Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Marc Jongen, Dr. Götz Frömming, Nicole Höchst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD – Drucksache 19/15638 – Haltung der Bundesregierung zu den fortgesetzten Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen (Nachfrage zur Antwort auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 19/2533) V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Die Bundesregierung hat auf die Kleine Anfrage zu der Bundestagsdrucksache 19/11752 erneut bekräftigt, dass sie sich weltweit für die Wissenschaftsfreiheit einsetzt. Bisher indes sah sie keine Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland (vgl. Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 1 und 2 auf Bundestagsdrucksache 19/2533), obwohl sich nach Ansicht der Fragesteller die Hinweise mehrten. Der Deutsche Hochschulverband kritisierte im April 2019 z. B., dass die politische Korrektheit die Toleranz gegenüber anderen Meinungen einschnüre, was dazu führe, dass abweichende Meinungen in der Debatte keinen Platz fänden (www.hochschulverband.de/pressemitteilung.htm l?&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=311&cHash=654d6bd0a6a747f 0b20e53f722978ed5#_). Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) warnte vor einer Re-Ideologisierung an Hochschulen und mahnte an, dass auf den Erhalt der Wissenschaftsfreiheit, und zwar auch bei abweichenden Meinungen, hinzuwirken sei (KAS 2017, Wissenschaftsfreiheit. Argumente für mehr Rücksicht auf ein gefährdetes Grundrecht, These 9 www.kas.de/documents/25 2038/253252/7_dokument_dok_pdf_49661_1.pdf/32beb922-fa32-b0bd-d3c8- 5121392b9b2e?version=1.0&t=1539648801852). Dessen ungeachtet sieht die Bundesregierung keinen Anlass für Gegenmaßnahmen (vgl. Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 4 und 5 auf Bundestagsdrucksache 19/2533). Dabei finden sich nach Ansicht der Fragesteller mittlerweile auf allen Ebenen Beispiele für die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit . Abweichende Meinungen werden nach Ansicht der Fragesteller zunehmend aus dem Diskurs verdrängt. So werden beispielsweise Dozenten zum Rapport einbestellt, wenn sie sich nicht im Sinne der Hochschulleitung äußern, wie ein Bildungsforscher aus internen Hochschulberichten folgert (www.zeit.de/studium/2015-08/professoren-gesellschaft-themen-stellung nahme). Der Versuch des Präsidenten der Universität Siegen, als „umstritten“ eingestufte Gäste von einer Diskussion auszuschließen, indem die Finanzmittel für die Veranstaltung gestrichen werden, ist nach Ansicht der Fragesteller Deutscher Bundestag Drucksache 19/16110 19. Wahlperiode 18.12.2019 Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 16. Dezember 2019 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. nur ein weiteres Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit, das für öffentliches Aufsehen sorgte (www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-um-redefreiheit-an-d er-uni-siegen-wo-liegt-die.1013.de.html?dram:article_id=438026; www.wp.de /staedte/siegerland/sarrazin-vortrag-dieter-schoenecker-kritisiert-uni-siegen-id 215754029.html; www.siegener-zeitung.de/8491). Aber auch `von unten´ gerät die Wissenschaftsfreiheit zunehmend in Bedrängnis . Dozenten und Hochschulleitungen werden mit Rufmord, Vandalismus, Raub und körperlicher Gewalt bedroht, wenn sie erhobenen Forderungen nicht nachkommen. Ein Beispiel hierfür findet sich an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo der Präsident dazu bewegt werden sollte, die Universität umzubenennen . Sogenannte Aktivisten stahlen zu diesem Zweck ein Gemälde aus der Ahnengalerie der Universität und wollten es nur nach der Erfüllung ihrer Forderung zurückgegeben (www.taz.de/Berliner-Humboldt-Universitaet/!505 3159). Sogenannte Aktivisten einer trotzkistischen Hochschulgruppe drohten einem renommierten Stalinismus- und Gewaltforscher sogar physische Gewalt an, weil er einen Kritiker Leo Trotzkis zu einem Seminar einlud (www.deutsch landfunk.de/wissenschaftsfreiheit-die-toleranz-gegenueber-ande-ren.1148.de.h tml?dram%3Aarticle_id=455635&fbclid=IwAR3tZhKg914XFpQqHfmkTWP -kxZCm_LEedx-mDbjMPzVodOZUau2tEg7-2s). Erst recht zeigen die Vorgänge um eine Vorlesung des Wirtschaftsprofessors und Mitbegründers der Alternative für Deutschland (AfD), der von Hunderten von Studenten als „Nazischwein“ niedergebrüllt und auch physisch bedrängt wurde und seine Vorlesung nicht abhalten konnte, in welchem Maße die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland bereits eingeschränkt ist. Alarmierend ist aus Sicht der Fragesteller, dass diese Vorgänge von Hamburgs Wissenschaftssenatorin und dem Universitätspräsidenten als „diskursive Auseinandersetzung“ verharmlost wurden (www.tagesspiegel.de/politik/proteste-gegen-afd-mitbe gruender-lucke-so-reagiert-die-universitaetsleitung/25123026.html; www.wel t.de/politik/deutschland/article202073846/Bernd-Lucke-Politik-und-Hoch schulverbaende-kritisieren-linke-Studenten.html). Trotz dieser evidenten Vorfälle teilte die Bundesregierung mit, dass ihr keine Erhebungen vorlägen, die einen Anstieg von Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit belegten (vgl. Antwort der Bundesregierung zu