Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit vom 12. April 2018 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Deutscher Bundestag Drucksache 19/1645 19. Wahlperiode 13.04.2018 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Lisa Badum, Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 19/1465 – Ernster Atomunfall mit Ruthenium-106-Freisetzung vom September 2017 V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Ende September 2017 wurden vielerorts in Europa erhöhte Ruthenium-106- Werte gemessen. Die Freisetzung war so erheblich, dass es sich nach Einschätzung der Bundesregierung um einen Atomunfall der dritthöchsten Kategorie auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare und radiologische Ereignisse (INES) gehandelt haben muss (Kategorie 5), das heißt um einen ernsten Atomunfall (vgl. Antwort der Bundesregierung vom 14. März 2018 auf die Schriftliche Frage 117 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl auf Bundestagsdrucksache 19/1241). Seit 1986 existiert als Konsequenz der Atomkatastrophe von Tschernobyl eine Frühwarnkonvention der Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), die sogenannte „Convention on Early Notification of a Nuclear Accident“. Trotzdem existiert bis heute, also rund ein halbes Jahr nach dem Atomunfall keine betreffende INES-Meldung – weder durch den Staat, in dem sich der Atomunfall ereignet hat, noch durch die IAEO (siehe o. g. Antwort der Bundesregierung vom 14. März 2018). Zwar wurde im Dezember 2017 vom Institut für Nuklearsicherheit der Russischen Akademie der Wissenschaften (IBRAE) für diesen Ruthenium-106-Atomunfall eine Internationale Unabhängige Wissenschaftliche Untersuchungskommission ins Leben gerufen. Während die Fragestellerinnen und Fragesteller die IBRAE-Initiative zwar durchaus begrüßen, verweisen sie darauf, dass es sich beim IBRAE nicht um die zuständige Atomaufsicht handelt. Es bleibt also festzustellen , dass diese Aufklärungsarbeit nicht von den für die Atomaufsicht und den Strahlenschutz zuständigen staatlichen Stellen ausgeht. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/1645 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass alle bisherigen Erkenntnisse hinsichtlich der Ruthenium-106-Freisetzung von Ende September 2017 auf einen Ort in Russland als Ursprungsort der Freisetzung deuten (bitte mit Begründung )? Berechnungen des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) zur Ausbreitung von radioaktiven Stoffen in der Atmosphäre deuteten schon frühzeitig auf einen Ursprung im südlichen Ural hin. Jedoch konnte auch ein Ursprungsort westlich davon im südlichen Russland zunächst nicht ausgeschlossen werden. Neuere Messdaten des russischen Wetterdienstes Roshydromet von Ende November lassen dieses Gebiet westlich des Urals nicht in Frage kommen. Die französische Strahlenschutzbehörde IRSN (Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire) kam nach einem fachlichen Austausch mit dem BfS zu gleichen Schlussfolgerungen. Zu einer ersten groben Bestimmung des Ursprungsgebietes wurden sogenannte Rückwärtstrajektorien berechnet. Anschließend wurden von dem so eingegrenzten Gebiet insgesamt über eintausend Ausbreitungssimulationen durchgeführt. Aus der Korrelation der Ausbreitungsergebnisse mit den gemessenen Daten von Ruthenium konnte als wahrscheinlichstes Ursprungsgebiet die Region Süd-Ural bestimmt werden. Andere, weiter nördlich gelegene Bereiche des Urals kommen als Ursprungsort ebenfalls in Frage, allerdings mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit . Auch die Grenzregion von Russland und Kasachstan kommt als mögliches Ursprungsgebiet in Frage, allerdings ebenfalls mit einer niedrigeren Wahrscheinlichkeit als der Süd-Ural. Eine Freisetzung in einem anderen osteuropäischen Land ist sehr unwahrscheinlich. 2. Hat die Bundesregierung Russland um Auskunft gebeten hinsichtlich der Ruthenium-106-Freisetzung, insbesondere ihrer Ursache(n)? Falls ja, jeweils wann und mit welchen Ergebnissen (bitte vollständige und möglichst wortwörtliche Darlegung aller Anfragen und Reaktionen mit jeweiligem Datum)? Falls nein, warum nicht? Die deutsche Botschaft in Moskau hat nach Bekanntwerden der erhöhten Konzentrationen von Ruthenium-106 in der Luft in weiten Teilen Europas und den in der Antwort zu Frage 1 erwähnten Analysen des BfS zum möglichen Freisetzungsort des Rutheniums die russische Regierung, insbesondere das Katastrophenschutzministerium und das Außenministerium, um klärende Informationen gebeten. Dies wurde