Deutscher Bundestag Drucksache 18/4155 18. Wahlperiode 27.02.2015 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Jan van Aken, Ulla Jelpke, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/3998 – Befreiung Kobanis und Hilfe beim Wiederaufbau Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Nach den rund viermonatigen Kämpfen gelang es den Verteidigungskräften des Kantons Kobani in der letzten Januarwoche 2015, die Djihadisten des „Islamischen Staates“ (IS bzw. ISIS) aus dem Stadtgebiet von Kobani sowie einigen umliegenden Dörfern zu verdrängen. Der Großangriff des IS auf Kobani, dem kleinsten der drei Kantone des Selbstverwaltungsgebietes im Norden Syriens, hatte Mitte September 2014 begonnen. Der IS setzte dabei aus irakischen Armeebeständen erbeutete schwere Waffen einschließlich Kampfpanzer ein, während die Verteidigungskräfte nur über leichte Waffen verfügten. Entgegen den Erklärungen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, wonach er mit einer Einnahme Kobanis durch den IS rechne, hielten die Verteidigungseinheiten stand (www.sueddeutsche.de/news/politik/konflikteerdoganKobani -ist-dabei-zu-fallen---luftschlaege-nicht-ausreichend-dpa. urn-newsml-dpa-com-20090101-141007-99-06558). Die Vertreibung des IS aus dem Stadtgebiet von Kobani war ein gemeinsamer Erfolg der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) der Selbstverwaltungsregion Rojava in Nordsyrien, ihnen mit panzerbrechenden Waffen zur Hilfe gekommener Peschmerga der kurdischen Regionalregierung im Nordirak sowie der verbündeten Sems El-Semal und Suwar El Rakka der Freien Syrischen Armee (FSA). Die Verteidigungskräfte von Kobani erhielten zudem Luftunterstützung der aus rund 40 Ländern gebildeten Anti-IS-Allianz. Während der Offensive des IS mussten rund 200 000 Zivilistinnen und Zivilisten aus der Stadt und den umliegenden Dörfern über die türkische Grenze fliehen . Nur ein kleiner Teil von ihnen ist nach Informationen, die die Fraktion DIE LINKE. von örtlichen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern erhalten hat, in staatlichen Flüchtlingslagern untergekommen. Die übrigen leben in Zeltlagern der von der prokurdischen Partei der Demokratischen Regionen (DBP) regierten Stadt Suruc, bei Verwandten, in Garagen, stillgelegten IndusDie Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Auswärtigen Amts vom 24. Februar 2015 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. trieanlagen und selbst Ställen in der Provinz Sanliurfa. Nach der Befreiung der Stadt hoffen jetzt viele Flüchtlinge auf eine baldige Rückkehr. Doch nach Beobachtungen eines Vertreters der in Kobani tätigen Hilfsorganisation Medico International erwartet sie eine zu 60 Prozent zer- Drucksache 18/4155 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode störte Stadt, in der es an intaktem Wohnraum, Trinkwasser und Energieversorgung fehlt (www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-medicointernational -Kobani-ist-eine-truemmerwueste.92540d64-fafe-42ec-8f4b- 1919f65d45ff.html; www.deutschlandradiokultur.de/eindruecke-aus-Kobanidie -lage-ist-trostlos-aber-die.1008.de.html?dram:article_id=310604). Bei Kobani sowie den beiden anderen Kantonen Cizire und Afrin von Rojava gehen die militärischen Auseinandersetzungen mit dem IS und der zu Al Qaida gehörenden Al-Nusra-Front weiter. Zudem kam es Anfang Januar 2015 in der Stadt Al Hasaka zu schweren Auseinandersetzungen zwischen YPG/YPJ und syrischen Regierungsstreitkräften. Ein von der Türkei über Rojava verhängtes Embargo mit