Deutscher Bundestag Drucksache 18/455 18. Wahlperiode 06.02.2014 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/325 – Pläne der Europäischen Union für ein elektronisches Ein- und Ausreiseregister Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Die Europäische Kommission hat am 28. Februar 2013 das so genannte smart border package, d. h. Vorschläge für eine umfassende elektronische Grenzüberwachung mithilfe biometrischer Daten vorgelegt. Das Maßnahmenpaket enthält den Plan für ein Ein- und Ausreiseregister (Entry/Exit System, EES), mit dem alle Ein- und Ausreisen von Drittstaatsangehörigen an den EU-Außengrenzen elektronisch erfasst werden sollen, ein Programm für registrierte Reisende (Registered Traveller Programme, RTP), das automatisierte biometrische Grenzkontrollen und schnellere Einreisen für (auf freiwilliger Basis) vorab überprüfte Reisende bringen soll, und hieraus resultierende Änderungen des EU-Grenzkodex. Mit dem Einreise- und Ausreiseregister sollen das so genannte Außengrenzmanagement und die „Bekämpfung der irregulären Migration“ verbessert werden (vgl. Vorschlag der Europäischen Kommission, Ratsdokument 6928/13). Zur Begründung wird auf eine große Zahl so genannter overstayer in der EU verwiesen , d. h. Drittstaatsangehörige, die legal (mit oder ohne Visum) in die EU eingereist sind und dann über die zulässige Aufenthaltsdauer hinaus ohne Erlaubnis in der EU verbleiben. Die Zahl der irregulär in der EU lebenden Menschen wird von der Europäischen Kommission insgesamt auf 1,9 bis 3,8 Millionen geschätzt, mehrheitlich seien dies overstayer. Der EU-Plan zur Errichtung eines EES wird aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch gesehen. So ist erstens fraglich, ob sich irreguläre Einwanderung durch eine umfassende (biometrische) Datenerfassung und Datensammlung tatsächlich wirksam verhindern oder beenden lässt. Zwar wird zumindest annäherungsweise die Zahl der overstayer bekannt werden, doch nicht jede Überschreitung der ursprünglich eingeräumten Aufenthaltsdauer weist zwingend auf einen irregulären Aufenthalt hin. Wer bereits mit dem Ziel einreist, ohne Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 4. Februar 2014 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Aufenthaltstitel in der EU verbleiben zu wollen, wird untertauchen und für die Behörden trotz entsprechender Warnmeldung des EES nicht erreichbar sein. Zweitens drohen enorme Kosten des technologischen Großprojekts (die Gesamtkosten für EES und RTP belaufen sich nach der ersten Kommissionspla- Drucksache 18/455 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode nung auf 1,1 Mrd. Euro), die sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen etwa mit dem Schengener Informationssystem SIS II bei entsprechenden technischen Problemen noch vervielfachen könnten. Drittens plädiert nach Kenntnis der Fragesteller eine Mehrheit der Mitgliedstaaten dafür, die Daten des EES von Beginn an auch den Strafverfolgungsbehörden zugänglich zu machen; andernfalls stünden Kosten und Nutzen des Systems in keinem angemessenen Verhältnis. Hierdurch aber würden alle in die EU reisenden Drittstaatsangehörigen unter den Pauschalverdacht schwerer oder terroristischer Gewalttaten gestellt , der angeblich ihre anlasslose biometrische Totalerfassung rechtfertigen können soll. Die Europäische Kommission will die Frage des Zugangs der Strafverfolgungsbehörden erst nach einer zweijährigen Testphase entscheiden, doch es steht zu befürchten, dass die einmal teuer installierte Technik später auf jeden Fall auch für andere als die ursprünglich vorgegebenen Zwecke genutzt werden wird. 1. Für wie realistisch hält die Bundesregierung die bisherige Kostenkalkulation in Bezug auf das EES, auf welche Summe beläuft sich diese derzeit (bitte inhaltlich so differenziert wie möglich auflisten, EU- bzw. nationale