Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Thomas Hacker, Katja Suding, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 19/15987 – Zeitzeugen eine Stimme geben durch Oral History V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Die nationalsozialistische Diktatur spielt für die Geschichte unseres Landes und unseres Kontinents eine prägende Rolle. Die deutsche Vergangenheit zeigt uns, dass Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie keineswegs selbstverständlich sind und jeden Tag neu verteidigt und gesichert werden müssen. Um die Zukunft zu gestalten, muss man sich der Vergangenheit stellen. Dabei kann eine erfahr-, erleb- und nahbare Erinnerungskultur auch zukünftigen Generationen , für die die Zeit des Nationalsozialismus (NS) in weiter Ferne liegt, helfen, diese zu vergegenwärtigen und der Opfer zu gedenken. Unabhängig von Ort, Zeit und Technik muss Erinnerungskultur sowohl die Herzen als auch die Köpfe derjenigen erreichen, die die unbeschreiblichen Gräueltaten nicht erlebt haben. Um jedoch auch diesen und nachfolgenden Generationen den Blick auf das allgegenwärtige Unrecht zu ermöglichen, dürfen lebendige und wahre Geschichten nicht in Vergessenheit geraten. Schicksale sind immer auch individuelle Erfahrungen. Persönliche Lebensgeschichten , Ängste und Leiden zu vermitteln, ist zudem notwendige historische Arbeit . Institutionen, die sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigen, sollten einen umfangreichen Zugriff auf „Oral History Archive“, wie beispielsweise das Archiv der USC Shoah Foundation, erhalten. Bereits 1994 stellte der Gründer der Shoah Foundation, Steven Spielberg, fest: „The majority of Holocaust survivors are in their seventies or eighties. The window for capturing their testimonies is closing fast“ (Die Mehrheit der Holocaust- Überlebenden ist bereits über 70. Das Zeitfenster ihre Zeitzeugenberichte zu verewigen schließt sich schnell). Seit der Gründung der Shoah Foundation konnten insgesamt über 52.000 Gespräche und Interviews mit Überlebenden aufgenommen werden. 2006 wurde die Shoah Foundation Teil der University of Southern California (USC). Seitdem wird diese umfangreiche Sammlung von Interviews und Gesprächen mit Überlebenden des Holocausts von der übergeleiteten USC Shoah Foundation verwaltet. Allein durch die schiere Anzahl von Interviews und Gesprächen bietet dieses Archiv die Möglichkeit, die Taten der Nationalsozialisten nah-, erleb- und erfahrbar zu machen. Solch eine Quellenmenge ist nicht nur für die Ausgestal- Deutscher Bundestag Drucksache 19/16575 19. Wahlperiode 16.01.2020 Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom 14. Januar 2020 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. tung von Gedenk- und Informationszentren hilfreich, sondern ermöglicht auch in Zukunft eine weitere Erforschung der NS-Zeit. Zudem droht 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution von 1989 der Verlust einiger Zeitzeugen, die den Beginn der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR miterlebt haben. Es ist notwendig, die Erfahrungen der Opfer des Regimes der SED für nachfolgende Generationen bereitstellen zu können. Daher sollten Interviews und Gespräche mit den Opfern und – wenn sie sich zur Verfügung stellen – Tätern zeitnah aufgenommen, digitalisiert und archiviert werden. 1. Fördert die Bundesregierung bereits den Zugang zu Oral-History- Archiven und speziell zum Archiv der USC Shoah Foundation? a) Falls ja, welche Archive sind dies? b) Falls nein, wieso nicht? Die Bundesregierung unterstützt die Erstellung, Archivierung und Zugänglichmachung von Zeitzeugenberichten in vielfältiger Weise: Auf Initiative und durch Förderung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) ist die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland seit 2016 auch Service- und Koordinierungsstelle für die Zeitzeugenarbeit der von BKM geförderten Institutionen. Im Rahmen dieser Tätigkeit werden