Frage 3 auf Bundestagsdrucksache 19/2533). Am 15. Mai 2019 gestand die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, bei einer Regierungsbefragung jedoch ihre Besorgnis über Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit ein und mahnte zu mehr Wachsamkeit. Sie sieht die Gesellschaft aufgefordert, Grenzen zu setzen, um einen freien Meinungsaustausch zu gewährleisten (vgl. Antwort der Bundesbildungsministerin Anja Karliczek auf eine Frage des Abgeordneten Dr. Götz Frömming, Plenarprotokoll 19/100, S. 12058 B, C). Zuletzt erklärte die Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, dass „das Ringen um Positionen und das Hinterfragen von Thesen“ „ein Wesenskern von Wissenschaft “ seien. „Debatten von vornherein zu unterdrücken“ widerspreche „der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit“ (www.welt.de/politik/deutschland/articl e202073846/Bernd-Lucke-Politik-und-Hochschulverbaende-kritisieren-linke- Studenten.html). Aus Sicht der Fragesteller ist die Bundesministerin aufgefordert, ihren Worten Taten folgen zu lassen und sich dafür einzusetzen, dass die Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen gewahrt wird (www.welt.de/politik/deutsch land/article202073846/Bernd-Lucke-Politik-und-Hochschulverbaende-kritisie ren-linke-Studenten.html). Dazu gehört nach Ansicht der Fragesteller auch, dass der wachsende Einfluss der Politik auf die Vergabe von Drittmitteln und der damit einhergehende Konformitätsdruck einer kritischen Untersuchung unterworfen werden. Auch hieraus erwächst ein hoher Konformitätsdruck, der Gefahren für die Wissenschaftsfreiheit in sich birgt. Vor dem Hintergrund dieser neuesten Entwicklungen ist es aus Sicht der Fragesteller von Bedeutung, zu erfahren, ob, und inwieweit sich die Sichtweise der Bundesregierung im Hinblick auf die aktuellen Bedrohungslagen der Wis- Drucksache 19/16110 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode senschaftsfreiheit geändert hat und welche Konsequenzen sie ggf. bisher daraus gezogen hat. 1. Teilt die Bundesregierung die Beobachtung des Deutschen Hochschulverbandes und der KAS, nach der die Wissenschaftsfreiheit auch in Deutschland zunehmend gefährdet ist (www.hochschulverband.de/pressemittei lung.html?&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=311&cHash=654d 6bd0a6a747f0b20e53f722978ed5#_; KAS 2017, Wissenschaftsfreiheit. Argumente für mehr Rücksicht auf ein gefährdetes Grundrecht)? a) Wenn ja, welches Ereignis oder welche Erhebung brachte die Bundesregierung gegenüber ihrer Einschätzung vom 4. Juni 2018 (vgl. Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 1 und 2 auf Bundestagsdrucksache 19/2533) zum Umdenken? b) Wenn nein, wie erklärt die Bundesregierung in diesem Fall ihre Sichtweise ? Es wird auf die Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 162 des Abgeordneten Dr. Götz Frömming auf Bundestagsdrucksache 19/15931 verwiesen. Im Übrigen sind Hochschulen als Hausherren nicht für das konkrete Handeln einzelner Personen bzw. Gäste an Hochschulen verantwortlich, sondern dafür, die Rahmenbedingungen für gutes wissenschaftliches Arbeiten herzustellen . Die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland ist durch Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützt und durch die von den Fragestellern angesprochenen Ereignisse nicht in Frage gestellt. Wissenschaft ist nach einer Definition des Bundesverfassungsgerichts „jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch der Wahrheitsermittlung anzusehen ist“ (BVerfGE 35, 79). In diesem Kontext sind daher nicht „Meinungen“ zu allgemeinen gesellschaftlichen Themen geschützt, sondern wissenschaftliche Ergebnisse, Thesen und Argumente. Geschützt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ihre Tätigkeiten in Forschung und Lehre, sofern sie der Verknüpfung mit der Forschung des Lehrenden entspringt. 2. Hat die Bundesregierung eine Haltung zu den Vorgängen um eine Vorlesung des Wirtschaftsprofessors und Mitbegründers der AfD an der Hamburger Universität, der dort als „Nazischwein“ niedergebrüllt wurde und seine Vorlesung nicht abhalten konnten (www.welt.de/regionales/ham burg/article202021174/AfD-Mitgruender-Demonstranten-schreien-Luckes -Vorlesung-nieder.html)? Wenn ja, welche? Die Bundesregierung bedauert es, wenn Differenzen mit Andersdenkenden nicht friedlich und argumentativ ausgetragen werden. Die Bundesregierung setzt sich für eine offene und pluralistische Debatten- und Streitkultur an deutschen Hochschulen und anderen Orten öffentlicher Diskussion ein. Die Gewährleistung der für die Ausübung dieser grundrechtlich geschützten Freiheiten erforderlichen Rahmenbedingungen obliegt jedoch in erster Linie den Hochschulen; im Übrigen gilt das allgemeine Ordnungsrecht. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/16110 3. Sieht die Bundesregierung durch die oben genannten Vorgänge an der Hamburger Universität die Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen beeinträchtigt oder gefährdet? a) Wenn ja, welche konkreten Schritte erwägt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Vorgänge an der Hamburger Universität, um die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland zu wahren? b) Wenn nein, warum sieht die Bundesregierung die Wissenschaftsfreiheit durch die Vorgänge an der Hamburger Universität nicht gefährdet ? Es wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. 