Deutscher Bundestag Drucksache 18/4794 18. Wahlperiode 05.05.2015 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/4640 – Diskussionen zur Einrichtung von Transitzentren der Europäischen Union bzw. ihrer Mitgliedstaaten in Transit- und Herkunftsstaaten von Migrantinnen und Migranten Vo r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Immer wieder wird auf europäischer Ebene über Möglichkeiten debattiert, unerlaubte Migration durch die Einrichtung von Transitzentren, Auffanglagern u. Ä. in den Transit- und Herkunftsstaaten von Migrantinnen und Migranten in die Europäische Union (EU) einzudämmen. Im Jahr 2004 legte hierzu bereits Otto Schily als damaliger Bundesminister des Innern ein Konzept vor, das er in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ darlegte (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Juli 2004, „Afrikas Probleme in Afrika lösen “). Menschen, die aus Seenot gerettet wurden, in der EU an Land zu lassen und das Stellen eines Asylantrags zu gestatten, könne „im Einzelfall richtig sein, als generelles Verfahren wäre es problematisch“. In der Regel sollten die „aus Seenot Geretteten in ihre Herkunftsländer oder die Transitstaaten zurückgeführt werden“. Es solle geprüft werden, wie die Prüfung der Fluchtgründe in einer von der EU betriebenen Außenstelle in dem Transitstaat vorgenommen werden könne. Diese Prüfung sollte nach dem Willen des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily durch die Europäische Kommission und andere Arbeitsgremien des damaligen EU-Rates durchgeführt werden. Wer Asyl suche, könne sich an diese Außenstelle wenden, „ohne den gefahrvollen Weg über das Mittelmeer zu riskieren“. Eine Aufnahme in die EU sollte aber auch bei festgestelltem Schutzbedarf nur in Ausnahmefällen und lediglich bei freiwilliger Bereitschaft eines Mitgliedstaates zur Aufnahme möglich sein; in der Regel sollten die Schutzbedürftigen mit finanzieller Unterstützung der EU in der Nähe ihres Herkunftslandes aufgenommen werden. In den vergangenen Monaten hat die Debatte um die Einrichtung von externen Einrichtungen der EU wieder an Fahrt aufgenommen. Die britische Tageszeitung „The Telegraph“ berichtet am 11. März 2015 („Italy calls for migration Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 30. April 2015 übermittelt . Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. centres outside EU“), Italien fordere die Errichtung von mindestens drei Einrichtungen in Sahara-Staaten und Nordafrika, beispielsweise Niger, Tunesien und Sudan. Wer dort als Flüchtling bewertet werde, solle das Asylverfahren dann im EU-Mitgliedstaat seiner Wahl durchführen können. Alle anderen sollten in ihre Herkunftsstaaten zurückgeschickt werden. Neben den Aufnah- Drucksache 18/4794 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode mezentren in Drittstaaten sollten auch weitere EU-Einrichtungen und Botschaften von EU-Mitgliedstaaten Asylanträge bearbeiten. In einer Meldung der Presseagentur „Associated Press“ vom 18. März 2015 („EU considers migrant centers in Africa to deal with influx“) wird darüber berichtet , dass die EU plane, Immigrationsbeauftragte („immigration officers“) in Transitstaaten zu senden, die dort Schutzbedarf oder andere Möglichkeiten des legalen Aufenthalts bewerten sollten. Eine Testphase sei in Niger geplant, das als Transitstaat für den Senegal, Gambia und Mali diene. Der zuständige EUKommissar Dimitris Avramopoulos kündigte an, bald Tunesien und Ägypten zu besuchen, um diese Länder zu größerem Engagement zu bewegen. Auch der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, hat sich für solche Zentren ausgesprochen. Er trat dafür ein, dass nicht die EU, sondern der United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) solche Transitzentren betreibt (DIE WELT, „Deutschland wird im Flüchtlingsstreit ‚ungeduldig ‘“, 12. März 2015). Im Zuge eines entsprechenden Projektes sollen dann auch Erfahrungen mit der Umsetzung eines EU-Verteilungsmechanismus für Flüchtlinge gemacht werden. Widerspruch kam vom Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, Heiko Maas. Es sei fraglich, ob „Flüchtlinge in solchen Auffangstellen in Nordafrika alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten haben, die sie in der EU haben“, so der Bundesminister. Außerdem warnte er, dass die in den Auffanglagern abgelehnten Schutzsuchenden dennoch weiterhin ihren Weg über das Mittelmeer suchen könnten. Die Flüchtlingsorganisation „Pro Asyl“ lehnt den Plan als „Instrument zur Aushebelung des Asylrechts“ ab, es könne „nicht richtig sein, dass ein vorgezogener Grenzwall geschaffen wird“ (Frankfurter Rundschau, „Kritik an Wall gegen Flüchtlinge“, 12. März 2015). 