vermittlungsorientierte Zeitzeugeninterviews erfasst, gesichert und vorhandene Bestände systematisch erschlossen. Zudem werden kontinuierlich weitere Zeitzeugeninterviews erstellt, die nach modernem Standard archiviert und der Öffentlichkeit über unterschiedliche Vermittlungsangebote zur Verfügung gestellt werden. So betreibt die Stiftung mit dem Zeitzeugenportal (www.zeitzeugen-portal.de) ein großes Online-Archiv, in dem derzeit über 1.000 Zeitzeugeninterviews im Internet öffentlich und frei zugänglich sind. Die Erzählungen dieser Sammlung reichen von Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg bis zu fast gegenwartsbezogenen Berichten. Umfasst sind vor allem Erinnerungen von Überlebenden des Holocausts. Ergänzt wurde dieses Portal durch den Bestand „Gedächtnis der Nation“, der einige Jahre federführend vom ZDF unterhalten wurde. Dieses Portal wird aktiv und kontinuierlich erweitert. Des Weiteren fördert die Bundesregierung institutionell zahlreiche Gedenkstätten , Dokumentationszentren und Museen, die im Rahmen ihres jeweiligen Auftrags anwendungsbezogene Forschung betreiben und historisch-politische Vermittlungsarbeit anbieten. Zu diesem Zweck unterhalten viele dieser Einrichtungen eigene Zeitzeugenarchive. Für den Bereich SBZ/DDR (Sowjetischen Besatzungszone/ehemalige Deutsche Demokratische Republik) wurde im Jahr 2010 das Koordinierende Zeitzeugenbüro geschaffen. Es handelt sich um eine gemeinsame Servicestelle der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen in Kooperation mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Stiftung Aufarbeitung) und der Stiftung Berliner Mauer, die von der BKM gefördert wird. Deutschlandweit können über das Portal Biografien von Zeitzeugen recherchiert und Zeitzeugen direkt für Vermittlungsformate angefragt werden. Zudem werden Zeitzeugeninterviews auch archiviert. Das Angebot richtet sich primär an Schulen und Bildungseinrichtungen . Auch im Bundesarchiv und in den Arolsen Archives sind u. a. Erlebnisberichte, Verfolgungsnachweise oder Material im Zusammenhang mit Kriegsverbrecherprozessen erfasst und archiviert. Die rechtlich selbständige öffentlich-rechtliche Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), über die das Bundesministerium der Finanzen Drucksache 19/16575 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode die Haushalts- und Rechtsaufsicht innehat, fördert folgende Institutionen bzw. Projekte: – USC Shoah Foundation (Bewilligungssumme: 312.680 Euro, Projektlaufzeit : 21 Monate). Ziel des Projektes ist die Erstellung des ersten interaktiven deutschsprachigen Zeitzeugnisses der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch. Das interaktive Zeugnis ermöglicht ein lebensechtes Gesprächserlebnis und kann in Museen und Bildungseinrichtungen eingesetzt werden. Das Projekt befindet sich aktuell in der Testphase, eine Fertigstellung ist im Laufe des nächsten Jahres geplant. – Yad Vashem – The World Holocaust Remembrance Center (Bewilligungssumme : 570.000 Euro, Projektlaufzeit: 36 Monate). Das Projekt beschäftigt sich mit dem Zugang zu digitalen Archiven von Yad Vashem und damit auch mit dem Zugang zu Zeitzeugnissen. Drei bereits existierende digitale Archive von Yad Vashem werden auf eine neue Plattform als einheitliche Ressource für die Holocaust-Bildung transferiert. Die Plattform ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Im Rahmen des Projekts werden zusätzlich drei Workshops für internationale Stakeholder durchgeführt. – Center für Digitale Systeme (CeDiS), FU Berlin/Deutsches Historisches Museum (DHM): Online-Archiv Zwangsarbeit 1939 bis 1945 (Bewilligungssumme : 3.820.000 Euro, Projektlaufzeit: 2007 bis 2021). Das Online- Archiv „Zwangsarbeit 1939 bis 1945. Erinnerungen und Geschichte“ bewahrt die Erinnerung an gut zwanzig Millionen Menschen, die für das nationalsozialistische Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben. Das Archiv umfasst knapp 600 lebensgeschichtliche Audio- und