willkürlichen Grenzblockaden verhindert die Versorgung und Sicherung der drei Kantone. Nach eigenen Angaben sind der „Kampf gegen die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus und die Lage in Syrien […] regelmäßig Themen in den Gesprächen zwischen Vertretern der Bundesregierung und der türkischen Regierung“ (Antwort der Bundesregierung auf die Schriftlichen Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Thomas Nord auf Bundestagsdrucksache 18/3812). Damit verfügt die Bundesregierung offensichtlich über gute Kanäle, um die Haltung der Türkei einzuschätzen und gegebenenfalls zu problematisieren. Denn ebenso bedeutsam wie die internationale Hilfe beim Wiederaufbau in Kobani ist ein Richtungswechsel in der türkischen Syrienpolitik, um eine Wiederholung der Eskalation von Kobani zu verhindern. Vo r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g In der nordsyrischen Grenzstadt Kobani bzw. Ain al-Arab leben traditionell mehrheitlich Kurden, die ihre Stadt Kobani nennen. Die Stadt hatte aber auch seit jeher eine starke Minderheit arabischsprachiger Einwohner, die ihre Stadt in der arabischen Amtssprache Syriens Ain al-Arab nennen. In dieser Antwort wird aus rein praktischen Gründen der von den Fragestellern benutzte kurdische Name Kobani verwendet. Kobani hatte bis zum Beginn der Angriffe durch die Terrororganisation „Islamischer Staat in Irak und Syrien“ (ISIS) auf das Umland der Stadt rund 100 000 Einwohner, von denen mehrere Zehntausend wegen des Konfliktes in Syrien erst in den letzten Jahren zugezogen waren. Die Zahl der Menschen, die sich bei Beginn der Angriffe auf das Umland von Kobani in der Stadt befand, wird auf etwas über 200 000 geschätzt. Aus grundsätzlichen und Sicherheitserwägungen entsendet die Bundesregierung kein diplomatisches und Entwicklungspersonal nach Syrien und rät allen deutschen Staatsangehörigen dringend von einem Grenzübertritt ab. Seit Beginn des Konflikts in Syrien wurden aber Kontakte zu zahlreichen zivilgesellschaftlichen , kommunalen und politischen Akteuren in Syrien gehalten, über die die Bundesregierung versucht, sich ein Bild in den verschiedenen Teilen des Landes zu machen, so auch in Kobani. Die humanitäre Hilfe der Bundesregierung erfolgt unter Wahrung der humanitären Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit . Die Bundesregierung unterscheidet daher nicht nach Herkunft und Zugehörigkeit von Flüchtlingen und erhebt auch keine entsprechenden Daten. Da viele Einwohner aus Kobani in die auf türkischer Seite nur wenige Kilometer entfernte und traditionell mit Kobani eng verbundene Schwesterstadt Suruc und deren Umland geflohen sind, beziehen sich Aussagen auf die Flüchtlinge dort und entsprechende Hilfsmaßnahmen insbesondere auf Einwohner von Kobani. Darüber hinaus steht die Bundesregierung der Politik und dem Verhalten der „Partei der demokratischen Union“ (PYD), welche die stärkste Kraft in den kur- dischen Gebieten im Norden bzw. Nordosten Syriens darstellt, und den von ihr organisierten oder dominierten Strukturen, wie dem so genannten Volksrat von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4155 Westkurdistan, mit kritischer Distanz gegenüber. Hintergrund sind ernstzunehmende Berichte aus unterschiedlichen Quellen, u. a. der Untersuchungskommission des VN-Menschenrechtsrates über die Menschenrechtslage in Syrien, über autoritäre Machtausübung der PYD in ihren Einflussgebieten und Gewalttaten der mit ihr verbundenen bewaffneten Organisationen „kurdische Volksverteidigungseinheiten “ (YPG) und