Anteile sowie einmalige Investitionen und laufende Kosten getrennt ausweisen , zudem bitte im Zeitverlauf darstellen), und welche Kostenrisiken sieht die Bundesregierung? Bitten der Mitgliedstaaten nach einer detaillierten Darstellung der Kosten des Smart Borders Pakets und ihrer Verteilung auf den EU-Haushalt und ggf. die nationalen Haushalte ist die Europäische Kommission bislang nicht nachgekommen . Eine Bewertung der Tragfähigkeit der von der Europäischen Kommission in ihrer Folgenabschätzung vorgenommenen Kostenkalkulation (vgl. Dok. SWD(2013) 47 final) ist der Bundesregierung zum gegenwärtigen Stand der Verhandlungen nicht möglich. Die Bundesregierung berücksichtigt das KostenNutzen -Verhältnis des Vorhabens bei den Beratungen in besonderer Weise. 2. Wie hoch war die ursprüngliche Kostenkalkulation für das SIS II, wie hoch waren letztlich die tatsächlichen Kosten (EU- bzw. nationale Anteile sowie einmalige Investitionen und laufende Kosten bitte getrennt ausweisen, zudem bitte im Zeitverlauf darstellen), und welche Umstände haben zur Kostensteigerung beigetragen? Ursprünglich waren für die Entwicklung des SIS II 14,55 Mio. Euro im EUHaushalt vorgesehen. Nach Angaben der Europäischen Kommission beliefen sich die Mittelbindungen für das Projekt SIS II seit dem Jahr 2002 bis Ende Juni 2013 auf 171 699 692 Euro. Die entsprechenden Verträge umfassen Durchführbarkeitsstudien , die Entwicklung des zentralen SIS II, Unterstützung und Qualitätssicherung , das SIS-II-Netz, die Vorbereitung des Betriebsmanagements, Sicherheit, Kommunikation, Ausgaben für Dienstreisen der Sachverständigen und die Aufklärungskampagne. Seit dem Jahr 2002 bis Ende Juni 2013 wurden von diesen Mitteln 136 567 137 Euro tatsächlich ausgegeben. Der größte Teil der Gelder floss in die Entwicklung (73 566 165 Euro), das Netz (32 154 296 Euro), Unterstützung und Qualitätssicherung (13 612 454 Euro) sowie in die Vorbereitung des Betriebsmanagements in Straßburg und in Sankt Johann im Pongau (9 376 235 Euro). Für die Entwicklung der nationalen Projekte der Mitgliedstaaten wurden von der Kommission weitere 13 Mio. Euro bereitgestellt und eine Obergrenze von 715 000 Euro je Mitgliedstaat festgelegt (ein Anteil von 25 Prozent muss aus nationalen Mitteln kofinanziert werden). Letztendlich erhielten die Mitgliedstaaten eine finanzielle Unterstützung für ihre migrationsbezogenen Maßnah- men in Höhe von insgesamt 4 157 076,50 Euro. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/455 Aus Sicht der Bundesregierung führten folgende Probleme zur Kostensteigerung : – Der gewählte technische Ansatz war aufgrund der erheblichen Projektverzö- gerungen veraltet, was ständige Nachbesserungen in der Entwicklung erforderte . – Der gewählte technische Ansatz war zu komplex und nicht, wie ursprünglich gefordert, erweiterbar (skalierbar). Damit konnte die Systementwicklung nicht mit den tatsächlichen Anforderungen mithalten. – Der Vertragsnehmer hatte offensichtlich Probleme, die von ihm ausgewählten technischen Produkte zu beherrschen (z. B.: Datenbank Oracle, Middleware Bea Weblogic). 3. Rechnet die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Kostensteigerung beim SIS II damit, dass die für das EES derzeit anvisierten Kosten vermutlich zu niedrig angesetzt sind und noch steigen werden (bitte begründen), und wenn ja, mit welcher maximalen Höhe rechnet die Bundesregierung (bitte begründen)? Es wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. 4. Inwieweit hat die Bundesregierung bzw. haben andere Mitgliedstaaten der EU das Projekt des EES aufgrund der voraussichtlichen Kosten in Höhe von 1,1 Mrd. Euro oder aufgrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen infrage gestellt bzw. eine Ablehnung signalisiert oder zum Ausdruck gebracht (bitte ausführen)? Die Mitgliedstaaten sind sich einig, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis der geplanten Systeme angemessen sein muss. Einige Mitgliedstaaten haben Zweifel geäußert, ob dies bei dem derzeit vorliegenden Verordnungsvorschlag der Kommission zum EES gewährleistet ist. Dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt werden muss, wird von Deutschland, aber auch von anderen Mitgliedstaaten , immer wieder betont. 