1. Januar 2014 unmittelbar anwendbar. 6. Welche Gerichtsentscheidungen sind der Bundesregierung bekannt, mit denen die Entlassung von Abschiebungsinhaftierten wegen der möglichen oder festgestellten EU-Rechtswidrigkeit einer Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten angeordnet wurde (bitte mit Tenor auflisten)? Infolge des Vorlagebeschlusses des Bundesgerichtshofs (BGH) an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom 11. Juli 2013 (AZ: V ZB 40/11) haben verschiedene Gerichte die Aussetzung von Abschiebungshaft beschlossen, sofern diese nicht in speziellen Hafteinrichtungen vollzogen wurde. Eine Sammlung von Gerichtsentscheidungen zur selben Rechtsfrage hält die Bundesregierung nicht für erforderlich. 7. Warum will die Bundesregierung laut ihrer Antwort vom 1. November 2013 auf die Schriftliche Frage 11 der Abgeordneten Ulla Jelpke (siehe Vorbemerkung der Fragesteller) mit Initiativen zur Beendigung von mit überwiegender Wahrscheinlichkeit rechtswidrigen Abschiebungsinhaftierungen in regulären Haftanstalten auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs warten, und inwieweit stellt die Bundesregierung in ihre diesbezüglichen Überlegungen den überragenden Wert der Freiheit der Person ein (bitte erläutern)? Sofern deutsche Gerichte im Rahmen von einstweiligen Entscheidungen Abschiebungshaft unter dem Aspekt einer möglichen Europarechtswidrigkeit ausgesetzt haben, sind diese Entscheidungen vorübergehender Natur. Nur der EuGH selbst hat das Auslegungsmonopol in Bezug auf europarechtliche Normen. Bis zu einer Klärung durch den EuGH gibt es keine Notwendigkeit, gesetzgeberisch tätig zu werden. Der „überragende Wert der Freiheit“ wird im Übrigen von der Bundesregierung stets in ihre Überlegungen einbezogen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass sowohl die getrennte Unterbringung in normalen Justizvollzugsanstalten als auch die separate Unterbringung in speziellen Abschiebungshafteinrichtungen eine Freiheitsentziehung darstellen und sich an diesem Umstand durch die Art der Unterbringung zunächst nichts ändert. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/249 8. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Vorschlag des Berliner Innensenators Frank Henkel (vergleiche DER TAGESSPIEGEL vom 26. November 2013, „Berlin will Kooperation mit anderen Ländern“), länderübergreifende spezielle Abschiebungseinrichtungen vorzusehen, um diese besser auslasten zu können, und inwieweit würde das dem Anliegen einer verbesserten Unterbringung von Abschiebungshäftlingen gegenüber gewöhnlichen Strafgefangenen zuwiderlaufen , da bislang beispielsweise das Bundesland Bayern den Abschiebungshaftvollzug in regulären Hafteinrichtungen mit Vorteilen für Abschiebehäftlinge gerechtfertigt hat, weil diese wie andere Gefangene auf vorhandene Ärzte, Seelsorger und Psychologen zurückgreifen und auch relativ nahe zu ihrem letzten Aufenthaltsort untergebracht werden könnten, was den Besuch Angehöriger erleichtere (vergleiche z. B. Ausschussdrucksache 17(4)282 B, S. 6 und Anhörungsprotokoll 17/45, S. 22 f. und 29 f.)? Wie die Fragesteller zutreffend zitieren, ist die Unterbringung in einer gewöhnlichen Justizvollzugsanstalt nicht per se nachteilig für den Betroffenen. Die Bundesregierung wird die Entwicklung, dass eine Flexibilität bei der Unterbringung von verschiedenen Seiten in Frage gestellt wird, beobachten. 9. Welche Pläne und Initiativen weiterer Bundesländer gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung, um das Prinzip einer Unterbringung von Abschiebungshäftlingen nur noch in speziellen Einrichtungen in welchen Zeiträumen umzusetzen (bitte nach Bundesländern getrennt darstellen)? Der Bundesregierung sind bislang nur Überlegungen verschiedener Bundesländer bekannt. Kenntnisse zu konkreten Plänen oder Initiativen hat die Bundesregierung nicht. 10. Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung bzw. die Bundespolizei bzw. haben nach Kenntnis der Bundesregierung die Bundesländer (bitte differenziert beantworten) bislang aus dem Filev/Osmani-Urteil des EuGH vom 19. September 2013 gezogen bzw. welche sind geplant? Für den Vollzug des Aufenthaltsgesetzes und mithin auch für die Umsetzung der EuGH-Entscheidung „Filev + Osmani“ sind originär die Länder zuständig. Die Bundesregierung beabsichtigt, zur Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung „Filev + Osmani“ mit den Bundesländern und der Bundespolizei eine gemeinsame Vorgehensweise abzustimmen. Das Verfahren der Bereinigung der noch bestehenden unbefristeten Einreiseverbote wird als gesamtstaatliche Aufgabe betrieben und derzeit gemeinsam mit den Ländern erarbeitet. a) Was wurde oder wird unternommen, um die Verpflichtung zur zeitlichen Befristung von Wiedereinreiseverboten infolge von Ausweisungen oder Abschiebungen (bitte gegebenenfalls, auch im Folgenden, differenzieren , soweit die Bundesregierung diesbezüglich Unterschiede sieht) von Amts wegen umzusetzen? Die Pflicht zur Befristung von Amts wegen wurde bereits durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) determiniert. Die Bundesregierung plant insoweit eine Anpassung von § 11 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Ungeachtet dessen sind die Länder aufgrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung verpflichtet, stets von Amts wegen eine Befristungsentscheidung zu treffen. Drucksache 18/249 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode b) Was wurde oder wird unternommen, um bestehende unbefristete Wiedereinreiseverbotsvermerke im Ausländerzentralregister (AZR) zu löschen bzw. unwirksam werden zu lassen, und in welchem Umfang ist dies bereits geschehen oder soll dies erfolgen (quantitativ, Fallgruppen, Herkunftsländer, unter welchen Bedingungen bitte angeben)? Das entsprechende Bereinigungsverfahren wird gerade erarbeitet, siehe Antwort zu Frage 10. c) Was wurde oder wird unternommen, um eine schnelle Umsetzung und Berücksichtigung der Urteilsvorgaben in der Praxis zu gewährleisten, z. B. bei Grenzkontrollen und/oder zur Vermeidung unrechtmäßiger Inhaftierungen bzw. unrechtmäßiger Strafverfahren bzw. Verurteilungen? Da die Bereinigung der bestehenden unbefristeten Einreiseverbote als gesamtstaatliche Aufgabe verstanden wird, sind auch die Grenzbehörden in die Erarbeitung des Verfahrens eingebunden. 11. Wie viele Ermittlungen bzw. Verurteilungen wegen unerlaubter Einreise bzw. unerlaubtem Aufenthalt nach § 95 Absatz 2 Nummer 1 Buchstabe a bzw. Buchstabe b AufenthG (bitte differenzieren) gab es nach Kenntnis der Bundesregierung vom Jahr 2010 bis heute (bitte nach Jahren differenziert darstellen und jeweils die wichtigsten Staatsangehörigkeiten angeben ), wie viele dieser Ermittlungen oder Verurteilungen sind nach Erkenntnissen oder Einschätzungen der Bundesregierung nach den Maßgaben des Filev/Osmani-Urteils des EuGH unter Verstoß gegen EU-Recht erfolgt, und was wird die Bundesregierung bzw. werden die Bundesländer in die Wege leiten, um solche unrechtmäßigen Verurteilungen wieder aufheben zu lassen? In den Jahren 2010 bis 2012 wurde die nachfolgende Anzahl an Tatverdächtigen wegen unerlaubter Wiedereinreise nach Ausweisung/Abschiebung gemäß § 95 Absatz 2 Nummer 1a AufenthG (PKS-Schlüssel 725100) in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst: In den Jahren 2010 bis 2012 wurde die nachfolgende Anzahl an Tatverdächtigen wegen Unerlaubten Aufenthalts nach Ausweisung/Abschiebung gemäß § 95 Absatz 2 Nummer 1b AufenthG (PKS-Schlüssel 725720) in der PKS erfasst: Die vom Statistischen Bundesamt jährlich herausgegebene Statistik zur Strafverfolgung weist für die Jahre 2010 und 2011 für § 95 Absatz 2 Nummer 1 Buchstabe a und Nummer 1 Buchstabe b AufenthG die Verurteilten nach dem Alter und der Entscheidung aus. Eine Differenzierung nach Nationalität erfolgt nicht. Nach dieser Statistik wurden 2010/2011 insgesamt 1 248/1 268 Personen nach Insg. Nichtdt. TV Bosn.