Asayiş gegen Personen, die anderer politischer Auffassung sind oder unabhängige zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen versuchen. Kürzlich appellierte der Kurdische Nationalrat an die Bundesregierung , auf die PYD dahingehend einzuwirken, Attacken gegen Journalisten und Zwangsrekrutierung von Minderjährigen zu beenden. Der Kurdische Nationalrat ist Teil der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte , die von mehr als 120 Staaten, darunter auch Deutschland, als legitime Vertretung des syrischen Volkes betrachtet werden. Sie hat sich mehrfach zur Vision eines demokratischen Syriens aller religiösen und ethnischen Gruppen bekannt. 1. Wie stellt sich die Situation in und um die nordsyrische Stadt Kobani nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit a) militärisch, b) infrastrukturell (Ausmaß der Zerstörung an Wohngebäuden und Straßen ), c) medizinisch (Ausstattung mit Behandlungseinrichtungen, Medikamenten etc.), d) humanitär (Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser) dar? Die PYD-, YPG- und Peshmerga-Kräfte konnten in den letzten Wochen in Kobani punktuelle Erfolge gegen ISIS erzielen. Eine vollumfängliche Absicherung der Stadt gegen das Eindringen von ISIS-Kämpfern, die verdeckt einsickern könnten, um Anschläge zu verüben, scheint aber noch nicht gewährleistet . Bedingt durch gezielte Luftangriffe der Anti-ISIS-Koalition bestehen bei ISIS im Kampf um die Stadt offenbar Nachschubschwierigkeiten. Aktuelle Medienberichte über einen Abzug aller ISIS-Kräfte aus Kobani können nicht bestätigt werden. Nach der vollständigen Vertreibung von ISIS aus dem Stadtgebiet von Kobani soll ISIS Vertretern der Stadtverwaltung zufolge mittlerweile auch aus rund 400 Dörfern, Weilern und Gehöften im Umland der Stadt vertrieben worden sein. Diese Angaben sind jedoch schwer zu überprüfen. Die Stadtverwaltung von Kobani erhebt derzeit Schäden, Erfordernisse für den Wiederaufbau und humanitären Bedarf in der Stadt, um sich einen umfassenden Überblick zu verschaffen. Nach ersten Schätzungen der Stadtverwaltung sind bis zu 60 Prozent der Stadt schwer beschädigt oder zerstört, v. a. in deren Westteil . Es fehlt an zahlreichen Medikamenten. Eine rudimentäre Trinkwasserversorgung konnte wiederhergestellt werden, so dass Wassertransporte in die Stadt nicht mehr notwendig sind. Die Stadtverwaltung und auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), mit denen sich die Bundesregierung eng austauscht, raten wegen der noch unzureichenden Versorgungslage und der noch nicht vollständig geräumten Blindgänger und Sprengfallen von einer schnellen Rückkehr nach Kobani ausdrücklich ab. Dennoch haben sich erste Familien zu einer Rückkehr entschieden. Drucksache 18/4155 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 2. Welche staatlichen bzw. staatlich finanzierten Hilfen aus Deutschland wurden bis heute für die Region in und um die nordsyrische Stadt Kobani a) infrastrukturell (Wohngebäude und Straßen), b) medizinisch (Behandlungseinrichtungen, Geräte, Medikamente etc.), c) humanitär (Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser), geleistet (unter Angabe der konkreten Projekte und jeweiligen Finanzmittel )? Falls keinerlei deutsche Hilfen erfolgt sind, warum nicht? Vor Beginn der Angriffe von ISIS auf Kobani hatte die Bundesregierung die Förderung demokratischer Strukturen sowie zivilgesellschaftliche Arbeit mit der Zielgruppe Jugendliche und Frauen in Kobani und Umland mit Mitteln in Höhe von 230 000 Euro unterstützt. Diese Arbeit musste mit den Angriffen auf Kobani eingestellt werden. Zur humanitären Hilfe für die Menschen aus Kobani wird auf die Antwort zu Frage 7 und auf die Hilfen für Flüchtlinge in Suruc und Umgebung verwiesen. 