5. Wie lassen sich die voraussichtlichen Kosten in Höhe von 1,1 Mrd. Euro für das EES rechtfertigen vor dem Hintergrund, dass nach Auffassung der Fragesteller der reale Nutzen des EES eher gering sein wird (nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission: leichtere Berechnung der zulässigen Aufenthaltsdauer, Wegfall manuellen Abstempelns, statistische Aussagen zur Zahl der overstayer; bitte begründen)? Ob Kosten und Nutzen eines EES in einem angemessenen Verhältnis stehen, hängt von der Ausgestaltung des Systems im Einzelnen ab und lässt sich zum gegenwärtigen Stand der Verhandlungen noch nicht beurteilen. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 4 verwiesen. 6. Inwieweit trifft es nach Ansicht der Bundesregierung zu, dass das EES nicht oder allenfalls geringfügig zur Beendigung irregulärer Aufenthalte führen wird, weil der konkrete Aufenthaltsort untergetauchter Personen nicht durch eine Warnmeldung des EES über eine Überschreitung der legalen Aufenthaltsdauer bekannt wird (bitte ausführen) und dass das Ziel besserer Drucksache 18/455 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode statistischer Angaben zur Zahl der overstayer die Einführung des EES nicht rechtfertigen kann? Inwieweit ein EES zur Beendigung illegaler Aufenthalte beitragen könnte, hängt von seiner Ausgestaltung im Einzelnen ab. Es ist unstrittig, dass bessere statistische Erkenntnisse zur Zahl der overstayer allein die Einführung eines EES nicht rechtfertigen können. 7. Inwieweit trifft es nach Ansicht der Bundesregierung zu, dass eine Warnmeldung im EES kein ausreichender Hinweis auf eine (vermeintlich) illegale Überschreitung der Aufenthaltsdauer ist, weil es diverse Fallkonstellationen gibt, in denen ein ursprünglich nur kurzfristig geplanter Aufenthalt legal verlängert werden oder in einen langfristigen Aufenthalt übergehen kann, in welchen Fallkonstellationen ist dies nach deutschem Recht der Fall (z. B. plötzliche Erkrankung, Heirat, Arbeitsaufnahme), und welche Vernetzungen mit anderen Datensystemen über den Aufenthaltsstatus von Drittstaatsangehörigen sind in diesem Zusammenhang geplant, um „Fehlmeldungen “ zu vermeiden? Bei der Warnmeldung nach Artikel 10 Absatz 2 des EES-Verordnungsentwurfs (EES-VO-E) handelt es sich nach dem Verständnis der Bundesregierung um eine widerlegbare Vermutung. Für den Fall, dass der Drittstaatsangehörige nachweisen kann, dass er durch ein unvorhersehbares, ernstes Ereignis gezwungen war, die zulässige Aufenthaltsdauer zu überziehen, sieht Artikel 21 Absatz 2 EES-VO-E vor, dass die in Artikel 10 Absatz 2 EES-VO-E genannten Daten (Warnmeldung) unverzüglich zu löschen sind. Im Übrigen sieht Artikel 33 Absatz 1 des Visakodexes die Verlängerung eines Kurzzeitvisums für den Fall vor, dass der Betroffene aus Gründen höherer Gewalt oder aus humanitären Gründen an einer rechtzeitigen Ausreise gehindert ist. Eine Verlängerungsmöglichkeit besteht gemäß Artikel 33 Absatz 2 des Visakodexes ferner, wenn schwerwiegende persönliche Gründe eine Verlängerung rechtfertigen. Für visumfreie Drittstaatsangehörige sieht Artikel 20 Absatz 2 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) die Möglichkeit vor, dass die Mitgliedstaaten den Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen in ihrem Hoheitsgebiet in Ausnahmefällen über den Zeitraum von 90 Tagen hinaus verlängern können. Die Bundesregierung wird sich in den Verhandlungen dafür einsetzen, dass auch in diesen Fällen ein