-Herzg. Kosovo Mazedonien Serbien Türkei 2010 2 552 2 529 147 174 316 504 206 2011 2 682 2 666 108 130 232 530 244 2012 3 030 3 004 135 158 320 675 242 Insg. Nichtdt. TV Bosn.-Herzg. Kosovo Mazedonien Serbien Türkei 2010 1 737 1 700 44 80 128 232 204 2011 1 891 1 875 81 78 131 273 193 2012 1 896 1 873 69 94 135 279 161 § 95 Absatz 2 Nummer 1 Buchstabe a AufenthG abgeurteilt und 1 158/1 155 Personen verurteilt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/249 Eine Aburteilung nach § 95 Absatz 2 Nummer 1 Buchstabe b AufenthG erfolgte 2010/2011 bei 97/120 Personen, von denen 84/110 verurteilt wurden. Abgeurteilte im Sinne der Strafverfolgungsstatistik sind Angeklagte, gegen die Strafbefehle erlassen wurden bzw. Strafverfahren nach Eröffnung des Hauptverfahrens durch Urteil oder Einstellungsbeschluss rechtskräftig abgeschlossen worden sind. Ihre Zahl setzt sich zusammen aus den Verurteilten und aus Personen , gegen die andere Entscheidungen (u. a. Freispruch) getroffen wurden. Zu beachten ist insbesondere, dass bei der Aburteilung von Angeklagten, die in Tateinheit (§ 52 des Strafgesetzbuches – StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) mehrere Strafvorschriften verletzt haben, nur der Straftatbestand statistisch erfasst wird, der nach dem Gesetz mit der schwersten Strafe bedroht ist. Soweit daher bei einer Aburteilung wegen einer Straftat nach § 95 AufenthG zugleich eine schwerer wiegende Straftat abgeurteilt wurde, wird diese Entscheidung nur bei dem schwereren Delikt erfasst. Zu den Jahren 2012 und 2013 liegen noch keine entsprechenden statistischen Daten vor. Da aus den vorhandenen statistischen Daten die zugrunde liegenden Sachverhalte nicht hervorgehen, hat die Bundesregierung weder Erkenntnisse noch eine Grundlage für eine Einschätzung dazu, wie diese Fälle im Lichte der „Filev + Osmani“-Entscheidung zu beurteilen wären. 12. Wie viele unbefristete Ausweisungen bzw. Wiedereinreisesperren gelten derzeit nach Angaben des AZR oder anderer Quellen (bitte getrennt darstellen nach Jahren, in denen diese ausgesprochen wurden, sowie nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern)? Zum Stichtag 31. Oktober 2013 waren im AZR 495 248 nicht in Deutschland lebende Ausländer mit einem unbefristeten Einreiseverbot erfasst. Angaben zum Jahr der letzten diesbezüglichen Entscheidung sowie zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern können den nachfolgenden Tabellen entnommen werden. Nicht in Deutschland lebende Ausländer mit unbefristetem Einreiseverbot Entscheidung Ausländer vor 1980 64 875 1980–1989 53 337 1990–1999 153 302 2000 26 369 2001 22 762 2002 21 812 2003 19 997 2004 19 847 2005 18 041 2006 14 278 2007 11 388 2008 11 771 2009 13 429 Drucksache 18/249 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode a) Wie viele dieser Entscheidungen basieren auf einer „besonderen Gefährlichkeit “ im Sinne des Filev/Osmani-Urteils (bitte gegebenenfalls Schätzungen abgeben)? Angaben im Sinne der Frage werden im AZR nicht erfasst. Schätzungen hierzu sind mangels Datengrundlage nicht möglich. b) Wie viele dieser Entscheidungen müssen nach Erkenntnissen oder Einschätzungen der Bundesregierung bzw. der Bundesländer zeitlich befristet werden, und was wird diesbezüglich unternommen? Die Bundesregierung verweist auf die Antwort zu Frage 10. Das Bereinigungsverfahren wird derzeit noch erarbeitet. Quantitative Angaben können mangels einheitlicher Datengrundlage nicht gemacht werden. c) Inwieweit wird die Bundesregierung bzw. werden nach Kenntnis der Bundesregierung die Bundesländer von EU-rechtswidrigen unbefristeten Ausweisungen bzw. Wiedereinreisesperren Betroffene kontaktieren und