3. Welche staatlichen bzw. staatlich finanzierten Hilfen aus Deutschland werden aktuell für die Region in und um die nordsyrische Stadt Kobani a) infrastrukturell (Wohngebäude, Straßen etc.), b) medizinisch (Behandlungseinrichtungen, Geräte, Medikamente etc.), c) humanitär (Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser) vorbereitet (unter Angabe der Projekte und jeweiligen Finanzmittel)? Falls keinerlei deutsche Hilfen geplant sind, warum nicht? Die Bundesregierung prüft derzeit eine Förderung humanitärer Hilfsmaßnahmen in der Stadt Kobani. Darüber hinaus prüft sie eine Unterstützung für die Aufräumarbeiten in der Stadt mit entsprechendem Gerät im Umfang von rund 220 000 Euro. Für beides hat sie unverzüglich nach der Vertreibung von ISIS mit der Stadtverwaltung, zivilgesellschaftlichen Akteuren aus Kobani und humanitären Organisationen Kontakt aufgenommen. Umfang und Art der erforderlichen Güter werden derzeit mit den lokalen Akteuren definiert. 4. Welche staatlichen bzw. staatlich finanzierten Hilfen aus Deutschland wurden bis heute für die beiden anderen mehrheitlich kurdisch besiedelten nordsyrischen Selbstverwaltungskantone Afrin und Cizire a) infrastrukturell (Wohngebäude, Straßen etc.), b) medizinisch (Behandlungseinrichtungen, Geräte, Medikamente etc.), c) humanitär (Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser) geleistet (unter Angabe der konkreten Projekte und jeweiligen Finanzmittel )? Falls keinerlei deutsche Hilfen erfolgt sind, warum nicht? Im nördlichen Teil der Provinz al-Hasakeh wurden Maßnahmen zur Konfliktprävention und zur Verbesserung der lokalen Gerichte und der Gerichtsbarkeit im Umfang von rund 224 000 Euro finanziert. Das Büro der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Gaziantep förderte Gesundheitseinrichtungen in der Stadt Afrin und deren Um- gebung in der Provinz Aleppo und unterstützte die dortige Versorgung mit Strom Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/4155 und Wasser. Im Rahmen einer Polio-Impfkampagne im Norden Syriens wurden u. a. Elemente für die Kühlkette in der Stadt Afrin, der Provinz Aleppo und der Provinz al-Hasakeh beschafft. Zur humanitären Hilfe wird auf die Antwort zu Frage 7 verwiesen. 5. Welche staatlichen bzw. staatlich finanzierten Hilfen aus Deutschland werden aktuell für die beiden anderen nordsyrischen Kantone Afrin und Cizire a) infrastrukturell (Wohngebäude, Straßen etc.), b) medizinisch (Behandlungseinrichtungen, Geräte, Medikamente etc.), c) humanitär (Versorgung mit Lebensmitteln, Trinkwasser) geplant bzw. vorbereitet (unter Angabe der konkreten Projekte und jeweiligen Finanzmittel)? Falls keinerlei deutsche Hilfen geplant sind, warum nicht? Im nördlichen Teil der Provinz al-Hasakeh wird aktuell die Förderung lokaler Projekte im Umfang von rund 156 000 Euro geprüft. Ziel ist die Förderung von Demokratie und Partizipation auf lokaler Ebene, die in besonderer Weise eine Einbindung von Frauen und jungen Menschen erlaubt. Der Syria Recovery Trust Fund (SRTF) prüft einen Projektvorschlag zur Instandsetzung des Elektrizitätsnetzes in der Provinz Aleppo im Umfang von rund 3,5 Mio. Euro. Teil des Projekts ist u. a. auch die Wartung der Umspannstation in der Stadt Afrin. Zur humanitären Hilfe wird auf die Antwort zu Frage 7 verwiesen. 