4. Führt die Bundesregierung Gespräche mit Akteuren im universitären Kontext über die voranschreitende Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit, wie sie beispielsweise in der oben verlinkten Veröffentlichung der KAS geschildert wird? a) Wenn ja, hält die Bundesregierung den Umfang der Gespräche für angemessen ? Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, zu welchen Ergebnissen diese Gespräche geführt haben? b) Wenn die Bundesregierung keine Gespräche mit Akteuren des Wissenschaftssystems über die voranschreitende Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit führt, warum werden solche Gespräche nicht geführt, obwohl die Bundesregierung behauptet, sich weltweit für die Wissenschaftsfreiheit einzusetzen? Die Bundesregierung pflegt den regelmäßigen Kontakt mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen und informiert sich im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung durch regelmäßige und anlassbezogene Gespräche. Auch im Rahmen der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes waren die Wissenschaftsfreiheit und die Notwendigkeit einer gehaltvollen Wissenschaftskommunikation wiederholt Thema des Austauschs. Gute Wissenschaftskommunikation schafft dabei nicht nur Verständnis für den Wert der Wissenschaft für die Gesellschaft und für die fachlichen Inhalte, sondern auch für den wissenschaftlichen Prozess und damit den Wert des Abwägens von Argumenten und die Auseinandersetzung mit Positionen, die man selbst nicht teilt. 5. Auf welche Erkenntnisse hat sich die Bundesregierung gestützt, als sie angab, keine Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit zu sehen, wenn sie keine Erhebungen über den Grad der Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen durchführt (vgl. Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 1 und 2 auf Bundestagsdrucksache 19/2533)? Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Medien umfassend über einzelne Ereignisse an Hochschulen berichten, bei denen es zu Konfrontationen zwischen Streitparteien kommt. Überdies erhebt die Bundesregierung den Anspruch , auch jenseits der Berichte in den Medien durch ihre zahlreichen Kontakte zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie zu den Ländern und Wissenschaftsorganisationen ein realistisches Bild von der Situation an deutschen Hochschulen zu gewinnen. Drucksache 19/16110 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 6. Auf welche Anlässe oder Erkenntnisse stützte sich die Bundesbildungsministerin Anja Karliczek, als sie ihre Sorge über die wachsende Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit bekundete (vgl. Antworten der Bundesbildungsministerin zu Fragen des Abgeordneten Dr. Götz Frömming, Plenarprotokoll 19/100, S. 12058 B, C)? Die Bundesministerin für Bildung und Forschung registriert Einzelfälle bedrohter Debattenkultur, wie die in der Vorbemerkung der Fragesteller genannten. Diese geben durchaus Anlass zur Wachsamkeit, denn gerade Hochschulen haben als Orte des Diskurses eine Vorbildfunktion beim Umgang mit unterschiedlichen Positionen. 7. Hat die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Frage 6 Forschungsprojekte initiiert, um das Ausmaß und die Hintergründe der voranschreitenden Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit aufzuhellen? a) Wenn die Bundesregierung Forschungsprojekte in Auftrag gegeben hat, was sind die wesentlichen Erkenntnisse dieser Forschungsergebnisse ? Plant die Bundesregierung, weitere Forschungsprojekte über die das Ausmaß und die Hintergründe der Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit zu fördern? b) Wenn die Bundesregierung keine Forschungsprojekte initiiert hat, um das Ausmaß und die Hintergründe der voranschreitenden Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit zu erforschen, warum ist das nicht geschehen ? 8. Hat die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Frage 6 Forschungsprojekte in Auftrag gegeben, um zu analysieren, wie der voranschreitenden Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen entgegenzutreten ist? a) Wenn ja, wie hoch ist das Gesamtbudget, das die Bundesregierung für die Erforschung von Interventionsmöglichkeiten für die voranschreitende Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit zur Verfügung stellt? b) Wenn ja, was sind die wesentlichen Erkenntnisse dieser Forschungsergebnisse ? c) Wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung die Forschungsergebnisse ? d) Wenn die Bundesregierung keine Forschungsprojekte initiiert hat, um Interventionsmöglichkeiten für die voranschreitende Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit zu erforschen, warum ist dies nicht geschehen ? Die Fragen 7 und 8 werden im Zusammenhang beantwortet. Da nach Auffassung der Bundesregierung keine Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit vorliegt, hat sie auch keine Forschungsprojekte hierzu initiiert bzw. in Auftrag gegeben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/16110 Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333