Video-Interviews ehemaliger ziviler Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangener aus 26 Ländern. Die Interview-Sammlung entstand von 2005 bis 2006 im Rahmen des Projekts „Dokumentation lebensgeschichtlicher Interviews mit ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeitern“ der Stiftung EVZ. Unter Federführung des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen wurden vor allem in Mittel- und Osteuropa 192 Video- und 391 Audio-Interviews in der Muttersprache der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen durchgeführt. Das im Herbst 2007 begonnene Kooperationsprojekt der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum zielt auf die dauerhafte Sicherung, Bereitstellung und fundierte Erschließung der Audio- und Video-Interviews, Fotos und Dokumente. Das seit 2009 verfügbare digitale Interview-Archiv steht seit 2014 auch auf Englisch und Russisch bereit. – Jüdisches Museum Hohenems Österreich/KZ-Gedenkstätte Flossenbürg Deutschland: Internationale Wanderausstellung „Das Ende der Zeitzeugenschaft ?“ (Bewilligungssumme: 150.000 Euro, Projektlaufzeit: 2019 – 2020). Die internationale Wanderausstellung „Das Ende der Zeitzeugenschaft?“ richtet den Blick auf die Geschichte der Zeitzeugenschaft. Sie erkundet die komplexe Beziehung zwischen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und den Interviewenden , dem verwendeten Medium und der umgebenden Gesellschaft . Dabei steht die Erinnerung an den Holocaust im Fokus, wie sie in Interviews der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und in Aufnahmen ihrer öffentlichen Auftritte überliefert ist. Das Jüdische Museum Hohenems nutzt die Interviews von NS-Verfolgten des visuellen Archivs der USC Shoah Foundation, die einen Bezug zu Hohenems, Österreich, dem Grenzgebiet zur Schweiz haben. Die Gedenkstätte Flossenbürg wird eine Auswahl ihrer eigenen Interview-Bestände präsentieren, die die vielfältigen Opfergruppen des Nationalsozialismus darstellt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/16575 – Darüber hinaus hat die Stiftung EVZ das digitale Archiv mit Interviews von NS-Opfern der russischen NGO „memorial“ gefördert. Außerdem fördert die Stiftung Projekte im In- und Ausland, die die bereits vorhandenen Interview-Archive für die Bildungsarbeit nutzen. Die Stiftung EVZ fördert auch den internationalen Fachaustausch zur Oral History und zur Bildungsarbeit mit Video-Testimonies in Form von Konferenzen und Workshops. Bisher wurden vier Online-Publikationen erstellt, die kostenlos auf der Homepage der Stiftung EVZ erhältlich sind. Archivierungen der Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden, wie sie in den Akten der entschädigungsrechtlichen Regelungen seit Kriegsende enthalten sind, sollen in Zukunft über ein Themenportal „Wiedergutmachung“ zugänglich gemacht werden. Dazu plant das Bundesministerium der Finanzen mit Partnern im In- und Ausland, das mehrere Millionen Akten umfassende Dokumentenerbe der Wiedergutmachung zukünftig auch aktiv in der Antisemitismusbekämpfung und gegen Holocaust-Leugnung einzusetzen, in dem die in diesen Akten enthaltenen persönliche Schilderungen von Verfolgungsschicksalen weltweit erreichbar bereitgestellt werden. Das Auswärtige Amt hat den Erwerb der Zugangslizenz für die NGO „Memoria Abierta“ in Argentinien zum Archiv der USC Shoah Foundation gefördert (12.100 Euro). Seit 1999 unterstützt die Bundesregierung die Arbeit der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem. In den Jahren 1999 bis 2009 wurde ein Archivierungsprojekt mit insgesamt 4,9 Mio. Euro gefördert. Im Zeitraum 2012 bis 2021 fördert das Auswärtige Amt Projekte zur Digitalisierung des Archivmaterials und Durchführung eines europaweiten Pädagogen- Fortbildungsprogamms zur Holocaust-Erinnerung mit jährlich 1 Mio. Euro. 2. Wie bewertet die Bundesregierung den grundsätzlichen Nutzen von sogenannten Oral-History-Archiven? Das Feld der mündlich erinnerten Geschichte