fehlerhafter Eintrag stets schnell und in einem unbürokratischen Verfahren korrigiert werden kann. Auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen längerfristigen Aufenthalt auf der Grundlage des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ist grundsätzlich möglich , wenn die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Für den Fall, dass der Drittstaatsangehörige zwischenzeitlich eine Aufenthaltsberechtigung erworben hat, sieht Artikel 21 Absatz 2 EES-VO-E ebenfalls vor, dass die in Artikel 10 Absatz 2 EES-VO-E genannten Daten unverzüglich zu löschen sind. 8. Inwieweit hat die Bundesregierung die mit dem Berichtsbogen des Bundesministeriums des Innern vom 18. März 2013 zum Vorschlag für eine EESVerordnung angekündigte eingehendere Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Regelungen im Einzelnen inzwischen mit welchem Ergebnis vorgenommen (bitte detailliert darlegen, und wenn dies nicht erfolgt ist, warum nicht)? Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/455 Die Verhältnismäßigkeit eines Rechtsaktes lässt sich nur in seiner Gesamtschau beurteilen. Ebenso wie die Verhandlungen zu dem Rechtsetzungsvorschlag der Europäischen Kommission dauert auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit noch an. 9. Inwieweit sieht die Bundesregierung angesichts der Verlaufs der Verhandlungen auf EU-Ebene die im Berichtsbogen des Bundesinnenministeriums vom 18. März 2013 zum Vorschlag für eine EES-Verordnung notierten Zielsetzungen des besonderen deutschen Interesses (angemessenes Kosten -Nutzen-Verhältnis, Gewährleistung des Datenschutzes, Sicherstellung einer zügigen Grenzabfertigung) als realisierbar bzw. gefährdet an (bitte differenziert nach einzelnen Zielsetzungen darlegen)? Aus den Verhandlungen auf EU-Ebene hat die Bundesregierung den Eindruck gewonnen, dass die in dem Berichtsbogen vom 18. März 2013 genannten besonderen deutschen Interessen mit den Interessen der Mehrheit der anderen Mitgliedstaaten übereinstimmen. Die Bundesregierung ist daher zuversichtlich, dass diesen Interessen bei der Ausgestaltung des Smart Borders Pakets angemessen Rechnung getragen wird. 10. Was folgte daraus, dass im Berichtsbogen des Bundesinnenministeriums vom 18. März 2013 zum Vorschlag für eine EES-Verordnung zu den finanziellen Auswirkungen notiert wurde, dass die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Finanzausstattung kritisch zu sehen sei, und welche Einschätzung hat die Bundesregierung aktuell zu dieser Frage (bitte darlegen)? Es wird auf die Antwort zu den Fragen 4 und 5 verwiesen. 11. Mit welcher Begründung haben einzelne Mitgliedstaaten im Rahmen der Verhandlungen auf EU-Ebene Zweifel am Mehrwert des EES geäußert, wenn dieses nicht auch von Strafverfolgungsbehörden genutzt werden könne, und wie ist die Position der Bundesregierung hierzu (bitte ausführen )? Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hat sich für einen Zugang zum EES zu Zwecken der Verhütung und Verfolgung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten ausgesprochen. Eine Reihe von Mitgliedstaaten äußerte Zweifel am Kosten-Nutzen-Verhältnis, wenn das EES nicht auch zur Verhütung und Verfolgung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten genutzt werden könne. Die Meinungsbildung der Bundesregierung zu dieser Frage ist noch nicht abgeschlossen. 