Deutscher Bundestag Drucksache 18/3606 18. Wahlperiode 18.12.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 18/3355 – Europäische Atomprojekte Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r In Europa gab und gibt es in diesem und im nächsten Jahr relevante Entwicklungen im Atomkraftbereich. Während es die alte Kommission der Europäischen Union sehr wohl noch schaffte, die Beihilfen für den britischen AKW-Neubau Hinkley Point C (AKW – Atomkraftwerk) zu genehmigen, schaffte sie es nicht mehr, wie für Juni 2014 angekündigt, über die Fortschritte bei der Umsetzung – des aus grüner Sicht ungenügenden – des europäischen AKW-Stresstests zu informieren. Außerdem wurde auf der sechsten Vertragsstaatenkonferenz (MOP) der EspooKonvention vom 2. bis 5. Juni 2014 beschlossen, dass nicht nur bei Neu- oder Ausbauprojekten im Atombereich eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zu erstellen ist, sondern auch bei der Verlängerung der Betriebsdauer des ukrainischen AKW Rivne (vgl. Report der MOP, S. 14). Die Bundesregierung muss sich an grenzüberschreitenden Verfahren beteiligen , die im Zusammenhang mit Atom stehen, um den deutschen Bürgerinnen und Bürgern eine Beteiligungschance zu ermöglichen. Dies gilt ebenfalls für die Strategische Umweltprüfung (SUP) der nationalen Entsorgungsprogramme innerhalb der Europäischen Union. Es ist nicht auszuschließen, dass die deutsche Bevölkerung von einem atomaren Unfall in Europa stark betroffen wäre. Neben dem Bekenntnis zum eigenen Atomausstieg ist aus Sicht der Fragesteller klar, dass sich die Bundesregierung auch bei Atomvorhaben in Europa unmissverständlich positionieren und sich für mehr AKW-Sicherheit in Europa einsetzen muss. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit vom 17. Dezember 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Drucksache 18/3606 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 1. Warum wurde seitens der Europäischen Kommission nach Kenntnisstand der Bundesregierung bisher nicht über die Fortschritte bei der Umsetzung der Ergebnisse des europäischen AKW-Stresstest berichtet? 2. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der andauernden Verzögerung bei der Europäischen Kommission? 3. Wann ist nach Kenntnisstand der Bundesregierung mit einem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission zu rechnen? Die Fragen 1 bis 3 werden wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet . Nach Durchführung des Europäischen Stresstests hat die Gruppe der Leiter der atomrechtlichen Aufsichtsbehörden in der Europäischen Union (ENSREG) im Juli 2012 beschlossen, dass alle Mitgliedstaaten bis zum Jahresende 2012 nationale Aktionspläne erstellen und veröffentlichen. Auf einem gemeinsamen Workshop im April 2013 wurden die Pläne erläutert und der Stand der Umsetzung der Ergebnisse des europäischen Stresstests dargelegt. Die Ergebnisse wurden veröffentlicht. Ein solcher Workshop zum Umsetzungsstand wird erneut im April 2015 durchgeführt werden. Es ist geplant, auch die Ergebnisse dieses Workshops zu veröffentlichen. Ob über die nationalen Aktionspläne und die ENSREG-Workshops hinaus gesonderte Berichte der Europäischen Kommission über Fortschritte der Stresstests erstellt werden, ist allein von der Europäischen Kommission zu entscheiden . 4. Haben sich nach Kenntnisstand der Bundesregierung bei den laufenden Programmen, Strategien sowie Neu- und Ausbauvorhaben, die Atomkraft in Europa betreffen, neue Entwicklungen ergeben (vgl. Bundestagsdrucksache 18/677), und falls ja, welche? Der Bundesregierung liegen bislang keine neuen offiziellen Mitteilungen über laufende Programme, Strategien sowie Neu- und Ausbauvorhaben, die Atomkraft in Europa betreffen, vor. 5. Auf welchem aktuellen Stand sind nach Kenntnis der Bundesregierung die SUP- und UVP-Verfahren mit deutscher Beteiligung in Finnland, Tschechien und Ungarn (vgl. Bundestagsdrucksache 18/677)? Nach dem Kenntnisstand der Bundesregierung sind sowohl die grenzüberschreitende Strategische Umweltprüfung zum Tschechischen Energiekonzept als auch die grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfungen für die Kernkraftwerksneubauvorhaben am ungarischen Standort Paks sowie am finnischen Standort „Pyhäjoki“ noch nicht abgeschlossen. In allen vorgenannten Verfahren haben sich Teile der deutschen Öffentlichkeit sowie deutsche Behörden beteiligt . 