Deutscher Bundestag Drucksache 18/2670 18. Wahlperiode 26.09.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/2496 – Ukraine-Konflikt und die Bedrohungs- bzw. Sicherheitslage der dortigen Atomkraftwerke und Atommülllager Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r In der Ukraine sind 15 Atomkraftwerke und Forschungsreaktoren sowie Lager mit hochradioaktivem Atommüll in Betrieb. Angesichts der wachsenden militärischen Konflikte in der Ukraine stellen diese Atomanlagen ein enormes zusätzliches Risikopotential dar. Moderne panzerbrechende Waffen sind Medienberichten zufolge in der Lage, bis zu fünf Meter Beton zu durchschießen (www.tagesschau.de/wirtschaft/atomkraftwerk-ukraine-100.html). Im Rahmen des Verfahrens vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht zur Sicherheit des Castor-Lagers mit hochradioaktiven Brennelementen am Atomkraftwerk Brunsbüttel wurde durch die Expertin Oda Becker in einer gutachterlichen Stellungnahme aufgezeigt, dass diese Waffen auch (westliche) Castor-Behälter durchschlagen können (http://umweltfairaendern.de/2013/06/ atommuelllager-akw-brunsbuettel-gutachten-zeigt-massive-sicherheitsmaengel/). Demgegenüber beteuern offenbar Regierungsstellen in der Ukraine (www. tagesschau.de/wirtschaft/atomkraftwerk-ukraine-100.html), dass die dortigen Atomanlagen gegen Flugzeugabstürze und Beschuss gesichert sein sollen. Eine Bedrohung resultiert nicht nur aus einem direkten Beschuss von Atomreaktoren oder Atommüllbehältern. Auch eine Gefährdung z. B. der Stromversorgung kann – wie in Fukushima – zu katastrophalen Folgen mit massiver Freisetzung von Radioaktivität führen. Vo r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) erfüllt seinen Schutzauftrag in der Bundesrepublik Deutschland für die Sicherheit der Bevölkerung unter Achtung der alleinigen Zuständigkeit anderer Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit vom 24. September 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Staaten für Anlagen in dortiger Verantwortung. Eine offizielle Stellungnahme z. B. zur sicherheitstechnischen Bewertung von konkreten Sachverhalten und Ereignissen in Kernkraftwerken anderer Staaten oder eine Forderung nach konkreten Abhilfemaßnahmen erfolgt seitens der Bundesregierung nicht. Drucksache 18/2670 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 1. Welche Atomanlagen gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung in der Ukraine, und an welchen dieser Anlagen wird hochradioaktives Material in welchem Umfang und in welcher Weise gelagert? In der Ukraine sind gegenwärtig 15 Blöcke an vier Standorten Rowno (4 Blöcke ), Kmelnitski (2 Blöcke), Süd-Ukraine (3 Blöcke) und Saporoschje (6 Blöcke ) in Betrieb. In allen 15 Blöcken wird der abgebrannte Kernbrennstoff (hochradioaktives Material) in den Abklingbecken gelagert und gekühlt. Am Standort Saporoschje gibt es ein zentrales Trockenlager für abgebrannte Brennelemente. Abgebrannte Brennelemente gibt es auch am Standort Tschernobyl (stillgelegt). Der abgebrannte Kernbrennstoff befindet sich unter anderem im zentralen Nasslager (ISF-1), auf dem Kraftwerksgelände von Tschernobyl (u. a. im havarierten Block 4 und den Bauruinen der Blöcke 5/6) sowie im Sperrgebiet von Tschernobyl . Gemäß ukrainischem Bericht zur vierten Überprüfungstagung des „Gemeinsamen Übereinkommens über die Sicherheit der Behandlung abgebrannter Brennelemente und über die Sicherheit der Behandlung radioaktiver Abfälle“ befanden sich im Jahr 2011 an den genannten Standorten folgende Mengen hochradioaktiven Materials (abgebrannte Brennelemente): Über den aktuellen Bestand des hochradioaktiven Materials liegen der Bundesregierung keine Informationen vor. 2. Wie bewertet die Bundesregierung das Bedrohungs- und Gefährdungspotential , das von diesen Anlagen im Zusammenhang mit den militärischen Auseinandersetzungen ausgeht? Eine unmittelbare Gefährdung der ukrainischen Nuklearanlagen lässt sich derzeit nicht erkennen. 