1. Wie weit sind die Überlegungen der Bundesregierung zur konzeptionellen Ausgestaltung von Transit- oder Aufnahmezentren bislang gediehen, insbesondere hinsichtlich a) der Rechtsgrundlagen ihrer Errichtung, b) der Finanzierung der Einrichtung und der Tätigkeit des UNHCR oder einer anderen internationalen Organisation darin, c) der Rechtsverbindlichkeit der zum Schutzbedarf getroffenen Entscheidungen in diesen Zentren für die Einreise und den Aufenthalt in der EU, d) der erneuten Prüfung des Schutzgesuchs im Rahmen des nach EU-Recht und nationalem Recht erteilten Schutzstatus, e) des Aufenthaltstitels, der nach Aufnahme in der EU erteilt werden könnte, f) der Verteilung der in diesen Zentren als schutzbedürftig anerkannten Flüchtlinge in den EU-Staaten, g) des weiteren Umgangs mit den abgelehnten Asylsuchenden in den Gaststaaten dieser Zentren, h) der Einbindung solcher Zentren in die Entwicklungszusammenarbeit der EU mit den Gaststaaten dieser Zentren? Als Ergebnis des Diskussionsprozesses zu Maßnahmen im Zusammenhang mit der Task Force Mittelmeer sehen die Ratsschlussfolgerungen des Justiz- und Innenminister -Rates vom 10. Oktober 2014 unter anderem die Möglichkeit zur Einrichtung von Zentren unter Leitung des UNHCR bzw. der Internationalen Organisation für Migration (IOM) vor, um Maßnahmen zu Regionalen Entwicklungs - und Schutzprogrammen, zur Neuansiedlung auf freiwilliger Grundlage und zu Rückkehrmaßnahmen der EU kohärent umzusetzen und dadurch den betroffenen Drittländern konkrete Formen der Solidarität und Unterstützung bieten zu können. Zur besseren Steuerung der Migration müssen alle Möglichkeiten im Interesse von Schutzsuchenden, der betroffenen Drittländer und der Aufnahme- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4794 möglichkeiten in der EU in Betracht gezogen werden. Dazu gehören auch die Informationen für Migranten über Asyl- und Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa sowie die Gefahren auf der Reise mit Blick auf Schleuser und Menschenhändler . Die konzeptionellen Überlegungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen . Für die Länder in Nordafrika und am Horn von Afrika stellt der Zustrom von Flüchtlingen und Migranten eine große Herausforderung dar. Die Behörden sind kaum in der Lage, die Situation zu bewältigen. Ziel der internationalen Gemeinschaft und humanitärer Akteure wie UNHCR und IOM ist es daher, die Aufnahmeländer in die Lage zu versetzen, auf den Zustrom von Flüchtlingen und Migranten adäquat zu reagieren und eine Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, die auf deren Schutz und Bedürfnisse eingeht. 2. Ist vonseiten des Bundesministeriums des Innern auch weiterhin Teil der Konzeption, die in den Zentren als schutzbedürftig anerkannten Personen nicht in die EU einreisen zu lassen, sondern ihre Aufnahme und Integration vor Ort finanziell zu fördern oder anderweitig zu unterstützen (bitte begründen )? Auf die Antwort zu Frage 1 wird verwiesen, insbesondere zu den Zwecken der Zentren nach den Ratsschlussfolgerungen. 3. War das Konzept von Transit- oder Aufnahmezentren Gegenstand der Staatssekretärs-Arbeitsgruppe „Internationale Migration“, und welche Positionen wurden von den beteiligten Ministerien bzw. der Bundesbeauftragten für Migration, Flucht und Integration dazu vertreten? Migrationszentren sind Thema der Arbeitsgruppe der Staatssekretäre „Internationale Migration“. Das Thema ist dort allerdings inhaltlich noch nicht behandelt worden. 4. Gab es in anderer Form eine Verständigung zwischen den Bundesministerien zur Frage der Einrichtung solcher Zentren, und wenn ja, welche Bundesministerien haben sich dazu geäußert und mit welchem Tenor? Nein. 5. Zu wann erwartet die Bundesregierung von der Europäischen Kommission die Vorlage eines Konzepts für ein Pilotprojekt zur Schaffung von Transitoder Aufnahmezentren? Die Bundesregierung hat hierzu keine Kenntnis. 