Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Niema Movassat, Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/15914 – Rechtsstaatswidrige Straftatprovokationen durch nicht offen ermittelnde Polizeibeamte, verdeckte Ermittler und Vertrauenspersonen V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Ein Mittel zur Aufdeckung von Straftaten, das nach Ansicht der Fragesteller zumindest in der Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland eingesetzt wurde, ist der Einsatz von nicht offen ermittelnden Polizeibeamten, verdeckter Ermittler oder Vertrauenspersonen, die dazu angehalten sind, eine zur Begehung von Straftaten zumindest geneigte andere Person zu einem strafrechtlich relevanten Verhalten zu verleiten. Nach Recherchen des Magazins „Stern“ erfolgte eine Entlohnung von Vertrauenspersonen und anderer verdeckt für die Polizei agierender Personen, die solche Straftatprovokationen durchführen, zumindest in der Vergangenheit nach einer „BKA Tarifordnung Allgemeine Grundsätze zur Besoldung von V-Personen und Informanten“ (www.stern.de/p olitik/deutschland/geheime-bka--tarifordnung--was-verdienen-polizei-spitzel-- 3352982.html). Die im Jahr 2003 durch den Arbeitskreis II – Innere Sicherheit – der Innenministerkonferenz (AK II) sowie der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter mit dem Bundeskriminalamt (AG Kripo) abgestimmte Grundsatzempfehlung findet unter anderem in Hamburg Anwendung (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 21/5930). Der Einsatz von nicht offen ermittelnden Polizeibeamten, verdeckten Ermittlern oder Vertrauenspersonen zur Provokation von Straftaten begegnet im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip, das Verbot widersprüchlichen Verhaltens und die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz nach Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) grundlegenden Bedenken. Diese Bedenken teilt unter anderem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der EGMR stellte in dem Verfahren „Furcht“ gegen Deutschland einen Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest, da eine unzulässige Tatprovokation durch verdeckte Ermittler vorlag (EGMR, 23. Oktober 2014 – 54648/09, NJW 2015, S. 3631). Er konkretisierte die unzulässige Tatprovokation dahingehend, dass ein Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 vorliegt, wenn sich Ermittlungspersonen nicht auf eine weitgehend passive Strafermittlung beschränken, sondern die betroffene Person derart beeinflussen, dass diese zur Begehung einer Straftat verleitet wird, die sie andernfalls nicht begangen hätte (EGMR-Urteil „Furcht gegen Deutschland“, Ziff. 48). Der Bundesgerichtshof (BGH) änderte in der Folge Deutscher Bundestag Drucksache 19/16593 19. Wahlperiode 17.01.2020 Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat vom 16. Januar 2020 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. seine Rechtsprechung hinsichtlich der Strafbarkeit von Personen, die durch nicht offen ermittelnde Polizeibeamte, verdeckte Ermittler oder Vertrauenspersonen zu Straftaten verleitet wurden und urteilte, dass „[d]ie rechtsstaatswidrige Provokation einer Straftat durch Angehörige von Strafverfolgungsbehörden oder von ihnen gelenkte Dritte […] regelmäßig ein Verfahrenshindernis zur Folge [hat].“ (Leitsatz BGH Urteil vom 10. Juni 2015 – 2 StR 97/14). Darüber hinaus ist die für den Einsatz von Vertrauenspersonen und andere Formen von verdeckten polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen einschlägige Anlage D zu den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren RiStBV (Gemeinsame Richtlinien der Justizminister/Jusitzsenatoren der Länder über die Inanspruchnahme von Informanten sowie über den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen) und verdeckten Ermittlern im Rahmen der Strafverfolgung) durch den Bund nicht in Kraft gesetzt worden (BeckOK StPO/Engelstätter, 35. Ed. 1. Oktober 2019, RiStBV Anlage D). 1. Setzen das Bundeskriminalamt, das Zollkriminalamt bzw. der Zollfahndungsdienst oder die Bundespolizei nicht offen ermittelnde Polizeibeamte, verdeckte Ermittler oder Vertrauenspersonen in einer solchen Weise ein, dass diese potentielle Straftäter zu strafrechtlich relevantem Verhalten provozieren bzw. verleiten sollen? Das Bundeskriminalamt, die Bundespolizei und der Zollfahndungsdienst (Zollkriminalamt und Zollfahndungsämter) setzen im Einzelfall auch das Ermittlungsinstrument der rechtlich zulässigen Tatmotivierung ein. Eine unzulässige bzw. rechtsstaatswidrige Tatprovokation ist ausgeschlossen. Auch die Staatsanwaltschaft stellt im Rahmen ihrer Sachleitungsbefugnis bei strafprozessualen verdeckten personalen Ermittlungen sicher, dass Beschuldigte nicht in unzulässiger bzw. rechtsstaatswidriger Weise zu einer Straftat provoziert werden. a) Zu welchen Straftaten haben nicht offen ermittelnde Polizeibeamte, verdeckte Ermittler und Vertrauenspersonen der genannten Behörden in den Jahren 2010 bis 2019 provoziert (bitte nach Jahr, Straftatbestand , Behörde und Anzahl der Provokationen aufschlüsseln)? Im Bundeskriminalamt, der Bundespolizei und dem Zollfahndungsdienst werden im Hinblick auf die rechtlich zulässige Tatmotivierung keine Statistiken geführt. Daher können keine Angaben gemacht werden. b) Wie viele nicht offen ermittelnde Polizeibeamte, verdeckte Ermittler und Vertrauenspersonen haben die genannten Behörden in den Jahren 2010–2019 eingesetzt (bitte nach Jahren und Behörde aufschlüsseln)? Die Beantwortung der Frage ist der Bundesregierung in dem für die Öffentlichkeit einsehbaren Teil der Beantwortung aus Geheimhaltungsgründen nicht möglich. Die Antwort der Bundesregierung auf diese Teilfrage muss als „Verschlusssache Geheim“ eingestuft werden. Diese Teilantwort kann bei der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages nach Maßgabe der Geheimschutzordnung eingesehen werden.