6. Beabsichtigt die Bundesregierung, sich auf EU-, UN- oder einer anderen internationalen Ebene für Wiederaufbau- und/oder humanitäre Hilfen für Kobani einzusetzen, wenn ja, wie konkret, und wenn nein, warum nicht? Die Bundesregierung unterstützt die Bemühungen des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Hilfe (UN OCHA), durch finanzielle Mittel und die Zusammenstellung und Aufbereitung von Informationen zur Situation in Kobani, die Bereitstellung humanitärer Hilfe zu erleichtern und zu fördern . Die Bundesregierung hat den von den Vereinten Nationen im Sommer 2014 aufgelegten humanitären Fonds Türkei/Syrien mit bislang 6 Mio. Euro unterstützt . Der Fonds fördert humanitäre Maßnahmen von VN-Agenturen, der Rotkreuz- bzw. Rothalbmondbewegung sowie von Nichtregierungsorganisationen , insbesondere in den schwer zugänglichen Regionen im Norden und Osten Syriens. Sie prüft auch, ob der von ihr gemeinsam mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und den USA ins Leben gerufene Syria Recovery Trust Fund (SRTF) eingesetzt werden kann, um den Wiederaufbau Kobanis zu unterstützen. Sie hat dazu erste Gespräche geführt. Entsprechende Entscheidungen bedürfen allerdings der Zustimmung der in den Entscheidungsgremien des SRTF stimmberechtigten Partner. Drucksache 18/4155 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 7. Wie viele Einwohner von Kobani und Umgebung sind nach Kenntnis der Bundesregierung in die Türkei geflohen? a) Wo halten sich diese Flüchtlinge nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit auf? b) Wie viele der aus Kobani Geflohenen werden von Institutionen des türkischen Staates etwa durch die Hilfsorganisation AFAD betreut? c) Wie viele der aus Kobani Geflohenen werden von örtlichen Gemeindeverwaltungen betreut? d) Wie viele der aus Kobani Geflohenen werden von der örtlichen Bevölkerung ohne staatliche oder kommunale Beihilfe betreut? e) Wurden bislang aus Bundesmitteln finanzierte Hilfen aus Deutschland für die aus Kobani in die Türkei geflohenen Menschen geleistet, und wenn ja, um welche Hilfsleistungen in welcher Höhe handelt es sich dabei ? f) Wie ist die generelle Lebenssituation der aus Kobani Geflohenen in der Türkei bezüglich Infrastruktur, medizinischer und humanitärer Versorgung ? Während der Angriffe von ISIS auf Kobani sind mit wenigen Ausnahmen alle Menschen, die nicht unmittelbar oder mittelbar an der Verteidigung der Stadt beteiligt waren, von dort in die Türkei geflohen. Weder die türkischen Behörden noch das UNHCR verfügen über exakte Zahlen dieser Flüchtlinge, da deren Registrierung mit leichter Verzögerung begann, als eine große Zahl bereits ins Land gekommen war und viele Flüchtlinge ohne Registrierung sofort ins Hinterland weiterzogen oder grenznah in privaten Haushalten unterkamen, sich aber nicht registrieren lassen wollten. Es wird davon ausgegangen, dass weit über 200 000 Menschen aus und über Kobani nach Suruc und in andere Gegenden der Türkei kamen, insbesondere in den mehrheitlich von Kurden besiedelten Südosten . Unbestätigte Schätzungen gehen von bis zu 400 000 Menschen aus. Zum Zeitpunkt der Vertreibung von ISIS aus Kobani lebten nach Schätzungen der Stadtverwaltung von Suruc etwa 66 000 aus und über Kobani gekommene Menschen in Suruc und Umgebung, 13 200 von ihnen in sechs kommunalen Zeltlagern , 22 800 in der Stadt (private Unterbringung, Rohbauten, kommunale Gebäude ) und 30 000 in Dörfern, Weilern und Gehöften um die Stadt. 