liegt zwischen wissenschaftlicher Forschung und vermittlungsorientierter Präsentation. Während „Oral History“ den akademischen Ansatz markiert, der sich durch eine bestimmte Methode der Interviewführung mit dem Ziel des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns auszeichnet , liegt der Fokus bei der vermittlungsorientierten Zeitzeugenarbeit darauf , Geschichte, Erinnerungen sowie Erlebnisse anhand individueller Berichte für eine breite Öffentlichkeit aufzubereiten und erfahrbar zu machen. Die Bundesregierung hält Zeitzeugenarbeit für ein unverzichtbares Instrument zur Bewahrung und Dokumentation von Ereignissen von bleibendem Wert, das etwa im Bereich der Forschung oder der historisch-politischen Bildungsarbeit eine wichtige Rolle spielt. 3. Wie viele Universitäten in Deutschland haben nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell vollen Zugang zum Archiv der USC Shoah Foundation, und um welche Universitäten handelt es sich konkret? 4. Wie viele Universitäten in Deutschland haben nach Kenntnis der Bundesregierung Zugang zu weiteren Oral-History-Archiven, und um welche Universitäten handelt es sich konkret? Die Fragen 3 und 4 werden im Zusammenhang beantwortet. Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes liegt das Hochschulwesen in der Zuständigkeit der Länder. Die Bundesregierung hat daher keinen Überblick Drucksache 19/16575 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode über den Zugang von Universitäten zum Archiv der USC Shoah Foundation oder zu weiteren Oral History Archiven. 5. Sind der Bundesregierung Pläne bekannt, an einer deutschen Universität mit anerkannter und bewährter Forschungsexpertise eine feste und institutionalisierte Partnerschaft mit der USC Shoah Foundation einzugehen und so eine Art Forschungs- und Archivdependance in Deutschland zu etablieren ? a) Falls ja, welche Universitäten kämen hierfür aus Sicht der Bundesregierung in Frage? b) Falls nein, wieso nicht? Das zur Leibniz-Gemeinschaft gehörende und damit von Bund und Ländern geförderte Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) bietet interessierten Nutzern sowohl einen vollen Zugang zu den Beständen der USC Shoah Foundation als auch zu den Fortunoff Video Archives for Holocaust Testimonies. Im Übrigen wird auf die Antwort zu den Fragen 3 und 4 verwiesen. 6. Welche KZ-Gedenkstätten haben nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell vollen Zugang zum Archiv der USC Shoah Foundation, und um welche handelt es sich konkret? 7. Welche KZ-Gedenkstätten haben nach Kenntnis der Bundesregierung Zugang zu weiteren Oral-History-Archiven, und um welche handelt es sich konkret? Die Fragen 6 und 7 werden im Zusammenhang beantwortet. Die in Deutschland gelegenen KZ-Gedenkstätten befinden sich in vielfältiger Trägerschaft; sie werden getragen von privatrechtlichen oder öffentlichrechtlichen juristischen Personen, von Kommunen oder Ländern. Die Bundesregierung hat daher keinen Überblick über den Zugang dieser Einrichtungen zum Archiv der USC Shoah Foundation oder zu anderen Oral History Archiven . Bezogen auf die von der Bundesregierung institutionell geförderten KZ- Gedenkstätten besteht vielfach die Möglichkeit, über die Freie Universität Berlin , die Kooperationspartner der USC Shoah Foundation ist, Zugang zu deren Archiven zu erhalten. Die KZ-Gedenkstätten nutzen nach Kenntnis der Bundesregierung anlassbezogen – etwa für die Bildungsarbeit oder zu Forschungszwecken – diverse Zeitzeugeninterview-Datenbanken (wie etwa die Archive des United States Holocaust Memorial Museum in Washington, der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, der Werkstatt der Erinnerung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, des Hauses der Bayerischen Geschichte, Voice/ Vision Holocaust Survivor Oral History Archive, Voices of the Holocaust usw.). 