Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 13. Juli 2016 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Deutscher Bundestag Drucksache 18/9189 18. Wahlperiode 14.07.2016 Antwort der Bundesregierung der Abgeordneten Renate Künast, Dr. Harald Terpe, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 18/8986 – Aufarbeitung von Misshandlungen auf den geschlossenen Stationen zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten in der DDR V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Neuere Forschungsergebnisse (Steger, F./Schochow, M.: Disziplinierung durch Medizin) legen den Verdacht nahe, dass geschlossene venerologische Stationen in der ehemaligen DDR – offiziell gedacht zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten – nicht nur zu medizinischen, sondern auch zu disziplinarischen Zwecken genutzt wurden. Frauen, die aus politischen oder anderen Gründen dem DDR-Staat unliebsam waren, sollen dort im öffentlichen Auftrag systematisch misshandelt worden sein. Für die Poliklinik Mitte in Halle (Saale) ist erwiesen, dass dort über 20 Jahre, von 1961 bis 1982, Frauen eingesperrt und willkürlichen, teils außerordentlich schmerzhaften Behandlungen ausgesetzt waren, die medizinisch in dieser Form nicht indiziert waren. Frauen, die dort untergebracht waren, beschreiben tägliche , medizinisch nicht begründete, aber sehr schmerzhafte Untersuchungen bzw. Behandlungen durch das Klinikpersonal. Die Behandlungen wurden durchgeführt, obwohl die meisten der Frauen körperlich vollständig gesund waren . Sie litten insbesondere nicht an Geschlechtskrankheiten, die eine Behandlung auf einer geschlossenen venerologischen Station hätten rechtfertigen können . Vielmehr wurde ihnen entweder eine „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten “ nach § 249 des Strafgesetzbuches der DDR vorgeworfen oder sie wurden auf Grundlage der „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ zwangseingewiesen. Die Scheinbehandlungen wurden dann offenbar lediglich durchgeführt, um die betroffenen Frauen zu schikanieren. Laut Hausordnung der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) stand die „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit im Vordergrund “. Durch die Erziehung müsse „erreicht werden, dass diese Bürger nach ihrer Krankhausentlassung die Gesetzte unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen“. Regelverstöße gegen die Hausordnung wurden nach Aussagen der Geschädigten durch stundenlanges Stehen oder mit Fieberspritzen, die heftige körperliche Reaktionen hervorriefen, bestraft. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 18/9189 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode Es ist bisher nicht hinreichend aufgeklärt, ob die Poliklinik Mitte in Halle (Saale) ein Einzelfall war oder ob auf anderen geschlossenen venerologischen Stationen der DDR ähnliche Misshandlungen mit dem Ziel der Disziplinierung zu „sozialistischen Bürgerinnen“ stattgefunden haben. 1. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Misshandlungen von Frauen in der geschlossenen venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale)? Jenseits der im Jahr 2015 der Öffentlichkeit präsentierten Studie „Disziplinierung durch Medizin“, die im Auftrag der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik in Sachsen-Anhalt erarbeitet wurde, liegen der Bundesregierung keine Informationen über die Praxis in der geschlossenen venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) vor. 2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung darüber, inwieweit geschlossene verenologische Stationen in der DDR flächendeckend im oben genannten Sinne zu „disziplinarischen“ Zwecken genutzt wurden? 3. In welchen anderen medizinischen Einrichtungen der DDR hat es nach Kenntnis der Bundesregierung unter der Vorgabe einer medizinischen Behandlung gleiche oder ähnliche Misshandlungen zu Sanktionszwecken gegeben (bitte Einrichtungen und Zeiträume der Misshandlungen konkret angeben )? 