12. Wie und mit welcher Begründung haben sich die Mitgliedstaaten und insbesondere die Bundesregierung sowie die Europäische Kommission zu der Frage des Zugangs von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zum EES positioniert? a) Bei welchen Deliktsformen, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen und in welchem konkreten Verfahren soll ein Zugriff möglich sein? b) Soll ein Zugriff von Strafverfolgungsbehörden ab Inkrafttreten des EES gewährleistet sein, erst nach einer Übergangszeit und einer Verhältnismäßigkeitsprüfung oder gar nicht? Drucksache 18/455 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hat sich dafür ausgesprochen, von Anfang an einen Zugang zum EES zu Zwecken der Verhütung und Verfolgung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten vorzusehen. Der Verordnungsentwurf der Kommission sieht die Prüfung eines solchen Zugangs zwei Jahre nach Inbetriebnahme des EES vor. Die Voraussetzungen und das konkrete Verfahren eines solchen Zugangs wurden bislang noch nicht erörtert. Die Meinungsbildung der Bundesregierung zu dieser Frage ist noch nicht abgeschlossen (siehe auch die Antwort zu Frage 11). 13. Inwieweit ist ein Zugang von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zum EES, der auf eine biometrische Erfassung aller kurzfristig einreisenden Drittstaatsangehörigen hinausläuft, vereinbar mit verfassungsgerichtlichen Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung und dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie mit datenschutzrechtlichen Grundsätzen wie Zweckbindung, Datensparsamkeit, Erforderlichkeit und anderen? Die Frage lässt sich nicht abstrakt, sondern nur anhand eines konkreten Regelungsvorschlags beantworten. Ein solcher liegt bislang nicht vor. 14. Welche Voraussetzungen, Einschränkungen und Bedingungen müssten demnach für etwaige Zugriffe von Strafverfolgungsbehörden auf das EES gelten, und wie vertritt die Bundesregierung diese Auffassung in den entsprechenden Verhandlungen auf EU-Ebene? Es wird auf die Antwort zu den Fragen 12 und 13 verwiesen. 15. Wie sind die Fragen 13 und 14 zur Verhältnismäßigkeit, Verfassungsmäßigkeit und zum Datenschutz zu beantworten, wenn insbesondere auch noch das Zusammenwirken mehrerer elektronischer Datensysteme berücksichtigt wird (z. B. SIS II, VIS, EuroODAC), die zusätzlich zum EES Drittstaatsangehörige in der EU erfassen? Das Zusammenwirken eines EES mit bereits vorhandenen Systemen ist bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit, der Verhältnismäßigkeit und der Vereinbarkeit mit datenschutzrechtlichen Bestimmungen mit zu berücksichtigen. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen (siehe auch die Antwort zu Frage 8). 16. Welche Erfahrungen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung bislang mit dem Zugriff von (Sicherheits-)Behörden auf das Visa-Informationssystem (VIS) zur Verhütung, Aufdeckung oder Ermittlung terroristischer oder sonstiger schwerwiegender Straftaten (Artikel 3 der VIS-Verordnung ) gemacht (bitte auch konkrete Zahlen pro Jahr seit 2008 aufführen)? Die nach dem Gesetz über den Zugang von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden sowie Nachrichtendiensten zum Visa-Informationssystem vom 6. Mai 2009 (BGBl. I S. 1034) zum Visa-Informationssystem (VIS) zugangsberechtigten Behörden können seit September 2013 zum Zweck der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung von terroristischen und sonstigen schwerwiegenden Straftaten Daten aus dem VIS abfragen. Nach Artikel 17 des Beschlusses 2008/633/JI des Rates vom 23. Juni 2008 über den Zugang der benannten Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol zum Visa-Informationssystem (VIS) für Datenabfragen zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten (ABl. L 218 vom 13.8.2008, S. 129) übermittelt die Verwaltungsbe- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/455 hörde, d. h. die Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen , zwei Jahre nach der Inbetriebnahme des VIS und danach alle zwei Jahre dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission einen Bericht über die technische Funktionsweise des VIS. Drei Jahre nach der Inbetriebnahme des VIS und danach alle vier Jahre erstellt die Kommission eine Gesamtbewertung des VIS, die an das Europäische Parlament und den Rat übermittelt wird. Die