Deutscher Bundestag Drucksache 18/2852 18. Wahlperiode 13.10.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Matthias Gastel, Cem Özdemir, Christian Kühn (Tübingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Drucksache 18/2651 – Untersuchungsbericht zu den Zugentgleisungen im Stuttgarter Hauptbahnhof im Jahr 2012 Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Am 24. Juli 2012 sowie am 29. September 2012 kam es bei der Ausfahrt aus Gleis 10 des Stuttgarter Hauptbahnhofs zu Zugentgleisungen. Betroffen war an beiden Tagen der aus elf Reisezugwagen bestehende Intercity 2312. Bei der ersten Entgleisung wurden keine Personen verletzt, es entstand jedoch ein Sachschaden in Höhe von 370 000 Euro. Bei der zweiten Entgleisung wurden acht Personen leicht verletzt und es entstand ein Sachschaden von rund 1,7 Mio. Euro. Die beiden Entgleisungen wurden von der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes (EUB) untersucht. Zur Aufklärung der Unfallursache wurde am 9. Oktober 2012 eine Versuchsfahrt durchgeführt, die ebenfalls eine Entgleisung zur Folge hatte. Im Untersuchungsbericht der EUB (Aktenzeichen 60-60uu2012-09/00205) vom 8. April 2014 werden die Entgleisungen auf ein Versagen von Puffern an den Reisezugwagen zurückgeführt, wobei jedoch angemerkt wird, dass „infrastrukturseitige Einflüsse der ausgereizten örtlichen Trassierung begünstigend wirkten“ (EUB 2014, S. 9). Im Bericht heißt es weiter: „Das Projekt ,Stuttgart 21‘ bedingt zahlreiche Bauzwischenzustände, in denen Gleise umgebaut und Weichen geändert werden müssen. In diesem Zusammenhang wurde auch die Ausfahrzugstraße aus Gleis 10 gebaut“ (EUB 2014, S.18). Um den während des Bahnhofsumbaus gegebenen Beschränkungen zu genügen, wurde bei der Trassierung dieser Ausfahrzugstraße „in diversen Punkten [z. B. Gleisbogenradius, Längsneigung , Länge von Zwischengeraden] von den Regelwerten/Soll-Vorgaben abgewichen“ (EUB 2014, S. 24), zudem konzentrieren sich die ausgereizten Trassierungselemente „in einem örtlich eng begrenzten Raum“ (EUB 2014, Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 9. Oktober 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. S. 48). „Diese Abweichungen sind durch das interne Regelwerk grundsätzlich legitimiert und offenbar insbesondere wirtschaftlichen Erwägungen geschuldet “ (EUB 2014, S. 48). Entgegen der Verpflichtung nach § 2 Absatz 4 der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsverordnung wurden bei der Unfalluntersuchung in mehreren Fällen durch das EUB eingeforderte Unterlagen von der DB Netz AG und der DB Fernver- Drucksache 18/2852 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode kehr AG nicht eingereicht. So teilte zum Beispiel die DB Fernverkehr AG der EUB nach acht Monaten mit, dass Puffer der an der Entgleisung vom 29. September 2012 beteiligten Wagen nicht mehr auffindbar seien. Eine weitere Nachforschung durch das EUB wurde nicht angestellt. Die Fachzeitschrift „BahnReport “ hat in der Ausgabe Juli/August 2014 (vgl. Bahn-Report 4/2014, S. 11) über diesen von den Medien bisher kaum beachteten Aspekt berichtet. Weiterhin ist der Untersuchungsbericht der EUB an mehreren Stellen unpräzise und enthält am Ende keine konkreten Sicherheitsempfehlungen. Vo r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g Mit der Richtlinie 2004/49/EG zur Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft (Eisenbahnsicherheitsrichtlinie ) wurden die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, unabhängige Untersuchungsstellen für die Untersuchung bestimmter gefährlicher Ereignisse einzurichten. Diese Richtlinie wurde mit dem 5. Gesetz zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften vom 16. April 2007 umgesetzt und die Eisenbahnuntersuchungsstelle des Bundes (EUB) eingerichtet. Die weitere Umsetzung der Sicherheitsrichtlinie erfolgte durch die Eisenbahn-Untersuchungsverordnung (EUV) vom 5. Juli 2007. Die Leitung der EUB liegt beim Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI). Zur Durchführung der Untersuchung greift die Leitung der EUB auf die Untersuchungszentrale beim Eisenbahn-Bundesamt (EBA) – die fachlich ausschließlich und unmittelbar dem Leiter der EUB untersteht – zurück. 