6. Gibt es nach Kenntnisstand der Bundesregierung europäische Atomreaktoren , deren Betriebsdauer in den nächsten sechs Monaten überprüft bzw. verlängert werden (bitte mit Auflistung der einzelnen Reaktoren pro Land)? Aufgrund von Presseberichten ist der Bundesregierung bekannt, dass die neue belgische Energieministerin Marie-Christine Marghem einen Plan für eine Lauf- zeitverlängerung der Kernkraftwerke Doel-1 und Doel-2 vorlegen will. Für das ungarische Kernkraftwerk Paks-2 wurde nach Presseberichten von der ungari- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3606 schen nuklearen Aufsichtsbehörde eine Laufzeitverlängerung von 20 Jahren genehmigt . Betreffend geplante Laufzeitverlängerungen in der Slowakischen Republik sowie der Tschechischen Republik wird auf die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 18/677 verwiesen. a) Wenn ja, ist die Bundesregierung laut Artikel 3 Absatz 1 der EspooKonvention durch den Ursprungsstaat in diesem Zusammenhang notifiziert worden, und wird sie sich an dem Verfahren gemäß UVP-Richtlinie (2011/92/EU) beteiligen (wenn nein, bitte mit Begründung)? Eine Notifizierung der Bundesrepublik Deutschland zu einzelnen Laufzeitverlängerungen ist bislang nicht erfolgt. b) Wenn die deutsche Bundesregierung nicht durch den Ursprungsstaat notifiziert wird, wird sie sich selbst – mit Verweis auf Artikel 3 Absatz 7 der Espoo-Konvention und der UVP-Richtlinie (2011/92/EU) – um ein Beteiligungsverfahren bemühen (wenn nein, bitte mit Begründung)? Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Laufzeitverlängerungen UVP-pflichtiger Vorhaben eine erneute UVP – und damit ggf. auch eine grenzüberschreitende Beteiligung – notwendig machen, ist im europäischen und internationalen Rahmen noch nicht abschließend geklärt. Für den Bereich der UVP-Richtlinie der EU hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die bloße Verlängerung der Betriebsgenehmigung eines UVP-pflichtigen Vorhabens kein UVP-pflichtiges Projekt darstellt, sofern damit nicht zugleich Arbeiten oder Eingriffe zur materiellen Änderung des Vorhabens verbunden sind (so z. B. EuGH, Urteil v. 17. März 2011, Rs. C-275/09, Rn. 24). Demgegenüber hat das Implementation Committee der Espoo-Konvention im Vorfeld der 6. Espoo-Vertragsstaatenkonferenz die Auffassung vertreten, dass Laufzeitverlängerungen eines Kernkraftwerks auch ohne materielle Änderung als „geplante Tätigkeit“ im Sinne der Espoo -Konvention zu betrachten und damit nach den Vorschriften dieser Konvention zu behandeln seien. Der entsprechende Beschlussvorschlag hat jedoch auf der 6. Espoo-Vertragsstaatenkonferenz nicht die Zustimmung der Vertragsparteien gefunden. Ein Teil der Vertragsstaaten war – auch mit Blick auf die erwähnte Rechtsprechung des EuGH – nicht bereit zu akzeptieren, dass Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken nach der Espoo-Konvention generell eine UVP-Pflicht begründen. Lediglich für den konkreten Fall EIA/IC/CI/4 (Kernkraftwerk am Standort Rivne/Ukraine) hat die Vertragsstaatenkonferenz die Einschätzung des Implementation Committees bestätigt, dass die Laufzeitverlängerung von der Ukraine als geplante Aktivität im Sinne des Artikels 1 Absatz 5 Espoo-Konvention zu behandeln sei (Entscheidung VI/2 der Vertragsstaatenkonferenz , Rn. 68). Vor diesem Hintergrund muss die Behandlung solcher Fälle auf EU-Ebene noch einmal grundlegend geprüft werden. Das Prüfergebnis und die tatsächliche Umsetzung im Einzelfall bleiben daher abzuwarten. 7. Welchen Kenntnisstand hat die Bundesregierung zum türkischen AKWNeubau in Akkuyu (bitte möglichst ausführliche Darlegung)? Die deutsche Botschaft in Ankara hat darüber berichtet, dass die türkische Regierung das Kernkraftwerksprojekt am Standort Akkuyu weiterhin prioritär behandelt. Laut türkischen Presseberichten ist die Grundsteinlegung für das Frühjahr 2015 geplant. Drucksache 18/3606 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 8. Ist der Bundesregierung bekannt, dass die türkischen Behörden den Bürgerinnen und Bürgern lediglich zehn Tage Zeit für die Sichtung und Kommentierung des über 3 000-seitigen UVP-Berichts einräumen (www.argusmedia.com vom 27. Oktober 2014 „Turkey invites comments on nuclear plant“), und wenn ja, hält die Bundesregierung diese Frist für ausreichend? Der Bundesregierung liegen keine Informationen über die Durchführung der innerstaatlich geregelten Öffentlichkeitsbeteiligung in dem konkreten Verfahren vor. 9. Wird die Bundesregierung die Türkei auffordern, die Espoo-Konvention zu unterzeichnen und zu ratifizieren (wenn nein, bitte mit Begründung)? Die Bundesregierung würde es begrüßen, wenn die Türkei die Espoo-Konvention unterzeichnen und ratifizieren würde. Sie nutzt ihre Kontakte, hierfür zu werben. 