Mitgliedstaaten stellen der Verwaltungsbehörde und der Kommission die für die Ausarbeitung der genannten Berichte erforderlichen Informationen zur Verfügung. In diesem Rahmen wird auch die Bundesregierung den erforderlichen Beitrag, voraussichtlich erstmals in rund zwei Jahren, leisten. Darüber hinaus führt die Bundesregierung keine Statistik zur Nutzung des VIS zum Zweck der Verhütung, Aufdeckung und Ermittlung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten. a) Wie ist die allgemeine Einschätzung der Bundesregierung zur Nutzung der Daten aus dem VIS durch Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder? Auf die Antwort zu Frage 16 wird verwiesen. b) In welchem Umfang wurden bislang von welchen deutschen Sicherheitsbehörden Daten aus dem VIS abgefragt, und wie viele Treffer gab es dabei? Im Zeitraum vom 1. September 2013 bis 27. Januar 2014 (08:00 Uhr) wurden in 496 Fällen von deutschen Bundessicherheitsbehörden und in 88 Fällen von deutschen Landessicherheitsbehörden Daten aus dem VIS abgefragt. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 16 verwiesen; entsprechende Statistiken werden von der Bundesregierung nicht geführt. c) Was ist der Bundesregierung zum Umfang der Datenabfrage durch die Sicherheitsbehörden anderer Teilnehmerstaaten des VIS bekannt (soweit möglich, nach Staaten und Behörden auflisten)? Auf die Antwort zu Frage 16 wird verwiesen. d) In wie vielen Fällen gab es durch deutsche Behörden Anfragen an das VIS, bei denen in dringenden Fällen erst nachträglich das Vorliegen aller Zugangsvoraussetzungen geprüft wurde (Artikel 3 Absatz 2 Satz 3 der VIS-Verordnung), und in wie vielen dieser Fälle ergab die nachträgliche Überprüfung nach Artikel 3 Absatz 2 Satz 4 der VIS-Verordnung , dass die Zugangsvoraussetzungen nicht vorlagen? Im Zeitraum vom 1. September 2013 bis 27. Januar 2014 (08:00 Uhr) gab es in sechs Fällen von deutschen Bundessicherheitsbehörden und in acht Fällen von einer Landessicherheitsbehörde Anfragen an das VIS in dringenden Fällen nach Artikel 3 Absatz 2 Satz 3 VIS-VO. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 16 verwiesen; entsprechende Statistiken werden von der Bundesregierung nicht geführt. e) In wie vielen Fällen wurden Daten aus dem VIS (insgesamt bzw. durch deutsche Behörden) an Drittländer oder internationale Organisationen übermittelt oder ihnen zugänglich gemacht (bitte nach Jahren sowie Organisationen bzw. Ländern differenzieren)? Auf die Antwort zu Frage 16 wird verwiesen; entsprechende Statistiken werden von der Bundesregierung nicht geführt. Drucksache 18/455 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 17. Welche Überlegungen bestehen innerhalb der Bundesregierung bezüglich der Sicherheitsbehörden, die Zugriff auf das EES erhalten sollten, und wären dies, wie im Falle des VIS, ebenfalls neben den Bundesbehörden und den Bundespolizeidirektionen fast sämtliche Landesämter für Verfassungsschutz , Landeskriminalämter, Polizeidirektionen und Staatsanwaltschaften (vgl. Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/6223, Anlage zu Frage 8), insgesamt also 287 Behörden? Die Frage ist angesichts des Beratungsstandes (siehe auch Antwort zu Frage 12) noch hypothetisch. Die Bundesregierung hat sich daher mit dieser Frage bislang noch nicht befasst. 