1. Wie konnte festgestellt werden, dass die Zugentgleisung am 29. September 2012 „primärursächlich auf ein Versagen von Puffern an den im Zugverband laufenden WRmz-Wagen und/oder von unmittelbar benachbarten Wagen zurückzuführen ist“ (EUB 2014, S. 9), wenn die entsprechenden Puffer laut DB Fernverkehr AG nicht mehr auffindbar waren und daher auch nicht zur Untersuchung herangezogen werden konnten? Im Untersuchungsbericht werden die Ursachen unter 1.3 aufgeführt. Da die vorhandenen Puffer aus der Entgleisung vom 29. September eine analoge Charakteristik aufwiesen wie die Puffer von den Entgleisungen am 24. Juli und 9. Oktober 2012, liegt dieser Schluss nahe. 2. Warum hat die EUB, trotz der zurückliegenden zwei Entgleisungen, annähernd acht Monate auf eine Antwort der DB Fernverkehr AG zum Verbleib der relevanten Puffer der verunfallten Fahrzeuge vom 29. September 2012 gewartet, obwohl die EUB selbst in seinem Untersuchungsbericht betont, dass „die verbauten Puffer […] bei der Untersuchung der Entgleisungen […] von besonderer Bedeutung“ (EUB 2014, S. 34) sind? Eisenbahnen sind – unabhängig von der Tatsache des Untersuchungseintritts der EUB – gesetzlich verpflichtet, Unfälle und Störungen zu untersuchen. Die Ergebnisse der Pufferuntersuchungen vom 24. Juli 2012 wurden vorgelegt. Es gab keinen Anlass, an der Übersendung der Untersuchungsergebnisse zu zweifeln. 3. Warum wurden die Hintergründe des Verschwindens der relevanten Puffer der verunfallten Fahrzeuge vom 29. September 2012 durch die EUB nicht weiter aufgeklärt? 4. Warum wurde durch die EUB nicht untersucht, warum die vier noch vorhandenen Puffer der Entgleisung vom 29. September 2012 „entgegen der Festlegung der DB Fernverkehr AG nicht zur Untersuchung nach Ebers- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2852 walde überführt“ (EUB 2014, S. 41) wurden, sondern stattdessen noch in Stuttgart abgebaut und zur AXTONE GmbH verbracht wurden? 5. Wird aktuell noch nach den verschwundenen Puffern gesucht? Wenn ja, durch welche Stelle(n), und wenn nicht, warum nicht? Die Fragen 3 bis 5 werden wegen ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet . Da die Untersuchung des Verbleibs der Puffer nicht zur weiteren Ursachenfindung beiträgt, wurde seitens EUB entschieden, diesen Punkt im Rahmen der Unfalluntersuchung nicht weiter zu verfolgen. Die Sicherheitsbehörde hat den Punkt wieder aufgegriffen. Die noch auffindbaren Puffer von den Entgleisungen vom 29. September und 9. Oktober 2012 wurden in Absprache mit der Strafverfolgungsbehörde der AXTONE GmbH zur Untersuchung übergeben. 6. Sollten die verschwundenen Puffer noch aufgefunden werden, wird dann eine erneute Untersuchung der Unfallursachen durchgeführt? Nein. 7. Warum wurde vonseiten der EUB gegenüber der DB Netz AG nicht auf eine Aushändigung der im Zuge der gleisgeometrischen Überprüfung der Ausfahrzugstraße erteilten Auflagen bestanden, wenngleich die EUB feststellte, dass „infrastrukturseitige Einflüsse, der ausgereizten örtlichen Trassierung, begünstigend [für die Entgleisungen] wirkten“ (EUB 2014, S. 9) und diese Auflagen folglich ggf. relevant für die Unfalluntersuchung gewesen wären? Aufgrund der eigenen Feststellungen zur örtlichen Trassierung wurde hiervon abgesehen. 