4. Wie viele Frauen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in geschlossenen venerologischen Stationen der DDR zwangsbehandelt, und bei wie vielen davon lag nach Einschätzung der Bundesregierung keine medizinische Indikation für die Behandlung vor? 5. Welches Anlassverhalten bei den betroffenen Frauen lag nach Kenntnis der Bundesregierung der Zwangseinweisung auf diesen Stationen zugrunde? 6. Wie lange war die durchschnittliche Verweildauer der Frauen auf den Stationen , und welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über den typischen „Behandlungsablauf“ auf den venerologischen Stationen? 7. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Art der Misshandlungen von Frauen auf geschlossenen venerologischen Stationen der DDR? Die Fragen 2 bis 7 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs zusammen beantwortet . Über die am 24. Mai 2016 veröffentlichte Untersuchung „Traumatisierung durch politisierte Medizin“ (ebenfalls Steger/Schochow) und die in der Antwort zu Frage 1 genannte Studie „Disziplinierung durch Medizin“ hinaus liegen der Bundesregierung keine Informationen hierzu vor. 8. Waren diese Misshandlungen nach Kenntnis der Bundesregierung nach damaligem DDR-Recht strafbar? Die Bundesregierung gibt grundsätzlich keine strafrechtlichen Bewertungen zu konkreten Sachverhalten ab und beschränkt sich insoweit auf den Hinweis, dass auch das Strafgesetzbuch der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Straftatbestände enthalten hat, unter die solche Sachverhalte fallen konnten, wie etwa den Straftatbestand der Körperverletzung. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/9189 9. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über eine Zusammenarbeit zwischen den geschlossenen venerologischen Stationen der DDR und der Staatssicherheit der DDR oder anderen Polizei- und Sicherheitsbehörden? Bisher ist in Einzelfällen der Einsatz inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf venerologischen Stationen belegt. Nachweise, dass das MfS gezielt Einfluss auf Einweisungen oder Behandlungen von Frauen genommen hat, gehen aus den Stasi-Unterlagen nicht hervor. 10. Welchen weiteren Forschungsbedarf sieht die Bundesregierung, um Vorgänge der oben genannten Art in der ehemaligen DDR weiter aufzuklären? a) Falls aus ihrer Sicht kein Forschungsbedarf besteht, wieso nicht? b) Falls sie weiteren Forschungsbedarf sieht, was hat die Bundesregierung getan bzw. wird sie zukünftig tun, um Forschungsvorhaben zu diesem Thema zu unterstützen? Fundament der Erinnerung sind die historischen Fakten und ihre wissenschaftliche Erforschung. Auf ihm ruht die Erinnerungspolitik, die sich in der Förderung von Aufarbeitung und dem Gedenken ausdrückt. Auf Bundesebene ist die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zentraler Ansprechpartner für die Förderung von Forschungsprojekten. Die Stiftung hat den gesetzlichen Auftrag, Beiträge zur umfassenden Aufarbeitung von Ursachen , Geschichte und Folgen der Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland und in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zu leisten und zu unterstützen, die Erinnerung an das geschehene Unrecht und die Opfer wach zu halten sowie den antitotalitären Konsens in der Gesellschaft, die Demokratie und die innere Einheit Deutschlands zu fördern und zu festigen. 11. Inwieweit kann die Bundesregierung ausschließen, dass medizinisches Personal , das sich an Misshandlungen in venerologischen Abteilungen der DDR beteiligt hat, auch heute noch in medizinischen Berufen tätig ist? Der Bundesregierung liegen keine Informationen hierzu vor. 12. Hat die Bundesregierung Kenntnisse über Personen, die sich an Misshandlungen in den geschlossenen venerologischen Stationen der DDR beteiligt haben sollen, und sind Behandlungs- und andere Unterlagen gesichert? In der Außenstelle Halle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik existiert eine vom Staatssicherheitsdienst angelegte Akte, in der von einem inoffiziellen Mitarbeiter über medizinisch nicht gerechtfertigte Behandlungen durch einen Arzt der geschlossenen venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle berichtet wird. Dass das MfS diese Behandlungen veranlasste, ist nicht ersichtlich. Gegen den betreffenden Arzt wurde bei Bekanntwerden der Vorgänge ein Disziplinarverfahren geführt, und er wurde von seiner Dienststellung entbunden. Er ist inzwischen verstorben. Auf die Akte kann zugegriffen werden. 