18. Welche Erfahrungen wurden bislang mit dem Zugriff von Behörden zur Verhütung, Aufdeckung oder Ermittlung terroristischer oder sonstiger schwerwiegender Straftaten auf die EuroODAC-Datenbank entsprechend der geänderten EuroODAC-Verordnung vom 26. Juni 2013 gemacht (bitte die Antwort entsprechend der Antwort zu Frage 16 aufschlüsseln)? Die Änderungen der Eurodac-Verordnung sind noch nicht umgesetzt, somit liegen noch keine Erfahrungen vor. 19. Inwieweit sieht die Bundesregierung mögliche (vor allem technische) Schwierigkeiten für den Aufbau eines EU-weiten EES dadurch, dass die Mitgliedstaaten mit bereits bestehenden nationalen EES (bitte, soweit nach Kenntnis der Bundesregierung möglich, auflisten) das Interesse haben , ihre bisherigen Systeme weiter nutzen zu können? Nach Kenntnis der Bundesregierung verfügen folgende 14 Mitgliedstaaten über ein nationales Ein-/Ausreisesystem: Finnland, Estland, Spanien, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien , Bulgarien, Zypern, Portugal, Malta und das Vereinigte Königreich. Ob und inwieweit bestehende nationale Ein-/Ausreisesysteme im Rahmen eines europäischen EES weitergenutzt werden können, wird die Kommission zu gegebener Zeit prüfen. 20. Welche Bewertungen des EES im Allgemeinen und eines möglichen Zugangs der Strafverfolgungsbehörden hierzu im Besonderen haben der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, der Europäische Datenschutzbeauftragte und die Artikel-29-Datenschutzgruppe wann abgegeben? Falls solche nicht vorliegen, wird die Bundesregierung sie veranlassen, und wenn nein, warum nicht? Der Europäische Datenschutzbeauftragte hat am 18. Juli 2013 und die Artikel- 29-Gruppe am 6. Juni 2013 schriftlich zu dem Smart Borders Paket Stellung genommen . Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit hat das Smart Borders Paket in seinem 24. Tätigkeitsbericht thematisiert. Die Stellungnahmen sind über das Internet öffentlich zugänglich. 21. Inwieweit trifft es zu, dass die Europäische Kommission einen Zugriff von Strafverfolgungsbehörden auf das EES zeitgleich mit dem Inkrafttreten des EES mit dem Argument ablehnt, dass keine Prognose möglich sei, in- wieweit dies zur Aufklärung von Straftaten führen könne und schon deshalb die gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung für eine solche Regelung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9 – Drucksache 18/455 nicht möglich sei, und wie steht die Bundesregierung zu dieser Argumentation (bitte ausführen)? Die Europäische Kommission hat ihren Vorschlag, den Zugang zum EES zu Zwecken der Verhütung und Verfolgung terroristischer und sonstiger schwerwiegender Straftaten erst zwei Jahre nach Inbetriebnahme des EES zu prüfen, insbesondere damit begründet, dass zunächst Erfahrungen mit dem Zugang zum VIS gesammelt werden sollten. Nach einer von der litauischen Ratspräsidentschaft durchgeführten Befragung der Mitgliedstaaten könnte ein solcher Zugriff geeignet sein, die Aufklärung und den Nachweis bestimmter, insbesondere grenzüberschreitender Straftaten zu erleichtern. Die Meinungsbildung der Bundesregierung zu dieser Frage ist noch nicht abgeschlossen. 22. Wie haben sich die Mitgliedstaaten und insbesondere die Bundesregierung zu der Frage der Erfassung von (welchen) biometrischen Daten im EES verhalten, und welche Position der Europäischen Kommission gibt es zu dieser Frage (bitte ausführen)? Die Frage der Erfassung biometrischer Daten wird voraussichtlich Teil einer von der Europäischen Kommission geplanten Studie sein, die voraussichtlich im Zeitraum von März bis September 2014 durchgeführt wird. Die Ergebnisse dieser Studie bleiben abzuwarten. 23. Wie haben sich die Mitgliedstaaten und insbesondere die Bundesregierung zu der Frage einer Ausweitung des EES auch auf längerfristige Aufenthalte von Drittstaatsangehörigen verhalten, und welche Position der Europäischen Kommission gibt es zu dieser Frage (bitte ausführen)? Mehrere Mitgliedstaaten haben sich im Rat für eine Ausweitung des EES auch auf längerfristige Aufenthalte von Drittstaatsangehörigen ausgesprochen. Die Europäische Kommission hat hierauf sehr zurückhaltend reagiert. Die Bundesregierung hat sich zu dieser Frage noch keine abschließende Meinung gebildet. 