Deutscher Bundestag Drucksache 18/260 18. Wahlperiode 08.01.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kathrin Vogler, Sabine Zimmermann (Zwickau), Harald Weinberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/230 – Preispolitik bei dem Arzneimittel Lemtrada® und mögliche Gesetzeslücke Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Mit dem Präparat MabCampath® (Wirkstoff Alemtuzumab) wurde ein wirksames und für einen bestimmten Kreis von Patientinnen und Patienten wichtiges Leukämiemittel durch den Hersteller vom deutschen Markt genommen. Hintergrund dafür war, dass der Wirkstoff auch gegen Multiple Sklerose (MS) wirkt, der einen ungleich größeren Patientenkreis mit einer längeren Lebenserwartung erschließt. Alemtuzumab wurde unverändert unter dem Handelsnamen Lemtrada® wieder auf den Markt gebracht (zum Vorgang und zur Bewertung der Bundesregierung siehe die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Beeinträchtigung der Arzneimitteltherapie durch wirtschaftliche Interessen der Pharmaindustrie“, Bundestagdrucksache 17/11080 vom 18. Oktober 2012). Im September 2013 hat Lemtrada® die Zulassung in der Europäischen Union erhalten und der Preis des neuen Arzneimittels mit altem Wirkstoff ist bekannt geworden. In dem neuen Präparat soll der alte Wirkstoff rund 40-mal teurer angeboten werden: Statt vorher 21 Euro pro Milligramm soll der Konzern Sanofi jetzt 887 Euro aufrufen. Im Politmagazin „Kontraste“ vom 12. Dezember 2013 haben Lisa Wandt und Ursel Sieber einen neuen Sachstand beschrieben (www.rbb-online.de/kontraste/archiv/kontraste-vom-12-12-2013/auf-kosten-derbeitragszahler -rekordpreise-fuer-arzneimittel-.html). In der Sendung wurde festgestellt, dass sich das neue Mittel dem seit 2011 vorgeschriebenen Procedere für neue Arzneimittel gemäß dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) nicht unterziehen muss. Das würde bedeuten, dass es für Lemtrada® keine Nutzenbewertung und keine Preisverhandlungen mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) geben wird. Das hätte zur Folge, dass der jetzt vom Hersteller frei wählbare Preis bestehen bliebe und alle gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen gezwungen wären, diesen Preis zu bezahlen. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit vom 6. Januar 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Dr. Torsten Hoppe-Tichy, Chefapotheker des Universitätsklinikums Heidelberg , wird in dem Kontraste-Beitrag mit den Worten zitiert: „Ich finde es nicht ethisch, zu sagen, ich habe hier eine Patientengruppe, die im Moment ein Präparat bekommt, zu einem bestimmten Preis im Markt und diese Patientengruppe Drucksache 18/260 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode ist mir einfach zu klein und ich nehme deshalb dieser Patientengruppe das Medikament quasi weg und setze auf das neue Pferd und dort nehme ich dann einen viel, viel höheren Preis.“ Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig vom Helios-Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft meint in dem Beitrag: „Dieses Arzneimittel wird seit Anfang der 90er-Jahre in der Klinik erforscht . Die Entwicklungskosten für dieses Arzneimittel, auch die Kosten für die klinischen Studien, rechtfertigen diesen hohen Preis nicht. Ich glaube, es ist eindeutig natürlich das Profitstreben des pharmazeutischen Unternehmers und die Lukrativität dieses Marktes.“ Die Autorinnen des Beitrags selbst sprechen von maßloser Gier. Der SPD-Gesundheitspolitiker und Abgeordnete Dr. Karl Lauterbach verspricht in dem Beitrag eine Gesetzesänderung: „Wenn wir diese Lücke nicht schließen, würden auch andere Unternehmen das für andere Wirkstoffe machen, das ist abzusehen , da sind schon jetzt Wirkstoffe im Gespräch, wo man das machen könnte. Das setzt vollkommen falsche Anreize und lenkt die Forschung in das Recyclen von alten Produkten, die dann teurer neu auf den Markt kommen, und das wollen wir nicht.