Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 19. März 2018 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Deutscher Bundestag Drucksache 19/1346 19. Wahlperiode 21.03.2018 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Pascal Meiser, Fabio De Masi, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/1064 – Mitbestimmungs- und Steuervermeidung in der Europäischen Union V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Mit dem Wechsel zu einer ausländischen Rechtsform können deutsche Kapitalgesellschaften vor dem Hintergrund der Niederlassungsfreiheit in der Europäischen Union das deutsche Mitbestimmungsrecht umgehen und müssen nur noch die, bisweilen mitbestimmungsfreien, Regelungen der ausländischen Rechtsform beachten. In ähnlicher Form können durch Sitzverlagerung auch steuerliche Bestimmungen und andere Regulierungen durch Unternehmen umgangen werden. Für die Änderung der Rechtsform – selbst bei bestehenden Unternehmen – ist laut jüngstem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) (Polbud- Urteil C-106/16 vom 25. Oktober 2017) nicht einmal mehr die Verlegung des Verwaltungssitzes oder eine Wirtschaftstätigkeit im Land der neuen Rechtsform notwendig, sondern es genügt die sogenannte isolierte Satzungssitzverlegung. Sie ist laut EuGH sogar zulässig, wenn es Unternehmen einzig darum geht, „in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen“ (vgl. Polbud-Urteil, Rn. 40). Durch die Satzungssitzverlegung und die daraus resultierende Umgehung der Mitbestimmung verschiebt sich aus Sicht der Fragesteller das Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit noch mehr in Richtung Kapital. In bestehenden Mitbestimmungsgremien nach deutschem Recht kann die Kapitalseite der Arbeitnehmerbank jederzeit damit drohen, die Rechtsform zu wechseln und damit der Mitbestimmung nach deutschem Recht ein Ende zu setzen. Auch Unternehmen , bei denen das Erreichen der Schwellenwerte für die Gründung eines Aufsichtsrates ansteht, können dies zu Lasten der Beschäftigten verhindern, indem sie ihre Rechtsform ändern. Inwiefern diese Möglichkeit genutzt wird, welche Folgen dies hat und welche Strategien die Bundesregierung verfolgt, um Mitbestimmungsumgehung zu verhindern, möchten die Fragesteller mit der vorliegenden Anfrage herausfinden. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/1346 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode V o r b e me r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g Es gibt in Deutschland keine amtlichen Statistiken z. B. für die Anzahl der Gesellschaften mit und ohne Aufsichtsrat sowie deren Branchenzugehörigkeit, die Anzahl der Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform, die in Deutschland Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen und deren Arbeitsbedingungen, die Anzahl der mitbestimmten Unternehmen in Deutschland, deren Branchenzugehörigkeit und die Anzahl ihrer Beschäftigten. Gesellschaften mit Sitz in Deutschland und erst recht solche mit Sitz im Ausland sind nicht gesetzlich verpflichtet , derartige Angaben zu melden oder zu veröffentlichen. Eigene empirische Erhebungen führt die Bundesregierung nicht durch. Hierauf hat die Bundesregierung bereits in ihrer Antwort auf die Schriftliche Frage der Abgeordneten Jutta Krellmann vom 16. Oktober 2017 auf Bundestagsdrucksache 18/13696 hingewiesen . Soweit in der wissenschaftlichen Diskussion zu den angesprochenen Fragen einzelne Untersuchungen vorliegen, überprüft und bewertet die Bundesregierung das wissenschaftliche Vorgehen sowie die erzielten Ergebnisse und Schlussfolgerungen nicht. 1. Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, bei denen deutsche Kapitalgesellschaften durch den Wechsel zu einer ausländischen Rechtsform das deutsche Unternehmensmitbestimmungsrecht in den vergangenen zehn Jahren umgehen bzw. umgangen haben (bitte nach Branchen und Betriebsgröße differenzieren)? Der Bundesregierung liegen hierzu keine Informationen vor, es wird auf die Ausführungen in der Vorbemerkung verwiesen. In der Literatur gibt es zu dieser Thematik Untersuchungen, die konkrete Gesellschaften und deren Branchenzugehörigkeit benennen (u. a. Quelle: Mitbestimmungsförderung ; Report Nr. 8 vom Februar 2015). 2. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass das Erzberger -Urteil des EuGH (C-566/15) alle etwaigen Zweifel an der Europarechtskonformität des arbeitsrechtlichen Territorialitätsprinzips ausgeräumt hat und dass einem Mitbestimmungserstreckungsgesetz somit keine europarechtlichen Bedenken mehr entgegenstehen? Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-566/15 („Erzberger“) enthält keine Aussage zum Territorialitätsprinzip. Erwägungen des Generalanwalts in den Schlussanträgen zum Territorialitätsprinzip (Rn. 90 ff.) sind in das Urteil nicht eingeflossen. Aus dem Urteil lässt sich nicht schließen, dass einem nationalen Gesetz zur Erstreckung der deutschen Mitbestimmung auf Auslandsgesellschaften keine europarechtlichen Bedenken entgegenstehen. 3. Welche konkreten Schritte plant die Bundesregierung auf nationaler Ebene, um bei grenzüberschreitenden Sitzverlagerungen von Gesellschaften die nationalen Vorschriften zur Mitbestimmung zu sichern? Plant die Bundesregierung in diesem Zusammenhang ein Mitbestimmungserstreckungsgesetz (bitte begründen)? Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/1346 4. Welche konkreten Schritte plant die Bundesregierung auf europäischer Ebene zur Sicherung der nationalen Vorschriften zur Mitbestimmung insbesondere auch vor dem Hintergrund der durch den EuGH bestätigten Möglichkeit einer Einschränkung der Niederlassungsfreiheit aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses (bitte begründen)? Die Fragen 3 und 4 werden gemeinsam beantwortet. Die Thematik der grenzüberschreitenden Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften greift der Koalitionsvertrag vom 12. März 2018 an zwei Stellen auf: „Wir setzen uns dafür ein, dass auch bei grenzüberschreitenden Sitzverlagerungen von Gesellschaften die nationalen Vorschriften über die Mitbestimmung gesichert werden.“ „Wir setzen uns für eine europäische Harmonisierung der Regelungen über die grenzüberschreitende Sitzverlegung von Kapitalgesellschaften („Sitzverlegungs- Richtlinie“) und die Europäische Privatgesellschaft (SPE) unter Wahrung der Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einschließlich der Unternehmensmitbestimmung , der Gläubiger und der Minderheitsgesellschafter ein.“ Wie bereits in der Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten Alexander Ulrich vom Januar 2018 auf Bundestagsdrucksache 19/695 dargelegt, sollten Regelungen, die bei grenzüberschreitenden Sitzverlegungen insbesondere auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichern, einheitlich auf der Ebene des europäischen Sekundärrechts erfolgen. Aus Sicht der Bundesregierung sollte die Lösung dieser Problematik – wie im Koalitionsvertrag niedergelegt – durch die Schaffung einer europäischen Sitzverlegungsrichtlinie angestrebt werden. Die Bundesregierung hat sich auf europäischer Ebene bereits nachdrücklich dafür eingesetzt, dass die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung vorlegt. 5. Welche Risiken erwachsen nach Einschätzung der Bundesregierung aus isolierten Satzungssitzverlegungen für das Steueraufkommen in der Bundesrepublik Deutschland sowie für eine transparente, effektive und angemessene Besteuerung von Unternehmen? Aus einer isolierten Satzungssitzverlagerung einer unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft ins Ausland ergibt sich keine Veränderung bei der Besteuerung dieser Unternehmen in Deutschland. 6. Führen unterschiedliche steuerliche Behandlungen bzw. aufsichtsrechtliche Offenlegungspflichten zwischen deutschen und anderen europäischen Rechtsformen nach Einschätzung der Bundesregierung zu wettbewerblich relevanten Unterschieden für in Deutschland tätige Unternehmen, von denen einige mittels isolierter Satzungssitzverlegung in ausländische Rechtsformen wechseln? Unterschiedliche nationalstaatliche Steuerregeln werden von Unternehmen bei ihrer Standortwahl mit in die Entscheidung einbezogen. Ebenfalls wichtig sind die Produktionsentscheidungen und die Absatzmärkte. Da Wettbewerb das grundlegende Prinzip des Europäischen Binnenmarkts ist, werden diese Unternehmensentscheidungen vor einem wettbewerblichen Hintergrund getroffen. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/1346 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 7. Wie viele Unternehmen unterliegen nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit dem deutschen Unternehmensmitbestimmungsrecht (bitte nach Branche und Betriebsgröße sowie gesetzlicher Grundlage der Unternehmensmitbestimmung differenzieren)? Wie bereits in der Antwort auf die Schriftliche Frage der Abgeordneten Jutta Krellmann vom 16. Oktober 2017 auf Bundestagsdrucksache 18/13696 dargelegt, gibt es keine amtliche Statistik, die die erbetenen Angaben enthält (siehe auch Vorbemerkung der Bundesregierung). In der Literatur werden folgende Zahlen zu mitbestimmten Unternehmen ausgewiesen : Unternehmen, die unter das Mitbestimmungsgesetz fallen: 635 (Stand 31. Dezember 2017) Quelle: Mitbestimmung Nr. 1 Februar 2018; Hans-Böckler-Stiftung (HBS) Unternehmen in der Rechtsform einer mitbestimmten Europäischen Aktiengesellschaft (SE): 21 Unternehmen mit paritätischer Mitbestimmung (Stand 31. Dezember 2017) 39 Unternehmen mit (mindestens) Drittelbeteiligung (Stand 31. Dezember 2017) Quelle: SE-Datenblatt; Fakten zur Europäischen Aktiengesellschaft Stand 31. Dezember 2017, HBS Unternehmen, die unter das Drittelbeteiligungsgesetz fallen: 1 500 im Jahr 2009 (nach einer Studie von Prof. Walter Bayer für die HBS); neuere Untersuchungen gibt es in diesem Bereich nicht. 8. Wie viele Beschäftigte arbeiten derzeit nach Kenntnis der Bundesregierung in Unternehmen, die dem deutschen Unternehmensmitbestimmungsrecht unterliegen , und wie hat sich diese Zahl in den vergangenen zehn Jahren entwickelt (bitte nach Branche und Betriebsgröße sowie gesetzlicher Grundlage der Unternehmensmitbestimmung differenzieren)? 9. Wie viele Beschäftigte arbeiten nach Kenntnis der Bundesregierung in Unternehmen , die aufgrund einer ausländischen Rechtsform nicht dem deutschen Unternehmensmitbestimmungsrecht unterliegen, aber ihren Arbeitsort in Deutschland haben, und wie hat sich diese Zahl in den vergangenen zehn Jahren entwickelt (bitte nach Branche und Betriebsgröße differenzieren)? Die Fragen 8 und 9 werden gemeinsam beantwortet. Zu der konkreten Anzahl Beschäftigter in mitbestimmten deutschen Unternehmen und Unternehmen mit ausländischer Rechtsform, die in Deutschland Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen, liegen der Bundesregierung keine Daten vor (siehe Vorbemerkung der Bundesregierung). Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/1346 10. Wie unterscheiden sich nach Kenntnis der Bundesregierung in Deutschland die Arbeitsbedingungen (Lohnniveau, Arbeitszeit, Tarifgebundenheit etc.) von Beschäftigten in Unternehmen mit einem Aufsichtsrat von Beschäftigten in Unternehmen ohne Aufsichtsrat (bitte nach Branche und Betriebsgröße differenzieren)? Welche Studien hierzu sind der Bundesregierung bekannt, und zu welchen Ergebnissen kommen sie? Die Beantwortung der Frage würde voraussetzen, dass Informationen darüber erfasst würden, welche Unternehmen einen Aufsichtsrat haben und welche keinen haben. Hierüber werden keine umfassenden Daten erhoben (siehe Vorbemerkung der Bundesregierung). Im Übrigen ist unklar, welcher Zusammenhang zwischen der Existenz bzw. dem Fehlen eines Aufsichtsrats und den konkreten Arbeitsbedingungen der Beschäftigten (u. a. Lohnniveau, Arbeitszeit) in einer Gesellschaft bestehen soll. Sollte sich die Frage nicht auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Aufsichtsrats im Allgemeinen beziehen, sondern darauf, ob die jeweiligen Aufsichtsräte mitbestimmt sind, so gibt es hierzu in der Literatur einzelne Studien (siehe u. a. Robert Scholz, Der MB-IX und „Gute Arbeit“ – was wir messen können; MBF- Report Nr. 32, 05.2017 m. w. N.). 11. Wie unterscheiden sich nach Kenntnis der Bundesregierung in Deutschland die Arbeitsbedingungen (Lohnniveau, Arbeitszeit, Tarifgebundenheit etc.) von Beschäftigten in Unternehmen mit einem Aufsichtsrat nach deutschem Recht von Beschäftigten in Unternehmen mit ausländischer Rechtsform und deutschem Arbeitsort (bitte nach Branche und Betriebsgröße sowie jeweiliger gesetzlicher Grundlage differenzieren)? Diese Frage lässt sich mangels ausreichender Datenlage nicht beantworten (siehe Vorbemerkung der Bundesregierung sowie Antwort zu Frage 10). Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. 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