Deutscher Bundestag Drucksache 18/3542 18. Wahlperiode 16.12.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Katja Kipping, Frank Tempel, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/3383 – Sozialmedizinische sowie psychologische Untersuchungen und Drogentests bei Leistungsberechtigten nach dem Zweiten und Dritten Buch Sozialgesetzbuch Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Bezüglich der Untersuchung von Leistungsberechtigten gemäß Zweitem und Drittem Buch Sozialgesetzbuch (SGB II und SGB III) wird in der Antwort der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 17/8846) zu Frage 8 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. erklärt, dass die Einleitung eines sozialmedizinischen oder psychologischen Gutachtens von einer Vermittlungs- oder Beratungsfachkraft nur vorzunehmen ist, wenn eine Einwilligung der bzw. des Leistungsberechtigten vorliegt. Wörtlich heißt es: „Die Einleitung des Gutachtens ist zwar von der Vermittlungs- oder Beratungsfachkraft vorzunehmen, allerdings ist die Einwilligung der leitungsberechtigten Person zwingend vorausgesetzt . Dies ergibt sich zweifelsfrei aus den Praxisleitfäden. […] Ein sozialmedizinisches oder psychologisches Gutachten wird nicht gegen den Willen der leistungsberechtigten Person eingeleitet. […] Die Ablehnung eines sozialmedizinischen oder psychologischen Gutachtens bzw. die Weigerung, an einer Untersuchung oder Begutachtung mitzuwirken, stellt keinen Sanktionstatbestand im Sinne des § 31 SGB II bzw. Sperrzeittatbestand im Sinne des § 144 SGB III dar.“ Daraus ergibt sich, dass, wenn die leistungsberechtigte Person nicht die Einwilligung gibt, auch keine Untersuchung eingeleitet wird, somit auch keine fehlende Mitwirkung nach § 60 ff. SGB I an der Untersuchung mit der möglichen Folge von Sperrzeiten im SGB III und Sanktionen im SGB II vorgeworfen werden kann. Denn es wird nach Aussage der Bundesregierung bei Nichteinwilligung keine Untersuchung, somit auch kein Drogentest, eingeleitet , somit kann es auch nicht zu einem Nichterscheinen (zum Meldeversäumnis ) oder zur fehlenden Mitwirkung bezüglich einer Untersuchung durch eine leistungsberechtigte Person kommen. Auch einer versehentlichen Einleitung einer Untersuchung trotz fehlender Zustimmung ist laut Aussage der Bundesregierung aufgrund bestehender Weisungen ein Riegel vorgeschoben (siehe Antwort der Bundesregierung zu Frage 6): „Aufgrund der eindeutigen WeiDie Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 15. Dezember 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. sungslage ist nicht zu erwarten, dass einer Kundin bzw. einem Kunden trotz ihrer bzw. seiner Nichteinwilligung im Beratungsgespräch eine Einladung zu einem Untersuchungstermin zugesandt wird. Sollte trotz der fehlenden Einwilligung eine Einladung erfolgt sein, kann das Erscheinen abgelehnt werden.“ Drucksache 18/3542 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode Auch die Einleitung einer Untersuchung einer leistungsberechtigten Person aufgrund eines Verlangens einer solchen Untersuchung durch die Vermittlungs - oder Beratungsfachkraft (vgl. die Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 1 und 2) ist bei einer nicht erfolgten Zustimmung der leistungsberechtigten Person nicht möglich, da eine Zustimmung durch Leistungsberechtigte nach Aussage der Bundesregierung zwingend für eine Einleitung vorausgesetzt ist (siehe oben). Also kann es auch in diesem Fall des Verlangens durch die Vermittlungs - oder Beratungsfachkraft gemäß der Bundesregierung zu keiner Verletzung der Mitwirkungspflicht mit o. g. möglichen Folgen kommen. Bezüglich des Sachverhalts der Feststellung bzw. Überprüfung der Leistungsberechtigung wird in der Antwort der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 18/2696) zu Frage 10 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. ausgesagt: bei „unterbliebener Mitwirkung im Untersuchungstermin durch Verweigerung der Teilnahme am Drogentest kann bis zur Nachholung der Mitwirkung die Leistung ganz oder teilweise versagt werden, soweit die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind (§ 66 Absatz 1 SGB I).“ Diesem Satz steht die folgende Aussage am selben Ort gegenüber: „Eine Versagung der Leistung nach § 66 i. V. m. § 62 SGB I setzt darüber hinaus voraus, dass die Untersuchungsmaßnahme – d. h. hier der Drogentest – für die Entscheidung über die Leistung erforderlich ist. Für finanzielle Leistungen zum Lebensunterhalt dürfte diese Erforderlichkeit regelmäßig jedoch nicht gegeben sein, es sei denn, die Erwerbsfähigkeit selbst wird dadurch in Zweifel gezogen .