3. Hat es nach Kenntnis der Bundesregierung bereits Vorkommnisse im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen in der Ukraine gegeben, bei denen die Atomanlagen betroffen waren? Wenn ja, welche Vorkommnisse waren das im Einzelnen? Der Bundesregierung liegen keine Informationen über derartige Vorkommnisse vor. KKW in Betrieb 2 663,77 t KKW Kmelnitski: KKW Saporoschje: KKW Süd-Ukraine: KKW Rowno: 300,53 t 1 564,87 t 412,03 t 386,34 t KKW Tschernobyl: 2 396,05 t Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2670 4. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der ukrainischen Behörden, dass die Atomanlagen und Atommülllager in der Ukraine ausreichend gegen (gezielte) Flugzeugabstürze und gezielten Beschuss gesichert sind? Wenn ja, wie, und auf welcher Informationsbasis begründet die Bundesregierung diese Auffassung? Wenn nein, welche Risiken bestehen aus Sicht der Bundesregierung? Die Festlegung von Maßnahmen gegen gezielten Flugzeugabsturz und Beschuss liegt in der alleinigen Verantwortung des Staates, in dem das Kernkraftwerk liegt. Diese Maßnahmen unterliegen den Geheimschutzbestimmungen des jeweiligen Landes und sind ausländischen Stellen in der Regel nicht bekannt. Welche Maßnahmen für eine Verstärkung der Sicherheit von kerntechnischen Anlagen ggf. in Betracht zu ziehen wären, ist durch die Behörden der Ukraine zu bewerten und zu entscheiden. Eine Bewertung der getroffenen Maßnahmen durch die Bundesregierung ist daher nicht möglich. 5. Welche Sicherheitskonzepte bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung bei den Atomkraftwerken (AKWs) in der Ukraine im Falle eines Stromausfalls ? Wie wird im Krisenfall die Stromversorgung zur Kühlung der Reaktoren sichergestellt, wie viele Notstromsysteme gibt es jeweils an den AKWs, und wie lange könnte die Kühlung durch Batterien aufrechterhalten werden? Die Wasser-Wasser-Energie-Reaktor (WWER)-Anlagen der Ukraine sind so ausgelegt , dass bei einem Ausfall der externen Energieversorgung ein LangzeitNachkühlbetrieb unter Nutzung der vorhandenen Notstromdieselgeneratoren erfolgen kann. Die mögliche Dauer wird durch die vorhandenen Dieselreserven im Kraftwerk und den rechtzeitigen Nachschub aus externen Quellen begrenzt. Die Batterien dienen lediglich der Stromversorgung der Leittechnik (Überwachung und Steuerung). Sie werden im Notstromfall durch die Dieselgeneratoren wieder aufgeladen. Über Auslegungsdetails – hier zu den Dieselreserven bzw. -kapazitäten – liegen der Bundesregierung kurzfristig keine anlagenspezifischen Kenntnisse vor, da z. B. zwischenzeitlich gegenüber der Anfangsauslegung Veränderungen (Verbesserungen) vorgenommen sein könnten. 6. Welche Maßnahmen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung bislang von der Regierung der Ukraine oder von anderen Gremien ergriffen, um die Sicherheit der Atomanlagen in der Ukraine seit dem Aufbrechen der militärischen Konflikte gegen Angriffe zu verbessern? Seit dem Beginn der Krise wurden nach Kenntnis der Bundesregierung die Maßnahmen für den physischen Schutz der kerntechnischen Anlagen durch die ukrainischen Behörden erhöht. Zu Maßnahmen des physischen Schutzes ausländischer Anlagen liegen der Bundesregierung keine Detailkenntnisse vor, dies wird von allen Ländern – auch Deutschland – restriktiv gehandhabt. 