7 000 weitere waren in Lagern der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD außerhalb der Stadt untergebracht. Diese Zahlen wachsen derzeit wieder an durch Flüchtlinge, die aus anderen Teilen der Türkei nach Suruc zurückkehren, in der Hoffnung, bald nach Kobani weiterziehen zu können. Einige Tausend Flüchtlinge sind in den letzten beiden Wochen in einem weiteren inzwischen eröffneten AFAD-Lager in der Nähe von Suruc untergekommen, das Kapazitäten für bis zu 35 000 Flüchtlinge hat. Die Versorgung der Flüchtlinge in Suruc und Umgebung seit Mitte September 2014 durch die Stadtverwaltung von Suruc erfolgt mit starker Unterstützung der örtlichen Bevölkerung, dem Verband der kurdischen Kommunen in der Südosttürkei (GABB) sowie mit Unterstützung durch den Türkischen Roten Halbmond und die türkische Regierung, durch Freiwillige aus der ganzen Türkei und durch private Spenden aus dem In- und Ausland. Internationale Hilfe wird durch die Vereinten Nationen sowie durch von internationalen Gebern – darunter auch Deutschland – finanzierte humanitäre Organisationen geleistet. Flankierend zu den Bemühungen der Stadt Suruc und des Türkischen Roten Halbmondes hat die Bundesregierung die Flüchtlingshilfe in Suruc und Umgebung seit September 2014 über mehrere humanitäre Organisationen unterstützt. Diese Hilfe in Höhe von 1,9 Mio. Euro legte den Schwerpunkt auf Nahrungsmit- tellieferungen und Winterausrüstung für die kommunalen Zeltlager und die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/4155 Flüchtlinge selbst. So hat die Welthungerhilfe in den Monaten von Oktober 2014 bis Februar 2015 aus Bundesmitteln Nahrungsmittelpakete an besonders bedürftige Flüchtlingsfamilien in und um Suruc verteilt und in Abstimmung mit AFAD den türkischen Roten Halbmond bei öffentlichen Speisungen von Flüchtlingen unterstützt. Die Diakonie Katastrophenhilfe und ihr türkischer Partner Support to Life haben mit Bundesmitteln einen wichtigen Beitrag zur Winterfestmachung der Zeltlager in Suruc geleistet. CARE Deutschland/Luxemburg wurden ebenfalls Bundesmittel zur Verfügung gestellt, um im selben Zeitraum weitere dringend benötigte Hilfsgüter im Rahmen der Winterhilfe an Flüchtlinge in Suruc und Umgebung zu verteilen. Über die humanitär tätigen VN-Agenturen (insbesondere das VN-Flüchtlingskommissariat , das Welternährungsprogramm und UNICEF) sowie das Internationale Komitee des Roten Kreuzes unterstützt die Bundesregierung humanitäre Maßnahmen in allen Gouvernoraten Syriens. Darüber hinaus hat die Bundesregierung substanzielle Einzahlungen in die humanitären Fonds der Vereinten Nationen in der Türkei und in Syrien vorgenommen, über die ebenfalls Hilfsmaßnahmen in ganz Syrien, insbesondere in den schwer erreichbaren Gebieten, gefördert werden. Nach Kenntnis der Bundesregierung unterscheidet die türkische Regierung beim Umgang mit den aus Syrien kommenden Flüchtlingen weder aufgrund von regionaler Herkunft noch aufgrund sprachlicher oder religiöser Zugehörigkeit. Wie für die übrigen aus Syrien stammenden Flüchtlinge sind die Lebensumstände für die aus Kobani kommenden Menschen sehr unterschiedlich, unter anderem abhängig davon, ob sie sich haben registrieren lassen oder nicht, mittellos oder mit Ersparnissen gekommen sind, in einem Flüchtlingslager leben oder sich selbst eine Unterkunft besorgt haben, meist am Rande großer Städte in Vierteln mit einer bereits hohen Flüchtlingspopulation. Von den etwa 1,7 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei waren laut UNHCR bis zum 31. Dezember 2014 rund 1,55 Millionen registriert. Damit kommen diese Flüchtlinge in den Genuss kostenfreier ärztlicher Hilfe. 