6. Werden solche Zentren bereits Teil des im Mai 2015 vorzulegenden Entwurfs einer Migrationsstrategie der EU sein? Die Bundesregierung liegen hierzu keine Informationen vor. 7. Trifft die Meldung (Radiosender RF I vom 2. August 2013) zu, dass ein Pilotprojekt zu einem solchen Zentrum in Niger stattfinden könnte, und von wem ist das in welchem Zusammenhang vorgeschlagen worden? Drucksache 18/4794 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 8. Welche konzeptionellen Überlegungen bestehen seitens oder nach Kenntnis der Bundesregierung zur Verknüpfung der Zentren mit dem Konzept der „Regionalen Schutzprogramme“ der EU, etwa indem der ausbleibende Aufbau eines Asylsystems in den Ländern der „Regionalen Schutzprogramme “ durch den Aufbau solcher Zentren ausgeglichen werden soll? Die Fragen 7 und 8 werden zusammen beantwortet. Die Europäische Kommission hat zwei Regionale Entwicklungs- und Schutzprogramme initiiert, nämlich ein Programm für Nordafrika und ein Programm für das Horn von Afrika. Italien hat sich bereit erklärt, die Leitung des Regionalen Entwicklungs- und Schutzprogramms für Nordafrika zu übernehmen, an dem sich Deutschland beteiligt. In einem von Italien erarbeiteten ersten Konzept -Entwurf wird vorgeschlagen, sogenannte Migrant Resource and Response Centers, z. B. in Niger, einzurichten. Diese orientieren sich an bereits heute durch die Internationale Organisation für Migration angebotenen Beratungsstrukturen für Flüchtlinge und Migranten. 9. Wurde bereits mit potenziellen Gaststaaten eines solchen Zentrums oder Pilotprojekts dazu Kontakt aufgenommen, um die Bereitschaft zur Aufnahme eines solchen Zentrums zu eruieren, und wenn ja, mit welchem Staat, und was waren gegebenenfalls die Reaktionen? Seitens der Bundesregierung liegen keine diesbezüglichen Kenntnisse vor. 10. Teilt die Bundesregierung die von Italien in einem Non-Paper für den Rat der Innenminister vorgetragene Position, Ägypten und Tunesien sollten sich verstärkt an der Seenotrettung bis hinein in die libyschen Küstengewässer beteiligen, und die dort geretteten Personen bei sich aufnehmen (www.spiegel.de, „EU will ‚echten Abschreckungseffekt produzieren‘“, 21. März 2015)? a) Teilt die Bundesregierung insbesondere die Position, diese Seenotrettungsaktionen einschließlich der Verbringung nach Tunesien und Ägypten solle einen „echten Abschreckungseffekt“ produzieren? b) Hat die Bundesregierung in ihren Überlegungen einfließen lassen, dass syrische Flüchtlinge, insbesondere Christen, in Ägypten Opfer ggf. erniedrigender Behandlung werden können und genau deshalb von dort in Richtung Europa weiterfliehen, und wenn nein, warum nicht? c) Wird sich die Bundesregierung an diplomatischen Bemühungen oder einer gemeinsamen diplomatischen Aktion Ägypten und Tunesien gegenüber beteiligen, um sie zu einer Kooperation bei der Seenotrettung im Sinne des Non-Papers zu bewegen? Die Fragen 10 und 10a bis 10c werden zusammen beantwortet. Italien hat am Rande des vergangenen EU-Justiz- und Innenministertreffens ein inoffizielles Papier vorgelegt. Das Papier war weder Gegenstand von Beschlüssen , noch Grundlage gemeinsamer Positionen. Das italienische Diskussionspapier enthält jedoch wichtige Ansätze, die aus Sicht der Bundesregierung unterstützt werden können: Die Bundesregierung spricht sich ebenfalls dafür aus, dass Seenotrettung vor der nordafrikanischen Mittelmeerküste notwendig ist, um schiffbrüchige Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Die Bundesregierung unterstützt daher nordafrikanische Mittelmeeranrainer, damit diese ihren Aufgaben im Bereich der Seenotrettung nachkommen können. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/4794 Darüber hinaus fördert die Bundesregierung das mittel- und langfristige Engagement der EU in der Region, um wirtschaftliche und rechtsstaatliche Entwicklung in den betroffenen Gesellschaften der Herkunfts- und Transitstaaten nachhaltig zu fördern. d) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum Funktionieren des Asylsystems in Ägypten und Tunesien? Sowohl Ägypten als auch Tunesien sind Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention. Beide Staaten kommen den damit verbundenen Verpflichtungen – insbesondere dem Verbot des Refoulement – nach Kenntnis der Bundesregierung im Wesentlichen nach. e) Ist die Bundesregierung bereit, sich an dem im Non-Paper geforderten „ernsthaften und starken Engagement“ zur „Verbesserung der institutionellen und operativen Kapazitäten“ zur Seenotrettung und zur Aufnahme von Asylsuchenden in Tunesien und Ägypten zu beteiligen, und welche Zusagen hat sie diesbezüglich gegenüber Italien, Frankreich und Spanien gegeben? Neben der Unterstützung der Bundesregierung für nordafrikanische Mittelmeeranrainerstaaten , kann Seenotrettung allein langfristig keine Lösung der Migrationsproblematik sein. Kriminelle Schleusernetzwerke müssen effektiv bekämpft und die Grenzen nach Libyen besser kontrolliert werden. Zusagen der Bundesregierung hat es diesbezüglich nicht gegeben. Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333