8. Plant die Bundesregierung, in naher Zukunft weiteren Forschungs- und Lehreinrichtungen den Zugang zum kompletten Archiv der USC Shoah Foundation oder anderer Oral-History-Archive zu ermöglichen? Auf die Antwort zu den Fragen 3 bis 5 wird verwiesen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/16575 9. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung auch in Deutschland Bemühungen , ein vergleichbares Archiv mit Berichten von Überlebenden der NS- Zeit zu errichten? a) Falls ja, wo, und innerhalb welchen Zeitraumes soll ein solches Archiv entstehen? b) Falls nein, wieso nicht? Von Bemühungen, an einer deutschen Hochschule ein mit der USC Shoah Foundation vergleichbares Oral History Archiv zu errichten, hat die Bundesregierung keine Kenntnis. 10. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung in diesem Kontext privaten Stiftungen bei, und inwiefern könnte die Bundesregierung sich vorstellen , der USC Shoah Foundation vergleichbare private Initiativen in Deutschland zu fördern und zu unterstützen? Generell spielt bürgerschaftliches Engagement eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Erinnerungskultur in Deutschland. Mit Blick auf Zeitzeugenberichte hat das Bundesministerium der Finanzen der Conference on Jewish Material Claims Against Germany zugesagt, im Jahr 2020 1 Mio. Euro für deren Projekt „Digitale Zeitzeugen“ bereitzustellen, um das Vermächtnis der Zeitzeugen mittels digitaler Reproduktion an kommende Generationen weiterzugeben. Der Betrag wurde inzwischen in den Bundeshaushalt 2020 aufgenommen. 11. Unterstützt die Bundesregierung weitere Archivierungen von Erinnerungen Überlebender des Holocausts? Auf die Antwort zu Frage 1 wird verwiesen. 12. Ist der Bundesregierung bekannt, ob von ihr geförderte Einrichtungen noch aktiv der Aufnahme und Sammlung von Interviews mit Zeitzeugen (NS-Zeit; SBZ bzw. DDR) nachgehen? Zahlreiche der von der Bundesregierung geförderten Einrichtungen gehen noch aktiv der Aufnahme und Sammlung von Zeitzeugenberichten nach, darunter etwa die Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Museen (wie z. B. die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die Stiftung Jüdisches Museum Berlin, die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, zahlreiche KZ-Gedenkstätten, die Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Schöneweide sowie für die SBZ/DDR u. a. die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und das in der Gedenkstätte angesiedelte Koordinierende Zeitzeugenbüro, die Stiftung Aufarbeitung, die Stiftung Berliner Mauer, die Robert-Havemann-Gesellschaft, die Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau und das Deutsch- Deutsche Museum Mödlareuth). Ergänzend kann die Stiftung Flucht, Vertreibung , Versöhnung genannt werden. Sie führt eigene Zeitzeugenprojekte durch und sammelt vorhandene Zeitzeugenberichte aus Deutschland und Europa, die die Vielfalt der Erfahrungen und die unterschiedlichen Perspektiven der Betroffenen wiederspiegeln und die europäische und globale Dimension des Themas Zwangsmigration verdeutlichen. Siehe dazu auch die Antwort zu Frage 1. Das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) geht aktiv der Aufnahme und Sammlung von Interviews mit Zeitzeugen aus der DDR Drucksache 19/16575 – 6 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode nach. Das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) führt im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Treuhandanstalt Zeitzeugeninterviews durch. Zudem fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung derzeit 14 Forschungsverbünde mit 54 Teilprojekten im Rahmen der Förderlinie „DDR- Forschung“ im Rahmenprogramm für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Projekte erforschen die DDR, die Friedliche Revolution und die vielfältigen Transformationsprozesse. Etliche Projekte arbeiten lebensgeschichtlich und stützen sich auf konkrete Biographien und Lebenserfahrungen, besonders der vom SED-Unrecht Betroffenen. Hierfür werden durch eine Reihe von Projektpartnern Interviews mit Zeitzeugen geführt