darüber unterrichten, dass diese unbefristeten Ausweisungen bzw. Einreisesperren von Amts wegen befristet werden bzw. nicht mehr gültig sind (bitte nach Aufenthalt der Betroffenen im In- bzw. Ausland differenzieren)? Eine Kontaktierung und Unterrichtung der Betroffenen ist schon mangels Kontaktdaten nicht geplant. Die EuGH-Entscheidung „Filev + Osmani“ ist aber ver- Nicht in Deutschland lebende Ausländer mit unbefristetem Einreiseverbot 2010 12 488 2011 11 127 2012 10 618 2013 9 807 Gesamt 495 248 Nicht in Deutschland lebende Ausländer mit unbefristetem Einreiseverbot 495 248 darunter nach Staatsangehörigkeiten Türkei 86 028 Jugoslawien (ehemals) 64 108 Ukraine 21 752 Vietnam 15 958 Russische Föderation 15 527 Indien 14 757 Algerien 12 309 Marokko 11 496 Pakistan 10 378 Ghana 10 348 öffentlicht und kann von allen Interessierten zur Kenntnis genommen werden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9 – Drucksache 18/249 13. Inwieweit teilt bzw. mit welcher Begründung verneint die Bundesregierung die in der Rechtsprechung vertretene Auffassung, wonach eine Befristung des Einreiseverbots spätestens (rechtzeitig) vor einer Abschiebung erfolgen muss (vergleiche z. B. die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Juni 2013, A 11 S 1158/ 13, Rn. 7), so dass die Sätze 3 und 5 des § 11 Absatz 3 AufenthG unionsrechtswidrig sind und Abschiebungen, die nicht mit einer Befristung der Sperrwirkung einhergingen (worauf ja auch der Wortlaut der Regelung in Artikel 11 Absatz 1 der Rückführungsrichtlinie hinweist, wo von einem „Einhergehen“ eines Einreiseverbots mit der „Rückkehrentscheidung“ die Rede ist), keine Sperrwirkung auslösen, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung hieraus (bitte ausführlich begründet antworten)? Es ist aus Sicht der Bundesregierung zutreffend, dass auch die Wirkungen nach § 11 AufenthG, die infolge einer Abschiebung entstehen, in der Regel auf nicht länger als 5 Jahre zu befristen sind. Erwägenswert sind aus Sicht der Bundesregierung Überlegungen, bei der Androhung der Abschiebung den Eintritt des Einreiseverbots mitzuteilen für den Fall, dass die Abschiebung auch durchgeführt wird. 14. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Umstand, dass infolge der nicht fristgerechten Umsetzung der EU-Rückführungsrichtlinie durch die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinie auch auf viele in der Vergangenheit liegende Ausweisungen bzw. Abschiebungen infolge strafrechtlicher Sanktionen anzuwenden ist (vergleiche Filev/Osmani-Urteil, Rn. 53 ff.; bitte ausführen)? Die Bundesregierung hat die Ausführungen des EuGH im Urteil „Filev + Osmani“ zu den nunmehr erweiterten Konsequenzen einer verspäteten Richtlinienumsetzung zur Kenntnis genommen, und wird dies für die Zukunft berücksichtigen. 15. Wie ist mit zeitlich unbefristeten Wiedereinreiseverboten in Bezug auf kroatische Staatsangehörige nach dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union verfahren worden (rechtlich und technisch, das heißt in Bezug auf das AZR)? Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Registerbehörde des AZR hat im Juni 2013 ein Hinweisschreiben an die Ministerien und Senatsverwaltungen des Inneren der Länder zum EU-Beitritt von Kroatien übersandt. Das Schreiben enthielt entsprechende AZR-Daten zu den im Sinne der Frage betroffenen kroatischen Staatsangehörigen. Die Länder wurden gebeten, die Ausländerbehörden in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereichen in geeigneter Weise zu veranlassen , die Sachverhalte mit Sperrwirkung zu Ausweisungen und/oder Abschiebungen sowie Zurückschiebungen nach dem 1. Januar 2005 zu prüfen und nach Prüfung erforderlichenfalls zu löschen bzw. auf den 30.Juni 2013 zu befristen. Sachverhalte ohne Sperrwirkung wurden im AZR automatisiert gelöscht. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333