“ Vo r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g Der Bundesregierung ist der Sachverhalt zu Mab-Campath® und Lemtrada® bekannt . Es handelt sich bei der beim Arzneimittel Lemtrada® zugrundeliegenden Konstellation um einen seltenen Einzelfall. Grundsätzlich ist die Forschung an bereits bekannten Wirkstoffen und auch die Erschließung neuer Anwendungsgebiete für bekannte Wirkstoffe zugunsten der Patientinnen und Patienten zu begrüßen . Die Bundesregierung wird die Entwicklung auch vor dem Hintergrund dieses Falles jedoch weiterhin intensiv beobachten. 1. Kann die Bundesregierung die in dem Kontraste-Beitrag genannten relativen Preise bei MabCampath® und Lemtrada® bestätigen? Ja. 2. Ist es richtig, dass sich Lemtrada® keiner Nutzenbewertung nach § 35a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) unterziehen muss, und dass demzufolge auch keine Preisverhandlungen mit dem GKV-Spitzenverband stattfinden werden? Falls ja, aufgrund welcher Regelung entfällt die Nutzenbewertung bei Lemtrada ®? Ja. Die Nutzenbewertung nach § 35a des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) beschränkt sich auf Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen (§ 35a Absatz 1 SGB V). Ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff gilt solange als ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff, wie für das erstmalig zugelassene Arzneimittel mit dem Wirkstoff Unterlagenschutz besteht (§ 2 Absatz 1 Satz 2 der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung). Der Unterlagenschutz regelt den Schutz der Zulassungsunterlagen des Vorantragsstellers vor der Nutzung durch Dritte in Zulassungsverfahren. Nach § 24b Absatz 1 des Arzneimittelgesetzes (AMG) gilt für Zulassungsunterlagen der Vorantragsteller grundsätzlich ein Unterlagenschutz von zehn Jahren ab Erteilung der Zulassung. Die Zulassung von Mab-Campath® durch die Europäische Kommission erfolgte im Juli 2001, liegt also mehr als zehn Jahre zurück; ein Unterlagenschutz liegt nicht vor. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/260 3. Bleibt die Bundesregierung bei ihrer in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 17/11080) geäußerten Einschätzung, dass sich die in der Bundesrepublik Deutschland vorhandenen Regelungen zur Arzneimittelversorgung bewährt hätten, oder sieht sie wie der Abgeordnete Dr. Karl Lauterbach gesetzlichen Änderungsbedarf vor dem Hintergrund der neuen Medienberichte? Grundsätzlich haben sich die in der Bundesrepublik Deutschland vorhandenen Regelungen zur Arzneimittelversorgung bewährt. Sie gewährleisten eine zuverlässige medizinische Versorgung der Bevölkerung mit sicheren und wirksamen Arzneimitteln. Die Bundesregierung sieht das Zusammenspiel von Nutzenbewertung und anschließenden Preisverhandlungen als lernendes System, das bei Bedarf weiterentwickelt werden kann. 4. Sieht die Bundesregierung im praktischen Umgang (siehe Bundestagsdrucksache 17/11080) mit dem hochpreisigen Medikament Lucentis® im rechtlichen Graubereich eine Erosion des geltenden Arzneimittelrechts? Nein. Ergänzend wird auf die Vorbemerkung und Antwort der Bundesregierung, insbesondere die Antworten zu den Fragen 1 bis 4, 13, 18 auf Bundestagsdrucksache 17/11080 verwiesen. 5. Stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass eine angemessene gesetzliche Regelung infolge des Avastin®/Lucentis®-Falls den aktuellen Vorgang bei MabCampath®/Lemtrada® hätte verhindern können? Falls ja, wie hätte eine solche Regelung aussehen können? Nein. Die Fertigarzneimittel Avastin® und Lucentis® enthalten jeweils unterschiedliche Wirkstoffe. MabCampath® und Lemtrada® dagegen enthalten denselben Wirkstoff. Insofern sind die Sachverhalte nicht vergleichbar. 