Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Florian Toncar, Christian Dürr, Frank Schäffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 19/15202 – Nichtanwendungserlasse des Bundesministeriums der Finanzen in der 19. Wahlperiode V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Mit einem sog. Nichtanwendungserlass ordnet das Bundesministerium der Finanzen (BMF) an, dass die Finanzämter eine vom Bundesfinanzhof (BFH) getroffene Entscheidung nicht über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus anwenden dürfen. Der Nichtanwendungserlass wird als BMF-Schreiben im Bundessteuerblatt veröffentlicht. Dabei handelt es sich bei dem BMF- Schreiben um eine allgemeine Weisung i. S. v. Artikel 108 Absatz 3 Satz 2 i. V. m. Artikel 85 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) und dient der Vollzugsgleichheit im Bereich der von den Ländern im Auftrag des Bundes verwalteten Steuern. Das BMF-Schreiben spiegelt den Willen der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder wider und bindet die Finanzverwaltung in der Rechtsanwendung. Die Rechtmäßigkeit von Nichtanwendungserlassen wird im Wesentlichen unter vier Gesichtspunkten diskutiert: 1. der Rechtskraftwirkung von Urteilen (§ 110 Absatz 1 Nummer 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO), 2. dem Gedanken der Rechtsfortbildung (§ 115 Absatz 2 Nummer 2 FGO), 3. den Verfassungsgrundsätzen der Gewaltenteilung und des Rechtsstaatsprinzips (Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 GG) und 4. der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und Rechtssicherheit (Artikel 3 Absatz 1 GG). Die Auffassung, inwiefern BFH-Urteile allgemeine Bindewirkung besitzen, dessen Rechtssätze allgemeine Anwendung finden müssen, die Verfassungsorgane wechselseitig an die Akte der jeweils anderen Gewalt gebunden sind und loyalitätspflichtig sind, steht in dieser Diskussion der Auffassung gegenüber, dass die Finanzverwaltung zu einer eigenverantwortlichen Prüfung der Rechtsanwendung berechtigt und verpflichtet sei. Exekutive Eigenverantwortung einerseits und wechselseitige Loyalitätspflicht andererseits stehen im Spannungsverhältnis. Deutscher Bundestag Drucksache 19/15605 19. Wahlperiode 29.11.2019 Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 28. November 2019 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. 1. Wie viele Nichtanwendungserlasse hat das BMF durch BMF-Schreiben seit Beginn der 19. Wahlperiode (WP) erlassen? Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat seit dem Beginn der 19. Wahlperiode am 24. Oktober 2017 drei Nichtanwendungserlasse durch BMF-Schreiben erlassen. Ein weiterer Nichtanwendungserlass wurde als gleichlautender Erlass der obersten Finanzbehörden der Länder herausgegeben. 2. Wie viele faktische Nichtanwendungserlasse durch Nichtveröffentlichung einer BFH-Entscheidung in Teil II des Bundessteuerblattes hat das BMF seit Beginn der 19. WP erlassen? Auf welcher rechtlichen Grundlage gründet sich diese Praxis des BMF? Erst mit der Veröffentlichung im Bundessteuerblatt Teil II (BStBl II) sind diese Gerichtsentscheidungen über den entschiedenen Einzelfall hinaus von den Finanzämtern allgemein anzuwenden. Hat der BFH eine Gerichtsentscheidung zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt , prüfen die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, ob die BFH-Entscheidung von den Finanzämtern im Interesse der Rechtssicherheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung über den entschiedenen Einzelfall hinaus angewandt werden kann. Zu dieser eigenverantwortlichen Prüfung der Rechtsanwendung ist die Verwaltung nach Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes berechtigt und verpflichtet. Entscheidungen des BFH, die ausschließlich Bundessteuern betreffen, werden grundsätzlich nicht im BStBl II veröffentlicht (vergleiche Tabelle 2 zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 19/5758). Nach der Veröffentlichung einer Entscheidung durch den BFH wird diese vom BMF den obersten Finanzbehörden der Länder zur Stellungnahme zugeleitet. In der Regel werden von den obersten Finanzbehörden der Länder keine Einwände gegen eine allgemeine Anwendung des BFH-Urteils beziehungsweise des BFH-Beschlusses erhoben. Nach Abschluss