Deutscher Bundestag Drucksache 18/4576 18. Wahlperiode 09.04.2015 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 18/4477 – Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Am 26. April 2015 jährt sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zum 29. Mal. Hunderttausende verloren damals ihre Heimat und noch immer sind Regionen in der Ukraine und in Belarus durch die damals freigesetzte Strahlung verseucht. Das traurige Erbe von Tschernobyl wird auch für kommende Generationen eine große Herausforderung darstellen. Tschernobyl wird für immer ein Symbol für die unkalkulierbaren Risiken der Atomenergie bleiben. Auch nach so vielen Jahren ist die Situation vor Ort nicht wirklich unter Kontrolle . Geplant ist schon lange die Fertigstellung des neuen sicheren Einschlusses (sogenannter Sarkophag), der eine weitere Gefährdung der Bevölkerung und der Umwelt durch radioaktive Strahlung verhindern soll, da der bisherige Betonschutz brüchig geworden ist. Mehrmals kam es in der Vergangenheit zu Verzögerungen und Finanzierungsschwierigkeiten am Bau. Im September 2014 drohte sogar ein Baustopp für Anfang dieses Jahres. Die Sicherung der Anlage hat bereits jetzt erhebliche Finanzmittel in Anspruch genommen. Im Jahr 2007 beliefen sich die geschätzten Kosten des Projekts noch auf 622 Mio. Euro. Doch nun sollen die gesamten Kosten für den Bau des Sarkophags, die von der internationalen Gemeinschaft getragen werden, 2,15 Mrd. Euro betragen . Seit Juni 2014 hat die Bundesrepublik Deutschland den G7-Vorsitz inne. Im Rahmen der Präsidentschaft kommt ihr bei der Bereitstellung zusätzlicher Finanzmittel eine Schlüsselrolle zu. Darüber hinaus ist die aktuelle Sicherheitslage der Atomkraftwerke in der Ukraine wegen der anhaltenden Kämpfe in der Region weiterhin unsicher und gibt Grund zur Beunruhigung. Zahlreiche Expertinnen und Experten haben mehrfach ihre Sorgen um die Sicherheit der Atomkraftwerke zum Ausdruck gebracht. Ein absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführter Reaktorunfall hätte direkte Folgen für ganz Europa, wie Tschernobyl in tragischer Weise bewiesen hat. Vor allem das Atomkraftwerk Saporischschja, mit insgesamt sechs Reaktorblöcken das leistungsstärkste Atomkraftwerk (AKW) Europas, ist besonders gefährdet. Es steht nicht nur in unmittelbarer Nähe zu den umkämpften Gebieten in der Ostukraine, sondern es hat besonders im Dezember 2014 für negative Schlagzeilen gesorgt. Gleich zwei Mal musste ein Reaktor nach einer Panne notabgeschaltet werden. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit vom 8. April 2015 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Auch der Einsatz von Brennstäben der US-Firma Westinghouse in den Reaktoren russischer Bauart im AKW Süd-Ukraine stellt ein Problem dar. Es ist bekannt, dass sich einzelne Brennelemente verbogen haben. Derzeit läuft ein Genehmigungsverfahren für ein modifiziertes Brennelement (vgl. Antwort der Bundesregierung zu Frage 11 auf Bundestagsdrucksache 18/3521). Drucksache 18/4576 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode Es ist besorgniserregend, dass die Ukraine trotz zahlreicher Störfälle in der Vergangenheit und der aktuell unsicheren Lage im Land noch immer an der Atomkraft als wichtigstem Energieträger des Strommix festhält. 1. Wie viele Gelder wurden der Ukraine nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Jahr 2013 zur Instandhaltung ihrer Atomanlagen bewilligt und durch wen (mit der Bitte um detaillierte Auflistung)? In den 15 ukrainischen Kernkraftwerksblöcken wird nach Kenntnis der Bundesregierung im Zeitraum von 2012 bis 2017 ein Modernisierungsprogramm umgesetzt , um das Sicherheitsniveau zu erhöhen. Die Gesamtkosten der Modernisierungen belaufen sich nach vorliegenden Informationen auf etwa 1,4 Mrd. Euro. Durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) sowie Euratom wurden hierfür Kredite von jeweils bis zu 300 Mio. Euro zugesagt. Der Bundesregierung liegen keine Informationen darüber vor, dass internationale Gelder für Instandhaltung und Betrieb ukrainischer Kernkraftwerke bereitgestellt wurden. 