“ Die Bundesregierung zieht also enge Grenzen bezüglich der Untersuchung zur Abklärung, ob eine Leistungsberechtigung vorliegt. Somit sind auch hier oberhalb dieser Grenze (Erforderlichkeit der Untersuchung wegen grundsätzlicher Zweifel an Erwerbsfähigkeit) Untersuchungen nicht sperrzeitenbzw . sanktionsbewehrt gemäß SGB III bzw. SGB II. Auch wenn im Fall des Zweifels die grundsätzliche Leistungsberechtigung in Frage steht, ist nicht der Eintritt einer Sperrzeit bzw. einer Sanktion eines Leistungsberechtigten eine mögliche Folge, sondern ein Versagen oder Nichtversagen der Leistung. Grundsätzlich stellt die Bundesregierung in ihrer Antwort (Bundestagsdrucksache 17/8846) zu Frage 11 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. fest: „Das Selbstbestimmungsrecht des Bürgers ist einer der Gründe, warum keine Rechtspflicht, die mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden könnte, zur Teilnahme an ärztlichen und psychologischen Untersuchungen im Sozialgesetzbuch normiert wurde. Damit ist sichergestellt, dass ohne Einwilligung des Betroffenen kein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Bürger erfolgt. Nicht zu beanstanden ist dagegen die Ausgestaltung bestimmter Mitwirkungspflichten als Obliegenheiten. Die betroffenen Bürger können sich hier entscheiden , ob sie ihrer Obliegenheit nachkommen oder nicht und dafür gegebenenfalls Rechtsnachteile in Kauf nehmen.“ In der Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 1 und 2 heißt es: „Bei der Mitwirkungspflicht im Sinne des § 62 SGB I handelt es sich um keine Rechtspflicht im engeren Sinne, da der Leistungsberechtigte nicht gezwungen werden kann, an einer ärztlichen oder psychologischen Untersuchungsmaßnahme teilzunehmen bzw. daran mitzuwirken. Insofern ist die Teilnahme freiwillig.“ In der Beantwortung der Schriftlichen Frage 35 der Abgeordneten Katja Kipping auf Bundestagsdrucksache 18/3012 durch die Bundesregierung wird das Selbstbestimmungsrecht insbesondere auf das SGB III bezogen dargelegt: „Die grundsätzliche Ablehnung einer ärztlichen Untersuchung stellt einen wichtigen Grund im Sinne der Sperrzeitenregelung dar und führt nicht zum Eintritt einer Sperrzeit, weil die Teilnahme an einer Untersuchung infolge des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen nur mit deren Einwilligung möglich ist. […] Die Tatsache, dass bei Ablehnung einer ärztlichen Untersuchung keine Sperrzeit eintritt, bedeutet jedoch nicht, dass eine Weigerung folgenlos bleibt. In diesen Fällen sind nach dem Recht des Ersten Buches Sozialgesetzbuch die Folgen fehlender Mitwirkung zu prüfen.“ Gegenübergestellt werden von der Bundesregierung also die Freiwilligkeit infolge des Selbstbestimmungsrechts und aufgrund des Rechts auf körperliche Unversehrtheit einerseits und die Androhung und die mögliche Folge eines tatsächlichen Leistungsentzugs bzw. einer Leistungskürzung (Sperrzeit bzw. Sanktion) andererseits, auf die der Betroffene im Beratungsgespräch aufmerksam gemacht wird. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3542 1. In wie vielen Fällen wurde Leistungsberechtigten gemäß SGB II und SGB III im Jahr 2011 bis zum Jahr 2013 eine sozialmedizinische oder psychologische Untersuchung vorgeschlagen (bitte einzeln nach Jahren und Grund des Untersuchungsvorschlags auflisten)? 2. In wie vielen Fällen haben Leistungsberechtigte gemäß SGB II und SGB III im Jahr 2011 bis zum Jahr 2013, denen eine sozialmedizinische oder psychologische Untersuchung vorgeschlagen worden ist, diese freiwillig angenommen , und in wie vielen Fällen wurde die Zustimmung zum Vorschlag nicht gegeben (bitte einzeln nach Jahren und Grund des Untersuchungsvorschlags und der Ablehnung auflisten)? 3. In wie vielen Fällen wurde für Leistungsberechtigte gemäß SGB II und SGB III im Jahr 2011 bis zum Jahr 2013, denen eine sozialmedizinische oder psychologische Untersuchung vorgeschlagen worden ist, diese aber nicht die Zustimmung gaben, trotzdem eine sozialmedizinische oder psychologische Untersuchung eingeleitet – versehentlich oder nicht versehentlich (bitte einzeln nach Jahren und Grund des Untersuchungsvorschlags und der Ablehnung auflisten)? 