8. Warum wurde vonseiten der EUB gegenüber der DB Netz AG nicht auf eine Aushändigung der zu den Weichen-Übersichtsschreiben zugehörigen Überschreitungsprotokolle bestanden, obwohl sich am 24. Juli 2012 Mitarbeiter der DB Netz AG vermutlich wegen eines Weichenfehlers im Bereich der Ausfahrzugstraße von Gleis 10 aufhielten und diese Unterlagen folglich ggf. relevant für die Unfalluntersuchung gewesen wären? Da der Messschrieb der Gleislagemessung zur Beurteilung vorgelegen hatte, wurde dieser konservativ ausgewertet und es konnte auf das Überschreitungsprotokoll verzichtet werden. Die Durchsicht der Weichenprüfblätter ergab, dass falsche Prüfblätter verwendet wurden. Nach Übertragung der Messergebnisse in die vorgesehenen Prüfblätter wurden entsprechende Abweichungen festgestellt, die im Untersuchungsbericht beschrieben sind. 9. Warum wurde vonseiten der EUB gegenüber der DB Fernverkehr AG nicht auf eine Aushändigung von Fachgutachten bestanden, die den Angaben der Deutschen Bahn AG (DB AG) zum Verhalten der Puffer zugrunde liegen, obwohl die EUB vermutet, dass „bei den Simulationen ideale Bedingungen unterstellt wurden […] [sowie verschiedene Annahmen] nicht wirklichkeitsnah in die Betrachtung eingegangen sind“ (EUB 2014, S. 52 f) und diese Unterlagen folglich ggf. relevant für die Unfalluntersuchung gewesen wären? Drucksache 18/2852 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode Ein in diesem Zusammenhang eingeleitetes Verwaltungsverfahren ergab, dass offensichtlich neben den vorgelegten Foliencharts keine „begleitenden Fachgutachten “ vorgehalten wurden. 10. Sind Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) und Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) rechtlich verpflichtet, von der EUB eingeforderte und für die Aufklärung von Unfallursachen relevante Unterlagen oder sonstige Gegenstände auszuhändigen, und wenn ja, welche rechtlichen Mittel stehen der EUB hier bei unkooperativen Verhalten der EIU oder EVU zur Verfügung? Gemäß § 26 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) in Verbindung mit § 5a Absatz 5 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) in Verbindung mit § 2 Absatz 4 der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsverordnung (EUV) sind die Eisenbahnunternehmen verpflichtet, der EUB sämtliche für die Untersuchung erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen. Die beteiligten Eisenbahnunternehmen können durch ein Zwangsgeld gemäß § 11 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes (VwVG) zu der Verpflichtung angehalten werden. 11. Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, die rechtlichen Kompetenzen der EUB zu stärken, um künftig das Aushändigen von Unterlagen von EIU und EVU erzwingen zu können und so Ursachen von verheerenden Ereignissen schneller und präziser aufklären zu können? Die Instrumente des Verwaltungsrechts reichen aus. 12. Warum wurde von der EUB abschließend nicht näher konkretisiert, wie „Trassierungen außerhalb von Regelwerten und Sollvorgaben stärker zu reglementieren“ (EUB 2014, S. 53) sind? Es gehört nicht zu den Aufgaben der EUB, unternehmensinterne Regelwerke in Form von Sicherheitsempfehlungen konkret zu überarbeiten. Die ausgesprochene Empfehlung verfolgt allgemein das Ziel, dass die Trassierung außerhalb von Regelwerten und Sollvorgaben stärker reglementiert wird und hierdurch auch die Überlagerung mehrerer Parameter eingeschränkt wird. 13. Mit welchen konkreten Änderungen wird oder wurde nach Kenntnis der Bundesregierung der Empfehlung der EUB gefolgt, „Trassierungen außerhalb von Regelwerten und Sollvorgaben stärker zu reglementieren“ (EUB 2014, S. 53)? Das EBA wirkt darauf hin, dass die bahninterne Trassierungsrichtlinie hinsichtlich der Anforderungen zur Vermeidung von Überpufferungen fortgeschrieben wird. Denkbar wäre etwa, dass unter bestimmten örtlichen Bedingungen (mehrere aufeinanderfolgende kurze Trassierungselemente und/oder Betriebsbedingungen , bei denen hohe Längsdruckkräfte im Zugverband auftreten können) weitergehende Untersuchungen durchzuführen sind, wenn im konkreten Anwendungsfall z. B. mit dem Verkehr von langen Reisezugwagen gerechnet werden muss. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/2852 14. Welche konkreten Maßnahmen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung ergriffen, um künftige Entgleisungen bei der Ausfahrt aus Gleis 10 aus dem Hauptbahnhof Stuttgart zu vermeiden? Die Eisenbahnunternehmen selbst müssen vor dem Hintergrund ihrer gesetzlich normierten Betreiberverantwortung alle Maßnahmen treffen, um einen sicheren Betrieb zu gewährleisten. Hierzu hat die DB Fernverkehr AG als verantwortliches Eisenbahnverkehrsunternehmen zunächst an sämtlichen „langen“ Reisezugwagen (also vor allem den Speisewagen) die betroffene Pufferbauart ersetzt und die zulässige Druckkraft im Schiebebetrieb auf 100 kN begrenzt. Soweit es das EBA betrifft, so hatte dieses die Unfallstelle in Stuttgart Hbf im Jahr 2012 vorübergehend gesperrt und von der Bahn den Nachweis dafür gefordert , dass dort ein gefährdungsfreier Betrieb stattfinden kann. Aufgrund der Unterlagen, die die DB Netz AG und die DB Fernverkehr AG hierzu vorgelegt haben, ist der Betrieb inzwischen wieder zugelassen – auf Anordnung des EBA jedoch nur bei Einhaltung bestimmter Betriebsbedingungen. Konkret heißt dies, dass die betroffene Weichenverbindung derzeit nur von gezogenen Zügen befahren werden darf sowie von Triebzügen ohne Seitenpuffer. Dies muss die DB Netz AG als verantwortliche Infrastrukturbetreiberin sicherstellen . 15. Warum wurde am 24. Juli 2012 nach der Entgleisung keine ereignisbedingte Erdung der Oberleitung durchgeführt (vgl. EUB 2014, S. 17), und wie schätzt die Bundesregierung die hieraus resultierenden Gefährdungen für Fahrgäste und Rettungskräfte ein? Nach hier vorliegenden Erkenntnissen war die Oberleitung bei dem Unfall am 24. Juli 2012 von der Entgleisung nicht betroffen. Möglicherweise wurde deshalb auf eine Erdung derselben verzichtet. 16. Hält die Bundesregierung angesichts der bei Ausfahrt aus Gleis 10 auftretenden minimalen Puffertellerüberdeckung von 20 Millimetern (vgl. auch Abb. 15 in EUB 2014, S. 47 f) eine strengere Reglementierung der Trassierungsvorschriften insbesondere hinsichtlich der örtlichen Überlagerung von Regel- und Sollwertabweichungen für notwendig? Es wird auf die Antwort zu Frage 13 verwiesen. 17. Warum wurde die Rolle der Trassierung der Ausfahrzugstraße aus Gleis 10 für die Zugentgleisungen seitens der EUB im Bericht nicht konkret bewertet , sondern stattdessen nur festgestellt, dass „in diversen Punkten von Regelwerten/Soll-Vorgaben abgewichen wurde“ (EUB 2014, S. 26), sich „durch eine konsequentere Trassierung mit Regelwerten und Sollvorgabe […] die Eisenbahnsicherheit erhöhen“ (EUB 2014, S. 49) ließe und die ausgereizte Trassierung begünstigend wirkte? Es wird auf die Antwort zu Frage 12 verwiesen. Drucksache 18/2852 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 18. Welche explizite bauliche Besonderheit der Trassierung an der Unfallstelle wirkte für die Entgleisung „begünstigend“ (EUB 2014, S. 9), und wo im deutschen Schienennetz tritt nach Kenntnis der Bundesregierung eine solche oder eine vergleichbar örtlich eng begrenzte Abfolge von Trassierungselementen auf, die ähnliche Regel- und Sollwertabweichungen aufweist (bitte einzeln und tabellarisch ausweisen)? Die Ausnutzung und Überlagerung der Parameter Gleis/Weichenradius, Längsneigung , Länge von Zwischengerade sowie der Einbau von steilen Kreuzungsweichen wirkte begünstigend. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333