6. Inwiefern hält es die Bundesregierung für rechtlich möglich, die Kosten für Forschung und Entwicklung in die Gestaltung der (Erstattungs-)Preise für nicht festbetragsfähige Arzneimittel einzubeziehen? Die Einbeziehung von Kosten für Forschung und Entwicklung ist mit Schwierigkeiten verbunden. Insbesondere ist nicht ausgeschlossen, dass für die Erforschung und Entwicklung eines neuen Arzneimittels zwar hohe Kosten aufgewendet wurden, dass dieses Arzneimittel aber dennoch keinen oder nur einen geringen Zusatznutzen aufweist. Insofern lässt die Höhe von Forschungs- und Entwicklungskosten keine Aussage über den Zusatznutzen eines Arzneimittels zu; dieser ist aber für die Versorgung der Patientinnen und Patienten maßgeblich. Darüber hinaus ist es schwierig, die Kosten für Forschung und Entwicklung bezogen auf ein einzelnes Arzneimittel sachgerecht zu ermitteln. 7. Inwiefern hat die Pharmaindustrie nach Ansicht der Bundesregierung eine Aufgabe im Gemeinwohlinteresse? Die hohe Qualität der Gesundheitsversorgung in Deutschland ist Ergebnis der freiheitlichen, pluralistischen und wettbewerblichen Ausrichtung des deutschen Gesundheitswesens. Eine solidarische Rahmenordnung stellt hierbei auch im Hinblick auf die Arzneimittelversorgung sicher, dass alle Patientinnen und Patienten unabhängig von Einkommen, Alter oder gesundheitlichem Risiko eine qualitativ hochwertige und wohnortnahe medizinische Versorgung erhalten und Drucksache 18/260 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode am medizinischen Fortschritt teilhaben können. Damit wird der Wettbewerb – entsprechend den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft – in Bahnen gelenkt, die das Gemeinwohl sichern. 8. Inwiefern hält die Bundesregierung gesetzliche Regelungen für verfassungsrechtlich vertretbar, die eine wirtschaftlich motivierte Einschränkung der zugelassenen Therapieoptionen z. B. durch Marktrücknahme von Präparaten verhindern? Wie könnte eine solche Regelung aussehen? Zur Beantwortung wird auf die Vorbemerkung sowie die Antworten der Bundesregierung zu den Fragen 1, 2 und 4 auf Bundestagsdrucksache 17/11080 vom 18. Oktober 2012 verwiesen. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass für den Inhaber der Zulassung mit dem Dritten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 7. August 2013 (BGBl. I, S. 3108), die Anzeigepflichten in § 29 AMG mit dem am 28. Oktober 2013 in Kraft getretenen Absatz 1g erweitert wurden. Dieser sieht vor, dass die Gründe für das vorübergehende oder endgültige Einstellen des Inverkehrbringens, den Rückruf, den Verzicht auf die Zulassung oder die Nichtbeantragung der Verlängerung der Zulassung der zuständigen Bundesoberbehörde unverzüglich mitzuteilen sind. Die Änderung dient der Umsetzung von Artikel 123 Absatz 2, 2a und 2b der durch die Richtlinie 2012/26/EU geänderten Richtlinie 2001/83/EG. Eine freiwillige Marktrücknahme des Inhabers der Zulassung soll nicht dazu führen, dass insbesondere Bedenken in Bezug auf Nutzen oder Risiken eines Arzneimittels im Sinne der Artikel 116 und 117 Absatz 1 der Richtlinie 2001/83/EG nicht ordnungsgemäß berücksichtigt werden. 9. Hält die Bundesregierung die von dem Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach geforderte Gesetzesänderung auch rückwirkend für möglich? Die Möglichkeit eines rückwirkenden Inkrafttretens kann nur anhand eines konkreten Regelungsvorschlags geprüft werden. Grundsätzlich sind rückwirkende Gesetzesänderungen verfassungsrechtlich nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333