4. Wie viele derjenigen Leistungsberechtigten gemäß SGB II bzw. SGB III, bei denen ohne deren Zustimmung eine Untersuchung – versehentlich oder nicht versehentlich – eingeleitet worden ist, erhielten Sanktionen (SGB II) bzw. Sperrzeiten (SGB III) (bitte einzeln nach Jahren und Begründung der Sperrzeiten und Sanktionen auflisten)? 5. Wie viele derjenigen Leistungsberechtigten, die eine Sanktion (SGB II) bzw. Sperrzeiten (SGB III) aus dem genannten Grund erhielten, legten Widerspruch ein bzw. klagten gegen diese, und wie viele Widersprüche bzw. Klagen wurden zugunsten der Betroffenen entschieden (bitte einzeln nach Jahren auflisten)? 6. In wie vielen Fällen der Feststellung bzw. Überprüfung der Leistungsberechtigung nach dem SGB II und dem SGB III wurden in den Jahren 2011 bis 2013 eine sozialmedizinische oder psychologische Untersuchung wegen grundsätzlicher Zweifel der Erwerbsfähigkeit angeordnet (bitte einzeln nach Jahren auflisten)? 7. In wie vielen Fällen kamen die Betroffenen einer solchen Anordnung mit der Folge der teilweisen oder ganzen Versagung der Leistung nicht nach (bitte einzeln nach Jahren und Gründen auflisten)? Die Fragen 1 bis 7 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet . Zu den in den Fragen 1 bis 7 benannten Fällen führen die Bundesregierung und die Bundesagentur für Arbeit keine Statistik. In den Fragen 3 und 4 wird nach Personen gefragt, denen eine sozialmedizinische oder psychologische Untersuchung vorgeschlagen worden ist, und bei denen trotz fehlender Zustimmung – versehentlich oder nicht versehentlich – eine sozialmedizinische oder psychologische Untersuchung eingeleitet wurde. Nach bestehender Weisungslage findet ohne Zustimmung der betroffenen Person keine ärztliche Begutachtung statt. Auch ist für eine Einladung zur Begutachtung mit Untersuchung die Zustimmung der betroffenen Person Voraussetzung . Drucksache 18/3542 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 8. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass eine Freiwilligkeit, begründet auf dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit , durch die Androhung und Verwirklichung des Entzugs der für den Lebensunterhalt und die gesellschaftliche Teilhabe notwendigen Mittel durch Sanktionen (SGB II) oder Sperrzeiten (SGB III) nicht massiv beeinträchtigt wird (bitte begründen)? 9. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung unter Androhung und Realisierung des Entzugs der materiellen Mittel für ein selbstbestimmtes Leben durch Sanktionen (SGB II) oder Sperrzeiten (SGB III) nicht gesprochen werden kann, da ein Leben gemäß dem freien Willen und in Selbstbestimmung nur mit einer ausreichenden materiellen Absicherung des Lebens selbst möglich ist? Die Fragen 8 und 9 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet . Es wird auf die Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 8, 9 und 10 der Kleinen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/8846 verwiesen. Ergänzend ist anzumerken, dass die Mitwirkung der Beteiligten in den meisten Verfahren des Sozialrechts wie auch des übrigen Verwaltungsrechts notwendig ist, um den Sachverhalt aufzuklären und richtige Entscheidungen der Leistungsträger sowie Entscheidungen über anspruchserfüllende Maßnahmen der Leistungserbringer treffen zu können. Bei den Mitwirkungsregelungen der §§ 60 ff. des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) handelt es sich um Obliegenheiten, d. h. Verhaltensaufforderungen , die dem Leistungsberechtigten im eigenen Interesse und im Interesse des Leistungsträgers auferlegt werden, ohne dass dieser das rechtlich verpflichtende Verhalten des Leistungsberechtigten erzwingen kann. Bereits in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/8846 wurde darauf hingewiesen, dass die Ausgestaltung bestimmter Obliegenheiten auch im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht nicht zu beanstanden ist (vgl. Antwort zu Frage 11 auf Bundestagsdrucksache 17/8846). Diese Grundsätze gelten auch im Hinblick auf die grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis des Selbstbestimmungsrechts zu Obliegenheiten und Mitwirkungspflichten in den Sozialgesetzbüchern. Im Übrigen wird auf die Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 10a und 10c der Kleinen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 18/2696 verwiesen. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333