7. Welche Rolle spielen nach Kenntnis der Bundesregierung die „zivilen Experten “ der NATO (www.tagesschau.de, Artikel vom 28. Mai 2014), die als Reaktion auf die Bitten des ukrainischen Parlaments um internationale Unterstützung bei der Sicherung der ukrainischen Atomkraftwerke im Frühjahr entsandt wurden, um wie viele Experten handelt es sich, aus wel- Drucksache 18/2670 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode chen Ländern stammen sie, welche Aufgaben hat die Gruppe, und welche Ergebnisse wurden erzielt? Auf Bitten der ukrainischen Behörden entsandte die NATO im April 2014 im Rahmen bestehender Kooperationen ein Team ziviler Experten zur Überprüfung der Notfallpläne für kritische Infrastruktur und Zivilschutz. Konkret wurde die Hilfestellung eines Beratungs- und Unterstützungsteams der zivilen Notfallplanung angefragt, um die ukrainischen Notfallpläne und KrisenmanagementMaßnahmen im Hinblick auf kritische Infrastruktur im Energiesektor und Zivilschutz -Risiken zu bewerten. Nach Information der Bundesregierung waren keine deutschen Experten an der Entsendung des Beratungs- und Unterstützungsteams der NATO beteiligt. 8. In welcher Weise bzw. gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung zwischen sonstigen NATO-Stellen, der Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), der Regierung der Ukraine und der russischen Regierung oder anderen internationalen Einrichtungen Gespräche oder Verabredungen mit dem Ziel, die Sicherheit der Atomanlagen zu erhöhen? Wenn es solche Gespräche gibt, welche, und wenn nicht, warum nicht? Die ukrainische Regierung hat sich kürzlich an die 28 Mitglieder der G7/G8-GPGruppe mit der Bitte um Unterstützung, unter anderem im Bereich der nuklearen Sicherheit und Sicherung, gewandt. Auch hat die ukrainische Atombehörde ihr Interesse an einer Ausweitung der Zusammenarbeit mit Deutschland zu Fragen der Anlagensicherung geäußert. Gemeinsam mit ihren Partnern und in Gesprächen mit der ukrainischen Seite wird die Bundesregierung prüfen, in welcher Form die internationale Gemeinschaft und Deutschland die Ukraine bei diesem Anliegen unterstützen können. 9. Hält es die Bundesregierung angesichts der Konflikte für sinnvoll, Atomkraftwerke in der Ukraine abzuschalten, und setzt sich die Bundesregierung in diesem Sinne gegenüber den Behörden in der Ukraine ein? Wenn ja, welche Schritte hat die Bundesregierung in diese Richtung unternommen , und mit welchem Ergebnis? Wenn nein, warum erfolgten bislang keine entsprechenden Initiativen? Ob sich aus den gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ostukraine Risiken im Hinblick auf die Sicherheit von Kernkraftwerken ergeben können und welche Maßnahmen ggf. in Betracht zu ziehen wären, ist durch die Behörden der Ukraine zu bewerten und zu entscheiden. Ob die dortigen Kernkraftwerke betrieben oder abgeschaltet werden, liegt in der souveränen Entscheidung der Ukraine. Jeder Staat trifft selbst die Entscheidung, welche Konsequenzen aus dem Restrisiko zu ziehen sind, das mit dem Betrieb von Kernkraftwerken unvermeidbar verbunden ist; Deutschland hat für sich entschieden, dieses Restrisiko nur noch für einen begrenzten Zeitraum hinzunehmen und die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung bis spätestens Ende 2022 zu beenden. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333