und ausgewertet. Das Deutsche Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek nimmt Zeitzeugen- Interviews in seine Bestände auf. Auf der Plattform des kooperativen Netzwerkprojektes „Künste im Exil“ ist eine Sonderausstellung „Stimmen des Exils“ umgesetzt. Dort sind derzeit 28 Video- und Audiointerviews von Künstlern und Künstlerinnen zugänglich, die aus NS-Deutschland oder der ehemaligen DDR geflüchtet sind oder heute in Deutschland Zuflucht gefunden haben. Diese Zeitzeugen-Interviews wurden eigens für diesen Zweck produziert und sind über „Künste im Exil“ weltweit frei zugänglich. 13. Sind der Bundesregierung Projekte zu Oral-History-Archiven bekannt, die einen Bezug zur SBZ bzw. DDR aufweisen? a) Falls ja, um welche Projekte handelt es sich konkret? b) Falls nein, sollten die Erfahrungen von Zeitzeugen der SBZ bzw. DDR nicht ebenfalls in ein Oral-History-Archiv überführt werden? Der Bundesregierung sind hierzu zahlreiche Projekte bekannt, die sich im Feld zwischen wissenschaftlicher Forschung und vermittlungsorientierter Präsentation bewegen (siehe auch Antwort zu Frage 2). Die Bundesstiftung Aufarbeitung hält in ihrem Archiv Interviews aus den von ihr geförderten Projekten sowie ihre eigenen Interviews vor und stellt diese zur Verfügung (u. a. GULAG/Speziallager, Haft in der SBZ/DDR, Journalisten/ Reporter, 17. Juni 1953). Allerdings ist das Archiv der Stiftung kein Oral History-Archiv im engeren Sinne. Die Stiftung Berliner Mauer führt und archiviert seit 1999 systematisch lebensgeschichtliche Interviews mit Zeitzeugen, die biografischen Bezüge zur Geschichte der deutsch-deutschen Teilung, der Berliner Mauer und der Fluchtbewegung von Ost nach West im Kontext des Kalten Krieges aufweisen. Auch die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und das Koordinierende Zeitzeugenbüro gehen regelmäßig der Aufnahme und Sammlung von Interviews mit Zeitzeugen nach. Die Robert-Havemann-Gesellschaft führt 2020 bis 2021 das Projekt: „Oral History Interviews mit ausgewählten Bestandsbildern des Archivs der DDR-Opposition“ durch. Es werden 30 ausgewählte Personen befragt, deren Überlieferungen im Archiv der DDR-Opposition bereits erschlossen sind bzw. mit denen die Übernahme von Dokumenten vorbereitet wird. Die Interviews werden auf Video aufgezeichnet, transkribiert und archiviert . Am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) geschieht dies im Rahmen mehrerer Projekte, z. B. in den Projekten „Das mediale Erbe der DDR“ sowie „Die lange Geschichte der Wende“. Die Zeitzeugenarbeit der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (siehe Antwort zu Frage 1) erfasst auch die Geschichte des SED- Unrechts in der SBZ/DDR. Seit Juni 2019 fördert überdies das Bundesminis- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 7 – Drucksache 19/16575 terium für Bildung und Forschung ein umfangreiches Verbundprojekt zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der DDR und dem SED-Unrecht. Innerhalb dieses Verbunds spielen in verschiedenen Einzelprojekten Interviews als Forschungsinstrumente eine wichtige Rolle. Zum Beispiel beschäftigt sich das Projekt „Diktaturerfahrung und Transformation: Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren“ explizit anhand von Interviews mit biografischen Umbruchserfahrungen und Erinnerungen an die DDR. Auch das Projekt „Heimerziehung in Spezialheimen der DDR – Eine pädagogisch-rekonstruktive Studie zum DDR- Erziehungssystem und dessen Bewältigung“ der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau mit der Technischen Universität Dresden (Beginn 1. Januar 2019) ist Teil des Verbundprojekts. Bestandteil dieses Projektes sind wiederum die Durchführung von Zeitzeugen-Interviews und der Aufbau eines Zeitzeugenarchivs ehemaliger DDR-Heimkinder. 