der Abstimmung wird die Veröffentlichung der Entscheidung des BFH im BStBl II eingeleitet. Um eine möglichst zeitnahe Information über die Anwendbarkeit einer Entscheidung zu gewährleisten , wird sie in diesen Fällen bereits vor der Herausgabe des jeweiligen Bundessteuerblattes auch auf der Internetseite des BMF veröffentlicht. Werden Einwände gegen die unmittelbare Veröffentlichung der betreffenden BFH-Entscheidung vorgetragen, dann wird hierüber in einer der nächsten Sitzungen der zuständigen Vertreter der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder beraten. In diese Beratungen fließen auch mögliche Wechselwirkungen ein, die sich aus der Veröffentlichung der Entscheidung mit anderen steuerlichen Vorschriften ergeben. Es wird auch geprüft, ob ggf. weitere Verfahren anhängig sind, die die gleiche Rechtsfrage betreffen. Ist dies der Fall, kann die Veröffentlichung einer Entscheidung zurückgestellt werden, bis über diese Verfahren ebenfalls entschieden ist. Steht die BFH-Entscheidung im Widerspruch mit einem die Finanzverwaltung bindenden BMF-Schreiben oder gleichlautenden Ländererlassen, wird ihre Veröffentlichung zur Gewährleistung einer einheitlichen Weisungslage zurückgestellt, bis das BMF-Schreiben oder die gleichlautenden Ländererlasse angepasst sind. Die Zurückstellung einer Veröffentlichung stellt in diesen Fällen weder einen „faktischen Nichtanwendungserlass“ noch einen „Nichtanwendungserlass“ dar. Drucksache 19/15605 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 3. Wie viele zur amtlichen Veröffentlichung bestimmte Entscheidungen hat der BFH seit Beginn der 19. WP getroffen? Der BFH hat seit dem Beginn der 19. Wahlperiode am 24. Oktober 2017 424 zur Veröffentlichung bestimmte Entscheidungen getroffen. Diese Zahl berücksichtigt alle Urteile und Beschlüsse, die der BFH bis zum 14. November 2019 als zur Veröffentlichung in seiner Entscheidungssammlung vorgesehene Entscheidungen auf seiner Internetseite veröffentlicht hat. 4. Wie viele der seit Beginn der 19. WP erlassenen Nichtanwendungserlasse wirkten zugunsten, wie viele zuungunsten des Steuerpflichtigen? Welche Auswirkungen auf das Steueraufkommen des Bundes hatten diese Nichtanwendungserlasse? Die vier seit Beginn der 19. Wahlperiode erlassenen Nichtanwendungserlasse wirken sich zugunsten der Steuerpflichtigen aus. Da Nichtanwendungserlasse grundsätzlich zu keiner Veränderung des geltenden Rechts führen, entsteht auch keine Veränderung des Steueraufkommens. 5. Wie oft haben Steuerpflichtige seit Beginn der 19. WP aufgrund einer für sie ungünstigen Berücksichtigung eines BFH-Urteils durch einen Nichtanwendungserlass gegen ihren Steuerbescheid Einspruch eingelegt? Welche Kosten sind dem Bund durch diese Einsprüche, durch eventuelle Anfechtungsklagen und Urteile entstanden? Hierzu liegen der Bundesregierung keine Informationen vor. Die vier seit Beginn der 19. Wahlperiode erlassenen Nichtanwendungserlasse wirken sich zugunsten der Steuerpflichtigen aus. Gegen die Anwendung dieser Nichtanwendungserlasse dürften daher keine Einsprüche eingelegt worden sein. 6. In welchen Fällen wurde seit Beginn der 19. WP gegen die Finanzverwaltung wegen eines rechtswidrigen Nichtanwendungserlasses im Rahmen eines Amtshaftungsverfahrens gemäß § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) i. V. m. Artikel 34 GG ein Anspruch zugunsten des Steuerpflichtigen erwirkt, und welche Auswirkungen auf das Steueraufkommen des Bundes resultierten daraus? Hierzu liegen der Bundesregierung keine Informationen vor. 7. Wie bewertet die Bundesregierung die Rechtmäßigkeit von Nichtanwendungserlassen unter der Berücksichtigung der oben dargestellten positiven und negativen Argumente? Die Bundesregierung hat keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Nichtanwendungserlassen auch unter Berücksichtigung der in der Vorbemerkung der Fragesteller dargelegten Erwägungen. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 2 sowie auf die Ausführungen zum Zweck von Nichtanwendungserlassen in der Antwort der Bundesregierung zu Frage 2 der Kleinen Anfrage der Fraktion der FDP auf Bundestagsdrucksache 19/5758 verwiesen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/15605 Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333