13. Liegen der Bunderegierung Informationen über vergleichbare Zwangsbehandlungen von Frauen in geschlossenen venerologischen Stationen in anderen Staaten vor? Wenn ja, wo, und mit welchem Ziel wurden Frauen so misshandelt? Der Bundesregierung liegen keine Informationen hierzu vor. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 18/9189 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 14. Hat die Bundesregierung Hinweise über andere medizinische Zwangsbehandlungen von Frauen in der DDR? Auf die Antwort zu Frage 2 wird verwiesen. 15. Warum werden die Opfer der oben genannten Misshandlungen auf geschlossenen venerologischen Stationen nach Einschätzung der Bundesregierung nicht von den bisherigen Rehabilitierungsgesetzen zu DDR-Unrecht erfasst? 16. Befürwortet die Bundesregierung eine Entschädigung der Opfer dieser Misshandlungen ? Falls nicht, warum nicht? 17. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung für eine nachträgliche Kompensation der Opfer? 18. Welcher gesetzgeberische Handlungsbedarf wäre dafür gegebenenfalls notwendig , und wann wird die Bundesregierung einen entsprechenden Regelungsvorschlag auf den Weg bringen? Die Fragen 15 bis 18 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs zusammen beantwortet . Die Einschätzung, dass Opfer von Misshandlungen auf geschlossenen venerologischen Stationen nicht von den Rehabilitationsgesetzen erfasst werden können, wird von der Bundesregierung nicht geteilt. Nach Artikel 19 des Einigungsvertrages (EV) vom 31. August 1990 (BGBl. II S. 889) gelten vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der DDR fort. Zu diesen Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung, die wirksam bleiben, gehören beispielsweise auch Einweisungen in Kinderheime, psychiatrische Anstalten oder vergleichbare Einrichtungen der ehemaligen DDR. Derartige Verwaltungsakte können gemäß Artikel 19 EV aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar waren. Nach § 2 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (StrRehaG) findet das StrRehaG auch auf außerhalb eines Strafverfahrens ergangene gerichtliche oder behördliche Entscheidungen Anwendung, mit denen eine Freiheitsentziehung oder ein Leben unter haftähnlichen Bedingungen angeordnet worden ist. Die Betroffenen müssen jeweils einen Antrag auf Rehabilitierung stellen, der in jedem Einzelfall von den Rehabilitierungsgerichten geprüft wird. Die Gerichte klären, ob und inwieweit die Einweisungsentscheidung durch eine staatliche Stelle mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar war, insbesondere , ob sie der politischen Verfolgung oder sonstigen sachfremden Zwecken diente oder ob sie im groben Missverhältnis zu ihrem Anlass stand. Diese Voraussetzungen machen deutlich, dass der Schwerpunkt auf der Rechtsstaatswidrigkeit der Einweisung liegt. Missbräuche während der Unterbringung in den Einrichtungen sind als solche allein einer Rehabilitierung nach dem StrRehaG nicht zugänglich. Sollte eine strafrechtliche Rehabilitierung nicht zum Erfolg führen, haben die betroffenen Personen weiter die Möglichkeit, bei der zuständigen Rehabilitierungsbehörde einen Antrag auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung zu stellen. Die Folgeansprüche würden sich in diesem Fall jedoch auf Versorgungsleistungen wegen haftbedingter gesundheitlicher Schädigung nach dem Bundesversorgungsgesetz beschränken. Nach erfolgreicher strafrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Rehabilitierung könnte Anspruch auf Entschädigungs- und soziale Ausgleichsleistungen bestehen. Zusätzlich zu diesen Leistungen könnte auch eine berufliche Rehabilitierung in Betracht kommen. 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