zunächst dahingehend beantwortet, dass dort keine Informationen über erhöhte Radioaktivitätswerte vorlägen. Eine weitere Nachfrage Ende November des Jahres 2017 beim russischen Außenministerium unter Verweis auf eine Bestätigung des staatlichen russischen Wetterdienstes über den erhöhten Austritt von Ruthenium-106 wurde nicht beantwortet. Mitte Oktober des Jahres 2017 hat der deutsche INES-Officer auf Bitte des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit den russischen INES-Officer und die zuständigen russischen Behörden hinsichtlich eines möglichen radiologischen Ereignisses kontaktiert. Nach Angaben von russischer Seite habe es keine Vorfälle in Verbindung mit einer Freisetzung von Ruthenium-106 auf russischem Gebiet gegeben. Ende Oktober des Jahres 2017 hat das BfS das russische Scientific and Engineering Centre for Nuclear and Radiation Safety auf Arbeitsebene über die in der Antwort zu Frage 1 erwähnten Analysen informiert und um eine Stellungnahme Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/1645 gebeten. Das Vorgehen des BfS wurde aus technischer Sicht grundsätzlich anerkannt , jedoch wurde auf eine unvollständige Datenbasis verwiesen und der ermittelte Quellterm in Zweifel gezogen. Eine Notifizierung eines für die Ruthenium-106-Freisetzung ursächlichen Ereignisses gemäß der Frühwarnkonvention der IAEO liegt bis heute nicht vor. Im Rahmen der vom russischen IBRAE einberufenen internationalen Untersuchungskommission , an der Vertreter des Bundesamtes für Strahlenschutz und Experten u. a. aus Finnland, Frankreich, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und dem Vereinigten Königreich teilnehmen, soll versucht werden, die Ursache der Freisetzung zu ermitteln. Die Mitwirkung in der Untersuchungskommission ist im Rahmen der ENSREG (European Nuclear Safety Regulators Group) international abgestimmt (siehe auch Antwort zu Frage 4). 3. Haben nach Kenntnis der Bundesregierung a) andere Länder (ggf. bitte betreffende Länder angeben) und Der Bundesregierung liegen hierzu keine Informationen vor. b) die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) Russland um Auskunft gebeten hinsichtlich der Ruthenium-106-Freisetzung, insbesondere ihrer Ursache(n)? Falls ja, jeweils wann und mit welchen Ergebnissen (bitte vollständige und möglichst wortwörtliche Darlegung aller Anfragen und Reaktionen mit jeweiligem Datum)? Die IAEO hat ihre Vertragsstaaten, einschließlich Russland, hinsichtlich einer Freisetzung auf ihrem Staatsgebiet kontaktiert. Alle kontaktierten Staaten hätten mitgeteilt, dass es kein Ereignis auf ihrem Gebiet gegeben habe. 4. Hat die Bundesregierung versucht, Erkenntnisse zum Gegenstand der vorstehenden Frage zu erlangen durch Anfrage bei anderen Ländern und der IAEO (ggf. bitte Initiativen auflisten)? Falls nein, warum nicht? Nach Bekanntwerden der in der Antwort auf Frage 1 erläuterten Analyseergebnisse des BfS hat die Bundesregierung am 6. Oktober 2017 unverzüglich ein formelles Auskunftsersuchen (Request for Information) an die IAEO gerichtet. Daraufhin hat die IAEO die in der Antwort zu Frage 3 erwähnte Anfrage an ihre Mitgliedsstaaten gesendet und um die Übermittlung aller verfügbaren Messdaten gebeten. Die ENSREG hat sich im Rahmen ihrer 35. Sitzung am 20. Dezember 2017 in Brüssel mit den in Europa gemessenen Ruthenium-106-Werten befasst. Es wurde beschlossen, durch ein Schreiben des ENSREG-Vorsitzenden gemeinsam auf die Einladung der IBRAE zur Teilnahme an der internationalen Untersuchungskommission zu reagieren. An der Untersuchungskommission sind Experten aus Deutschland, Frankreich, Finnland, Schweden, Norwegen, Großbritannien und Russland beteiligt. Die endgültigen Ergebnisse durch die internationale Untersuchungskommission , deren erste Sitzung am 31. Januar 2018 stattfand, stehen noch aus. Eine zweite Sitzung ist für April des Jahres 2018 geplant. An der ersten Sitzung der Kommission nahm eine Beobachterin der OECD/NEA teil. Zukünftig soll auch die IAEO als Beobachterin eingeladen werden. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/1645 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Die Bundesregierung hat sich ferner im Rahmen des IAEO-Gouverneursrats im November des Jahres 2017 in einer gemeinsamen Erklärung mit Frankreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreiche nachdrücklich für mehr Transparenz im Zusammenhang mit den Messungen ausgesprochen und Staaten, die zur Aufklärung der Ursachen der Emissionen beitragen können, dazu aufgerufen, dies unverzüglich zu tun. Eine Replik auf diese Erklärung erfolgte nicht. 5. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das Frühwarnsystem für Atomunfälle gemäß der betreffenden IAEO-Frühwarnkonvention von 1986 in diesem Fall versagt hat (bitte mit Begründung)? Eine Frühwarnung gemäß der IAEO-Frühwarnkonvention basiert auf der Notifizierung eines Unfalls durch den Vertragsstaat, in dem sich dieser ereignet hat, wenn im Falle einer grenzüberschreitenden Freisetzung radiologisch relevante Auswirkungen auf einen anderen Staat erfolgt oder möglich sind. Da im vorliegenden Fall keine Notifizierung erfolgte, konnte die IAEO auch keine entsprechende Information an andere Staaten weiterleiten. Sie richtete in ihrem internetbasierten System USIE (Unified System for Information Exchange in Incidents and Emergencies) eine Seite ein, auf der Vertragsstaaten die auf ihrem Gebiet gemessenen Ru-106-Luftaktivitätskonzentrationen einstellen konnten, um sie so allen anderen Vertragsstaaten verfügbar zu machen. Nach Auffassung der IAEA gibt ihr die Frühwarnkonvention nicht das Mandat, Nachforschungen anzustellen. 6. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das IAEO-Frühwarnsystem für Atomunfälle ausreichend robust ist (falls ja, bitte mit Begründung beantworten)? Falls nein, a) welche Reforminitiativen will sie b) bis wann ergreifen und c) mit welchen Ländern steht sie hierzu bereits im Austausch? Nach Auffassung der Bundesregierung sind zunächst Ursache und Details des Ereignisses zu klären. Inwieweit die vom russischen IBRAE einberufene internationale Untersuchungskommission hierzu beitragen kann, bleibt abzuwarten. Erst nach Klärung der Faktenlage kann diskutiert werden, inwieweit die Handhabung durch den Verursacherstaat insbesondere vor dem Hintergrund von Transparenz und Offenheit unangemessen war und ob sich daraus Konsequenzen für die Frühwarnkonvention ergeben. Diese Fragen können nur im internationalen Rahmen diskutiert werden. 7. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass das IAEO-Frühwarnsystem für Atomunfälle bzw. Benachrichtigungen über Zwischenfälle mit Einstufung gemäß der INES nicht nur dazu dient, andere Staaten über bereits erfolgte Radioaktivitätsfreisetzungen in die Atmosphäre zu informieren, sondern auch über (noch nicht abgeschlossene) Zwischenfälle, bei denen es noch nicht zur Freisetzung in die Atmosphäre kam? Mit anderen Worten, kann sie bestätigen, dass das Frühwarnsystem bzw. INES-Benachrichtigungen auch dazu dienen sollen, dass sich Staaten in derartigen Szenarien auf (potenziell) bevorstehende Radioaktivitätsfreisetzungen in einem anderen Staat vorbereiten können sollen? Ja. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/1645 8. Welche anderen Ursachen als die vom staatlichen französischen Institut für Strahlenschutz und Nuklearsicherheit IRSN online veröffentlichte Indizienkette zur möglichen Ursache der Ruthenium-106-Freisetzung kommen aus Sicht der Bundesregierung noch infrage (vgl. oben genannte Antwort der Bundesregierung vom 14. März 2018)? Ruthenium-106 entsteht bei der Kernspaltung von Uran oder Plutonium und wird damit in großen Aktivitätsmengen nur in Kernreaktoren erzeugt (natürliche Vorkommnisse von Ruthenium-106 gibt es nicht). Die Extraktion von isoliertem Ruthenium muss daher bei der Aufarbeitung von nuklearen Brennelementen erfolgt sein. Aus dem gemessenen Verhältnis von Ruthenium-106 zu Ruthenium-103 kann geschlossen werden, dass die Brennelemente vor etwa ein bis zwei Jahren aus einem Kernreaktor entnommen worden sind. Ob die Extraktion von isoliertem Ruthenium als Nebenprodukt bei der Aufarbeitung von nuklearen Brennelementen geschehen ist oder ob die Aufarbeitung mit dem Ziel der Gewinnung von isoliertem Ruthenium erfolgt ist, kann auf der Basis der derzeit vorliegenden Informationen nicht sicher eingeschätzt werden. Im letzteren Fall kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Freisetzungsort nicht der Ort der Aufarbeitung ist. Dementsprechend lässt sich bis heute nicht die Ursache der Ruthenium-106- Freisetzung bestimmen. 9. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass alle bisherigen Erkenntnisse zu der Ruthenium-106-Freisetzung dafür sprechen, dass es einen Zusammenhang mit der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennstoffe geben muss? Die bisher gewonnenen Erkenntnisse der Bundesregierung weisen auf einen Zusammenhang mit der Aufarbeitung von nuklearen Brennelementen hin (siehe auch Antwort zu Frage 8). Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333