24. Mit welchen Auswirkungen auf die Wartezeiten bei Grenzkontrollen infolge des EES ist zu rechnen? Die Frage lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht beantworten. Durch das Registrierungsprogramm für Reisende (RTP), das zusammen mit dem EES Gegenstand der Smart Borders Initiative ist, soll für registrierte Reisende eine Beschleunigung von Kontrollprozessen bei der Grenzabfertigung erreicht werden. Darüber hinaus setzt sich die Bundesregierung für einen unionsweiten Ausbau automatisierter Grenzkontrollen auch für Unionsbürger ein. 25. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass auch von bisher von der Visumpflicht befreiten Drittstaatsangehörigen im Zuge der Errichtung des EES künftig biometrische Daten (Fingerabdrücke) erfasst werden sollen? Die Meinungsbildung der Bundesregierung in dieser Frage, bei der auch außenpolitische Erwägungen eine wichtige Rolle spielen, ist noch nicht abgeschlossen . Drucksache 18/455 – 10 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 26. Was genau ist das deutsche Interesse daran, automatisierte Grenzkontrollen auch für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger außerhalb des RTP vorzusehen (vgl. Berichtsbogen des Bundesinnenministeriums vom 18. März 2013 zum Ratsdokument 6931/13), und wie soll dies realisiert werden (bitte ausführen)? Circa zwei Drittel der Außengrenzübertritte erfolgen durch Unionsbürgerinnen und Unionsbürger. Die Einführung automatisierter Grenzkontrollsysteme mit der Möglichkeit zur (freiwilligen) Nutzung für Staatsangehörige der EU, des EWR und der Schweiz ist mit Blick auf die steigenden Passagierzahlen und die begrenzten Personalressourcen im Bereich der Grenzkontrolle ein wichtiges Instrument zur Unterstützung der eingesetzten Beamten. Die Nutzung automatisierter Grenzkontrollen kann insgesamt erheblich zur Beschleunigung der Grenzabfertigung beitragen. Mehrere Schengenstaaten nutzen bereits Systeme automatisierter Grenzkontrolle . In Deutschland werden mit dem Aufbau des EasyPASS-Systems an den fünf passagierstärksten Flughäfen Frankfurt am Main, Düsseldorf, Hamburg, München und später auch Berlin in den Jahren 2014 und 2015 rund 100 eGates eingerichtet, die dem höheren Fluggastaufkommen Rechnung tragen. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 24 verwiesen. 27. Welche Technologie- oder Rüstungskonzerne sind nach Kenntnis der Bundesregierung dazu in der Lage, Großsysteme wie das EES oder das RTP zu verwirklichen, und inwieweit hat die Bundesregierung überprüft, ob diese Konzerne im Rahmen ihrer allgemeinen Lobbytätigkeit oder durch das Erstellen von Machbarkeitsstudien (auch im Auftrag der EU) Einfluss auf die Entwicklung des smart border package genommen haben oder nehmen könnten, an wen sind die Aufträge zur Planung bzw. zur technischen Realisierung des EES vergeben worden, bzw. wann ist die Ausschreibung mit welchem Text erfolgt oder zu erwarten? Die Vergabe der technischen Realisierung des EES setzt zunächst die Verabschiedung einer entsprechenden Rechtsverordnung voraus. Nach derzeitigem Stand ist hiermit frühestens Mitte 2016 zu rechnen. Die Bundesregierung hat keine Erkenntnisse, dass Technologie- oder Rüstungskonzerne auf die Verhandlungen zum Smart Borders Paket Einfluss nehmen oder genommen haben. 28. Welche Erfahrungen und Probleme sind der Bundesregierung mit Einbzw . Ausreisesystemen anderer Länder bekannt, insbesondere anderer EU-Mitgliedstaaten und der USA? Soweit der Bundesregierung bekannt ist, haben sowohl die EU-Mitgliedstaaten, die über ein nationales Ein- und Ausreisesystem verfügen, als auch die USA überwiegend positive Erfahrungen mit ihren Systemen gemacht. Insbesondere der Mehrwert eines Zugangs zu Zwecken der Verhütung und Verfolgung von Straftaten wurde von den EU-Mitgliedstaaten, die über entsprechende Systeme verfügen, im Rahmen einer Umfrage im Rat unter litauischer Präsidentschaft bestätigt . Auf die Antwort zu Frage 21 wird verwiesen. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333