10. Wird die Bundesregierung im Rahmen der SUP für das von der EU geforderte nationale Entsorgungsprogramm (vgl. Bundestagsdrucksache 18/ 2832, Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 98) andere Staaten über das Vorhaben notifizieren und eine grenzüberschreitende Beteiligung ermöglichen (wenn nein, bitte mit Begründung)? Ja. 11. Wird sich die Bundesregierung im Rahmen der SUP anderer nationaler Entsorgungsprogramme von EU-Mitgliedstaaten um eine Beteiligungsmöglichkeit für die deutschen Bürgerinnen und Bürger bemühen? Die bislang bekannten nationalen Entsorgungsprogramme von anderen Mitgliedstaaten unterscheiden sich in ihrem Inhalt, den beschriebenen Prozessen, dem Verfahrensstand und ihrer Bedeutung für die jeweilige Entsorgungsplanung . Es ist daher in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob die geplanten nationalen Entsorgungsprogramme voraussichtlich erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt in Deutschland haben werden. Soweit dies der Fall sein kann, wird Deutschland einen Antrag auf Beteiligung nach Artikel 7 Absatz 1 der SUPRichtlinie stellen. 12. Wird die Bundesregierung insbesondere Deutschlands Nachbarstaaten darum ersuchen, dass diese eine SUP mit grenzüberschreitender Öffentlichkeitsbeteiligung für deren jeweilige nationalen Entsorgungsprogramme durchführen, sofern nicht bereits klar ist, dass die betreffenden Nachbarstaaten dies vorhaben (falls nein, bitte mit Begründung, und falls ja, bitte mit zeitlichen Angaben)? Es wird auf die Antwort zu Frage 11 verwiesen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/3606 13. Für wann waren und sind nach Kenntnisstand der Bundesregierung die jährlichen Konsultationen (bitte mit Angabe für 2014 und 2015) der a) Deutsch-Französischen Kommission (DFK) b) Deutsch-Schweizerischen Kommission (DSK) c) Deutsch-Niederländischen Kommission (NDKK) d) Deutsch-Tschechischen Kommission (DTK) e) Deutsch-Österreichischen, Nuklearexpertengruppe (DÖE) geplant? Die Sitzungen der Hauptkommission NDKK finden nach Bedarf statt. Ein jährlicher gegenseitiger Informationsaustausch wird in den Arbeitsgruppen 1 und 2 zu sicherheitstechnischen Fragen (AG 1) und dem Notfallschutz (AG 2) geführt. Im Jahr 2014 fanden folgende Sitzungen statt: a) DFK: 21./22. Mai b) DSK: 6./7. November c) NDKK: AG 1 und 2 am 30. September/2. Oktober d) DTK: 21./22. Oktober e) DÖE: 15./16. Mai. Nach derzeitigem Kenntnisstand der Bundesregierung stehen für das Jahr 2015 folgende Sitzungen an: a) DFK: 3./4. Juni oder 10./11. Juni b) DSK: 5./6. November c) NDKK: AG 1 am 9./11. September, AG 2 am 30. September/1. Oktober d) DTK: 20./21. Oktober e) DÖE: 21. KW. 14. Unterstützt die Bundesregierung den schweizerischen Vorschlag, Artikel 18 des Übereinkommens über nukleare Sicherheit um § IV wie folgt zu erweitern : „Nuclear power plants shall be designed and constructed with the objectives of preventing of preventing accidents and, should an accident occur, mitigating its effects and avoiding releases of radionuclides causing long-term off-site conatmination. In order to identify and implement appropriate safety improvements, these objectives shall also be applied at existing plants“ (vgl. 6th Review Meeting of the Contracting Parties to the Convention on Nuclear Safety, Summary Report, Annex I, S. 12 ff., online abrufbar unter www-ns.iaea.org/downloads/ni/safety_convention/2014- cns-summary-report-w-annexes-signed.pdf, Stand 4. April 2014), wenn nein, bitte mit Begründung)? Falls ja, a) inwiefern hat sie den Vorschlag bislang bereits auf welcher Ebene bzw. wem gegenüber in welcher konkreten Form unterstützt, und b) inwiefern will sie den Vorschlag auf welcher Ebene bzw. wem gegenüber in welcher konkreten Form in den kommenden Wochen und Monaten unterstützen? Die Fragen 14, 14a und 14b werden gemeinsam beantwortet. Die Bundesregierung hat auf der 6. Überprüfungstagung zum Übereinkommen über nukleare Sicherheit (CNS) votiert, dass der Schweizer Vorschlag auf einer Drucksache 18/3606 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode diplomatischen Konferenz verhandelt wird. Die Bundesregierung unterstützt den Vorschlag der Schweiz zur Veränderung der Konvention in Artikel 18 inhaltlich auf internationaler Ebene, bei der International Atomic Energy Agency und der Europäischen Union. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333