500 000 Flüchtlinge haben laut türkischem Gesundheitsministerium bislang solche Hilfe in Anspruch genommen, beispielsweise bei 35 000 Geburten oder mehreren Tausend mittleren bis schweren Operationen. Eine Arbeitsaufnahme wird in vielen Wirtschaftssektoren trotz bislang fehlender gesetzlicher Grundlage geduldet. Rund 265 000 Flüchtlinge leben derzeit in 24 Lagern (sechs Container- und 18 Zeltlager) von AFAD mit guter Gesundheits- und Schulversorgung. Auch eine einfache Berufsausbildung, Freizeitaktivitäten und psychologische Betreuung werden in diesen Lagern angeboten. Allerdings leben 84 Prozent der Flüchtlinge weiterhin außerhalb der Lager, viele in prekären Verhältnissen. Von 700 000 schulpflichtigen Kindern außerhalb der Lager werden laut UNICEF zwar 126 000 Kinder auf Kosten des türkischen Staates regulär beschult, die übrigen erhalten aber keine oder nur eine rudimentäre Schulausbildung. In besonders schwierigen Verhältnissen leben alleinstehende Frauen mit oder ohne Kinder sowie chronisch kranke und alte Menschen außerhalb der Lager. Drucksache 18/4155 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 8. Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen ist nach Kenntnis der Bundesregierung die türkisch-syrische Grenze in die drei Selbstverwaltungskantone Afrin, Kobani und Cizire passierbar für a) humanitäre Hilfe, b) Handelsgüter, c) militärische Unterstützungsgüter für die Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ der drei Kantone, d) militärische Unterstützungsgüter für andere, im Bündnis mit YPG/YPJ stehende Gruppierungen wie Peschmerga und Einheiten der Freien Syrischen Armee, e) verwundete YPG/YPJ-Kämpferinnen und -Kämpfer, f) verwundete Kämpfer der verbündeten Kräfte (Peschmerga und verbündete FSA-Brigaden)? g) Flüchtlinge aus den Kantonen und Rückkehrer, h) Baumaterialien zum Wiederaufbau insbesondere von Kobani, i) Angehörige der gegen die Kantone kämpfenden djihadistischen Gruppierungen (IS, Al Nusra u. a.), j) militärische Unterstützungsgüter für die gegen die Kantone kämpfenden djihadistischen Gruppierungen? Die Frage der Passierbarkeit der türkisch-syrischen Grenze ist für die Bundesregierung v. a. unter den Gesichtspunkten der Umsetzung von Resolution 2165 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Kampflinien und Grenzen überschreitende humanitäre Hilfe), der Umsetzbarkeit eigener Bemühungen, die unter Kontrolle der moderaten Opposition stehenden Gebiete bei der Aufrechterhaltung und dem Wiederaufbau ziviler Strukturen zu unterstützen sowie des sicheren Grenzübertritts für Flüchtlinge aus Syrien von Bedeutung. Bei den ersten beiden Punkten kommt es darauf an, sich rasch auf ständig sich verändernde Zugangsmöglichkeiten nach Syrien einzustellen. Die regelmäßig erscheinenden Übersichten von UN OCHA zum Status der verschiedenen Grenzübergänge nach Syrien aber auch die Erkenntnisse anderer grenzüberschreitend arbeitender Organisationen und von Projektpartnern in Syrien liefern der Bundesregierung dazu wichtige Informationen. Mit Stand vom 13. Februar 2015 sind von den 19 offiziellen Grenzübergängen im Nordwesten und Norden Syriens folgende Grenzübergänge für den o. g. Bedarf eingeschränkt oder uneingeschränkt nutzbar : Assagipulluyazi/Ain al-Bayda, Güvecci/Kherbet Eljoz, Cilvegözü/Bab al-Hawa, Bükülmez/Atmeh, Öncüpinar/Bab al-Salam, Mürsitpinar/Kobani/Ain al-Arab, Akcakale/Tell Abyad, Senyurt/Derbassiyeh und Nusaybin/Qamishli. Zum dritten Punkt ist vor allem der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, António Guterres, mit der türkischen Regierung im Gespräch, um syrischen Flüchtlingen bei Schutzbedarf weiterhin einen ungehinderten Zugang in die Türkei zu ermöglichen. Jenseits der offiziellen Grenzübergänge ist die rund 900 km lange türkisch-syrische Grenze kaum vollständig zu kontrollieren. Seit jeher gibt es Berichte über zahlreiche heimliche und illegale Grenzüberschreitungen von Personen und Waren in beide Richtungen. 