2. Wie weit sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Arbeiten an der Errichtung des neuen sicheren Einschlusses vorangeschritten? Nach Kenntnis der Bundesregierung sind die Arbeiten zu etwa zwei Dritteln abgeschlossen . 3. Wie belastbar ist nach Kenntnis der Bundesregierung eine Fertigstellung bis zum Jahr 2017? Die Bundesregierung geht nach derzeitigem Kenntnisstand davon aus, dass die jetzige Terminplanung mit Fertigstellung November 2017 eingehalten werden kann. 4. Welche Gefahren sieht die Bundesregierung bezüglich der späten Fertigstellung des Sarkophags (unter Berücksichtigung der Tatsache, dass dem bisherigen Betonschutz lediglich eine Standfestigkeit von maximal 25 Jahren , also bis zum Jahr 2011, bescheinigt wurde; vgl. www.klimaretter.info vom 6. Januar 2015 „Tschernobyl – Baustopp abgewendet“)? Im Rahmen der Errichtung des neuen sicheren Einschlusses (New Safe Confinement – NSC) wurden zunächst Stabilisierungsmaßnahmen am Sarkophag zur Verbesserung der Standfestigkeit durchgeführt. Dadurch soll sichergestellt werden, dass mit der jetzt geplanten Fertigstellung des NSC bis Ende 2017 keine Gefahrenlage entsteht. 5. Wie viel Geld fehlt nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit noch, um den Bau des Sarkophags zu gewährleisten? Für die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich unter Zugrundelegung des von den G7-Staaten und der Europäischen Kommission in der Vergangenheit vereinbarten Verteilungsschlüssels (Historical Burden Sharing) ein Betrag von rund 18 Mio. Euro. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4576 6. Welche Optionen hat die Bundesregierung entwickelt, um die Finanzierungslücke für den Sarkophag zu schließen? Die Schließung der Finanzierungslücke ist eine Gemeinschaftsaufgabe aller Geber . In diesem Sinne setzt sich die Bundesregierung als derzeitiger G7-Vorsitz aktiv dafür ein, dass alle Geber zusammen die notwendigen Mittel zur Deckung aufbringen. 7. Wie kann nach Auffassung der Bundesregierung gewährleistet werden, dass es nicht zu weiteren Ausgaben und möglichen Finanzierungslücken kommt? In Abstimmung mit den anderen Gebern hat sich die Bundesregierung aktiv dafür eingesetzt, dass erkennbare Risiken berücksichtigt und Maßnahmen zur Kostenbegrenzung ergriffen werden. Dies war Voraussetzung für alle Geber, sich an der Schließung der Finanzierungslücke von 615 Mio. Euro zu beteiligen. 8. Welche Erkenntnisse haben sich für die Bundesregierung aus der Sitzung der Nuclear Safety and Security Group ergeben, die für den 25. und 26. Februar 2015 terminiert war (vgl. Antwort der Bundesregierung zu Frage 19 auf Bundestagsdrucksache 18/3521)? Im Rahmen der Sitzung der G7 Nuclear Safety and Security Group (NSSG) wurde seitens der EBWE positiv über den Projektfortschritt informiert. Die G7 führen weiterhin intensive Gespräche über die Finanzierungsmöglichkeiten. 9. Welche Themen sollen auf der Geberkonferenz am 29. April 2015 in London besprochen werden, und wer genau wird daran teilnehmen (bitte mit Angabe von Tagesordnung und Teilnehmerinnen und Teilnehmern)? Im Rahmen der Geberkonferenz des Chernobyl Shelter Fundes (CSF) am 29. April 2015 werden die Vertreter der Geberstaaten über den aktuellen Stand des Projekts sowie die aktuelle finanzielle Situation informiert. Im Anschluss daran wird unter der Leitung des Staatssekretärs bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Jochen Flasbarth, im Rahmen der deutschen G7-Präsidentschaft ein Pledging Event, zu dem über die bisherigen Geber hinaus auch weitere potenzielle Geber eingeladen wurden, stattfinden. 