14. Sind der Bundesregierung konkrete Daten bekannt, wie viele Interviews und Gespräche mit Überlebenden aus der NS-Zeit in Deutschland geführt , archiviert und für Lehre, Forschung und Wissenschaft zugänglich gemacht worden sind? 15. Sind der Bundesregierung konkrete Daten bekannt, wie viele Interviews und Gespräche mit Überlebenden aus der SBZ bzw. DDR in Deutschland geführt, archiviert und für Lehre, Forschung und Wissenschaft zugänglich gemacht worden sind? Die Fragen 14 und 15 werden im Zusammenhang beantwortet. Der Bundesregierung liegen hierzu keine konkret bezifferbaren Erkenntnisse vor. 16. Wen sieht die Bundesregierung in der Verantwortung, Zeitzeugengespräche zu verbreiten a) öffentlich-rechtlicher-Rundfunk, b) privater Rundfunk, c) bundesgeförderte Gedenkstätten sowie Dokumentations- und Informationszentren , d) private Stiftungen? Grundsätzlich ist zu bemerken, dass Zeitzeugenberichte in Deutschland weit verbreitet zugänglich sind und zur Geschichtsvermittlung eingesetzt werden, etwa in Publikationen, im Rundfunk, im Kino und im Internet, in Ausstellungen und der sonstigen Vermittlungsarbeit von Museen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren , im schulischen Unterricht usw. Der private Rundfunk und private Stiftungen definieren ihre Verantwortungen und Themen selbst. Die von der Bundesregierung institutionell geförderten Gedenkstätten und Dokumentationszentren entscheiden im Rahmen ihrer Zweckbestimmung grundsätzlich eigenständig über die Inhalte ihrer anwendungsbezogenen Forschung sowie die Ausgestaltung der methodischen Ansätze ihrer historisch-politischen Vermittlungsarbeit und damit auch über den Einsatz von Zeitzeugenberichten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk unterliegt dem rundfunkstaatsvertraglichen Programmauftrag. Danach ist es Aufgabe der Rundfunkanstalten, im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, Drucksache 19/16575 – 8 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Die Bundesregierung begrüßt es grundsätzlich, wenn öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten , einschließlich der Deutschen Welle, Zeitzeugengespräche zur Geschichtsvermittlung und Auftragswahrnehmung einsetzen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk genießt im Rahmen seiner Auftragserfüllung jedoch Programmautonomie , so dass die Bundesregierung zu konkreten Programmgestaltungen nicht näher Stellung nimmt. Im Übrigen fällt der inländische öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht in die Bundes-, sondern Länderzuständigkeit. 17. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Zeitzeugengespräche zu den Themengebieten „NS-Zeit“ und „SBZ bzw. DDR“ in allen bundesgeförderten Einrichtungen vorhanden sind? Anlässlich eines auf Initiative der BKM am 9. Juni 2015 durchgeführten Workshops „Zeitzeugen in Geschichtswissenschaft und Vermittlung“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin wurden diesbezügliche Daten bei 60 Einrichtungen erhoben, die durch die BKM gefördert oder finanziert werden. In den von der BKM geförderten Museen, Gedenkstätten und sonstigen Gedächtnisinstitutionen liegen nach darauf aufbauenden Erhebungen des Zeitzeugenportals der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland insgesamt ca. 10.000 Interviews vor. Rund 5.000 davon haben den Themenschwerpunkt NS-Zeit, rund 3.000 haben den Themenschwerpunkt SBZ/DDR. Darüber hinaus hat die Bundesregierung jedoch keine übergreifenden Erkenntnisse über die Zahl der Zeitzeugenberichte in allen bundesgeförderten Einrichtungen . 18. Inwiefern hält es die Bundesregierung für angebracht, die bundeseigenen Förderrichtlinien und Förderprogramme gezielter auf „Oral History“ auszulegen ? Angesichts der vielfältigen Unterstützung der Bundesregierung bei der Erstellung , der Archivierung und der Zugänglichmachung von Zeitzeugenberichten (siehe dazu die Antwort zu den Fragen 1, 11 und 12) erscheint eine grundsätzliche Neuausrichtung der diesbezüglichen Förderpraxis derzeit nicht angezeigt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 9 – Drucksache 19/16575 Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333