9. Wie viele schwer verletzte Verteidigerinnen und Verteidiger der Stadt Kobani wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in türkischen Krankenhäusern behandelt? a) Wie viele in Kobani verwundete Verteidigerinnen und Verteidiger der Stadt sind nach Kenntnis der Bundesregierung am syrisch-türkischen Grenzübergang in Kobani gestorben, weil die türkischen Grenzsiche- rungsbehörden eine rechtzeitige Einreise zu einer ärztlichen Versorgung in die Türkei verhindert haben? Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9 – Drucksache 18/4155 b) Wie viele aufgrund von Verwundungen in türkischen Krankenhäusern versorgte Verteidigerinnen und Verteidiger von Kobani wurden nach Kenntnis der Bundesregierung anschließend von der türkischen Polizei festgenommen oder inhaftiert? c) Inwieweit war der Umgang der türkischen Behörden mit Verwundeten aus Kobani Gegenstand von Gesprächen deutscher Behörden mit der türkischen Seite (bitte unter Angabe der Beteiligten, Datum und der konkreten Thematik des Gesprächs)? Der Bundesregierung sind einzelne Medienmeldungen bekannt, wonach verletzte Kämpferinnen oder Kämpfer auf Seiten der Verteidiger von Kobani zur Behandlung in die Türkei gebracht worden oder wegen Verzögerungen an der Grenze gestorben oder nach Behandlung in einem türkischen Krankenhaus festgenommen worden sein sollen. Belastbare Erkenntnisse hierzu liegen nicht vor. 10. Wie viele gegen den IS kämpfende Personen aus Nicht-NATO-Staaten wurden seit Beginn der Auseinandersetzungen mit dem IS im Jahr 2014 aus der Kriegsregion zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen (bitte unter Angabe der Streitkräftezugehörigkeit, des Datums, der Verletzung und des Behandlungsorts)? Es wurden ausschließlich Angehörige der Kräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak (Peschmerga) behandelt. Am 6. Januar 2015 wurden vier Verwundete in das Bundeswehrkrankenhaus Ulm aufgenommen, am 7. Januar 2015 ein weiterer Verwundeter ebenfalls in das Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Die Verwundeten litten unter Taubheit bei Verletzungen der Trommelfelle, Amputationen der unteren und oberen Extremitäten sowie Splitterverletzungen im Kopfbereich. 11. Wurden seit Beginn der Auseinandersetzungen mit dem IS im Jahr 2014 verwundete Angehörige der YPG/YPJ aus der Kriegsregion zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen (bitte unter Angabe der Streitkräftezugehörigkeit , des Datums, der Verletzung und des Behandlungsorts)? Wenn nein, warum nicht? Es wird auf die Antwort zu Frage 10 verwiesen. 12. Nach welchen Kriterien (Streitkräftezugehörigkeit, Schwere der Verletzung , Aufenthaltsort etc.) wählt die Bundesregierung grundsätzlich verwundete Anti-IS-Kämpferinnen und -Kämpfer aus Nicht-NATO-Staaten zur Behandlung in Deutschland aus? Die Auswahl der Patienten richtet sich nach rein medizinischen Kriterien. So muss die Transportfähigkeit in einem Luftfahrzeug gegeben sein und die Patienten müssen von einer Behandlung in einem Bundeswehrkrankenhaus profitieren können. 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