10. Welche weiteren Problemfelder gibt es nach Einschätzung der Bundesregierung bei der Anlage in Tschernobyl? Die Ukraine bewältigt am Standort Tschernobyl wichtige Aufgaben zur Aufrechterhaltung des sicheren Nachbetriebs der Blöcke 1 bis 3 und zur Gewährleistung der Sicherheit des havarierten Reaktors von Block 4 sowie der existierenden Entsorgungsanlagen für radioaktiven Abfall und für die abgebrannten Brennelemente. Ebenso erfolgen Arbeiten zur Gewährleistung der Sicherheit und Sicherung in der 30-km-Sperrzone und am Kraftwerksstandort selbst. Drucksache 18/4576 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 11. Welche Arbeiten werden nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit zur Überführung des Unfallstandorts Tschernobyl in ein ökologisch sicheres Gebiet durchgeführt, und wie weit sind die Maßnahmen fortgeschritten (bitte mit genauer Angabe, um welche einzelnen Maßnahmen es sich handelt und durch wen sie bis wann realisiert werden sollen)? Am Unfallstandort befinden sich technische Anlagen zur zielgerichteten und geordneten Erfassung, Behandlung und Entsorgung von radioaktiven Abfällen und abgebrannten Brennelementen in Bau, im Probebetrieb oder in einer ersten Betriebsphase . Dies betrifft insbesondere folgende mit internationaler Unterstützung errichtete Anlagen: – Anlage zur Behandlung flüssiger radioaktiver Abfälle (LRTP) – Anlage ist dem Kraftwerksbetreiber übergeben, Betriebsgenehmigung ist seit Dezember 2014 erteilt; – Industrieller Komplex zur Behandlung fester radioaktiver Abfälle (ICSRM) – Anlagen sind dem Kraftwerksbetreiber übergeben, derzeit erfolgt der Probebetrieb und es werden die Antragsunterlagen für die Dauerbetriebsgenehmigung erarbeitet; – Langzeitzwischenlager für abgebrannte Brennelemente (ISF-2) – zuständig ist die US-Firma Holtec. Das Bauende ist für 2016, die Inbetriebsetzung für 2017 geplant. Aktuell erfolgt die Fertigstellung des Designs für das Prozessgebäude , Bauaktivitäten am Standort wurden begonnen. 12. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung bei diesen Maßnahmen ebenfalls bekannte Verzögerungen, und wenn ja, welche Kosten ziehen sie nach sich? Der Bundesregierung liegen derzeit keine Informationen über Verzögerungen bei der Fertigstellung des Langzeitzwischenlagers für abgebrannte Brennelemente vor. Nach Kenntnis der Bundesregierung geht die Firma Holtec von der Einhaltung des in der Antwort zu Frage 11 genannten Zeitplans aus. Die anderen genannten Projekte wurden bereits fertiggestellt. 13. Wie weit sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Planungen für das Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente in Tschernobyl vorangeschritten ? Auf die Antworten zu den Fragen 11 und 12 wird verwiesen. 14. Unterstützt die Bundesregierung, auch im Rahmen der G7, die Ukraine bei der Konzeptionierung zur Entnahme der kontaminierten Materialien, und wenn nein, wieso nicht (bitte mit Erläuterung)? Die Bundesregierung unterstützt im Rahmen des CSF die Ukraine auch bei der Entwicklung einer Strategie zur Entsorgung der kontaminierten Materialien. 15. Wann ist nach Kenntnis der Bundesregierung mit einer Entnahme der kontaminierten Materialien in Tschernobyl zu rechnen? Die Entnahme der kontaminierten Materialien aus dem Sarkophag kann erst nach Fertigstellung des NSC und dem Rückbau des Sarkophags in Angriff ge- nommen werden. Genaue Zeitpläne existieren noch nicht. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/4576 16. Inwieweit wird bei den Abstimmungen zwischen der Bundesregierung und ihren Partnern bezüglich der Deeskalation des russisch-ukrainischen Konflikts auch die Sicherheitslage an den Atomanlagen thematisiert? Die Sicherheitslage an den Atomanlagen wird nicht explizit thematisiert. 17. Führt die Bundesregierung eigene Gespräche zur Sicherheitslage an den Atomkraftwerken, und wenn ja, mit wem und mit welchem Ergebnis? Nein. 18. Welche genauen Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Empfehlungen , die von dem NATO-Expertenteam gegenüber der Ukraine ausgesprochen worden sind (vgl. Antwort der Bundesregierung zu Frage 3 auf Bundestagsdrucksache 18/3521)? Die zuständigen ukrainischen Behörden identifizierten vier Empfehlungen des NATO-Expertenteams als prioritär: Verbesserung und Entwicklung des Systems der zivilen Notfallplanung, Einrichtung eines einheitlichen automatisierten Systems zur Überprüfung radiologischer Messwerte, Festlegung von Erfordernissen für die Bewertung von zivilen Bedrohungen und Entwicklung eines wissenschaftlichen Zentrums für radiologische Medizin an der Akademie für Medizinische Wissenschaften der Ukraine. 19. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Umsetzung der Empfehlungen zur Verbesserung der zivilen Nofallpläne? Der Bundesregierung liegen dazu keine eigenen Erkenntnisse vor. 20. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über eine bis zu 16fache Erhöhung der Radioaktivität in unmittelbarer Nähe des Reaktors von Saporischschja in den letzten Dezembertagen 2014 („Auf dem Pulverfass“ von Bernhard Clasen in Publik-Forum 1/2015)? Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit hat in einer Pressemitteilung vom 28. Dezember 2014 zu dieser Frage dahingehend Stellung genommen, dass keine Erkenntnisse über eine erhöhte Radioaktivität am Standort Saporischschja vorliegen. 21. Ist der Bundesregierung bekannt, ob neben dem AKW Süd-Ukraine auch weitere ukrainische Anlagen mit Brennelementen der US-Firma Westinghouse bestückt werden sollen? Der Bundesregierung ist bekannt, dass die Ukraine seit Jahren Maßnahmen zur Erhöhung der Energieunabhängigkeit von Russland durch Diversifizierung der Brennstofflieferungen für die ukrainischen WWER-Anlagen realisiert. Gegenwärtig sind Brennelemente der Firma Westinghouse nur im Block 3 des Kernkraftwerkes Südukraine im Probebetrieb eingesetzt. Es wurde angekündigt, den Einsatz auf weitere Anlagen auszudehnen. Entsprechende Lieferverträge wurden vom Betreiber mit Westinghouse abgeschlossen. Drucksache 18/4576 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 22. Wenn ja, sieht die Bundesregierung darin eine Gefahr, dass es gleich in mehreren Atomkraftwerken zu Verbiegungseffekten bei den Brennelementen kommen könnte? Die Bundesregierung geht davon aus, dass der breite Einsatz erst nach dem Nachweis der Betriebsbewährung der durch Westinghouse modifizierten Brennelemente und nach Abschluss des Genehmigungsverfahrens erfolgen wird. 23. Wie belastbar ist nach Einschätzung der Bundesregierung das Genehmigungsverfahren des von der Firma Westinghouse modifizierten Brennelementes , wenn im vorherigen Verfahren Brennelemente genehmigt worden sind, die sich während des Einsatzes verbogen haben? Das Genehmigungsverfahren zum Einsatz von Brennelementen der Firma Westinghouse für den regulären Betrieb liegt in der Zuständigkeit der ukrainischen atomrechtlichen Aufsichtsbehörden und ist nach Kenntnis der Bundesregierung noch nicht abgeschlossen. Die ukrainische Behörde hat bisher lediglich die Genehmigung zum Einsatz von einzelnen Brennelementen für den Probebetrieb erteilt. Der Bundesregierung liegen darüber hinaus keine detaillierten Informationen über das Genehmigungsverfahren vor. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333