* Zwar ist der parlamentarische Informationsanspruch grundsätzlich auf die Beantwortung gestellter Fragen in der Öffentlichkeit angelegt (vgl. BVerfGE 124, 161 bis 193). Die Einstufung als Verschlusssache ist aber im vorliegenden Fall im Hinblick auf das Staatswohl aus folgenden Gründen erforderlich und geeignet , das Informationsinteresse des Parlaments unter Wahrung berechtigter Geheimhaltungsinteressen der Bundesregierung zu befriedigen: * Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat hat die Antwort als „VS – Geheim“ eingestuft. Die Antwort ist in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages hinterlegt und kann dort nach Maßgabe der Geheimschutzordnung eingesehen werden. Drucksache 19/16593 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Die Preisgabe von Informationen über die Anzahl der vom Bundeskriminalamt, dem Zollfahndungsdienst und der Bundespolizei eingesetzten Verdeckten Ermittlern , Vertrauenspersonen und nicht offen ermittelnden Polizeibeamten an die Öffentlichkeit würde das schützenswerte Interesse der Bundesrepublik Deutschland an einer wirksamen Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus und damit das Staatswohl erheblich beeinträchtigen. Die Veröffentlichung dieser Informationen würde die Offenlegung sensibler polizeilicher Vorgehensweisen und Taktiken in einem äußerst gefährdungsrelevanten Bereich bedeuten. Verdeckte personale Ermittlungen erfolgen in Kriminalitätsfeldern, bei denen von einem besonderen Maß an Konspiration, Gemeinschädlichkeit und Gewaltbereitschaft ausgegangen werden muss. Die Kenntnisnahme von Informationen aus dem angeforderten Bereich durch kriminelle oder terroristische Kreise würde sich sowohl auf die staatliche Aufgabenwahrnehmung im Gefahrenabwehrbereich wie auch auf die Durchsetzung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs außerordentlich nachteilig auswirken. Demgegenüber ist mit der Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages ein Instrument geschaffen, das es den Abgeordneten des Deutschen Bundestages ermöglicht, die entsprechenden Informationen einzusehen. Dem parlamentarischen Kontrollrecht wird damit im Ergebnis Rechnung getragen. c) Wie viele der zur Provokation von Straftaten eingesetzten Personen sind Beamte, wie viele Vertrauenspersonen? Es wird auf die Antwort zu Frage 1a verwiesen. 2. Wie stehen die Bundesregierung bzw. die o. g. Bundesbehörden zu einem Einsatz von nicht offen ermittelnden Polizeibeamten, verdeckten Ermittlern oder Vertrauenspersonen, die potentielle Straftäter zu strafrechtlich relevantem Verhalten provozieren sollen, insbesondere im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip, das Verbot widersprüchlichen Verhaltens und die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz aus Artikel 20 Absatz 3 GG? Die Bundesregierung achtet beim Einsatz von nicht offen ermittelnden Polizeibeamten , verdeckten Ermittlern oder Vertrauenspersonen stringent auf die Einhaltung der rechtsstaatlich gebotenen Grundsätze, insbesondere auch auf die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesgerichtshofs (BGH) (EGMR, 23.10.2014- 54648/09, NJW 2015, BGH vom 10. Juni 2015 – 2 StR 97/14). Es wird ergänzend auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. a) Welche Konsequenzen wurden gezogen, um unzulässige Tatprovokationen i. S. der genannten Entscheidungen des EGMR und des 2. Strafsenates des BGH von vornherein zu verhindern? Die Rechtsprechung fließt in die Aus- und Fortbildung sowie das einsatztaktische Vorgehen ein. Ergänzend wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. Entsprechender Konsequenzen bedurfte es im Bereich verdeckter personaler Ermittlungen insoweit nicht. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/16593 b) Wie hat sich das Einsatzprofil von nicht offen ermittelnden Polizeibeamten , verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen der o. g. Bundesbehörden seit den genannten Entscheidungen des EGMR und des 2. Strafsenates des BGH verändert? Einer Anpassung entsprechender Einsatzprofile bedurfte es im Bereich verdeckter personaler Ermittlungen nicht, da die durch den BGH und den EGMR beschriebenen unzulässigen Vorgehensweisen von jeher auch nicht vorgesehen und nicht zulässig waren. c) Wann ist nach Ansicht der Bundesregierung bzw. der o. g. Behörden die Grenze der „weitgehend passiven Straffermittlung“ i. S. der genannten Entscheidungen des EGMR und des 2. Strafsenates des BGH überschritten? Die Abgrenzung zwischen einer rechtswidrigen Tatprovokation und einer rechtlich zulässigen Tatmotivierung ergibt sich aus den in der Rechtsprechung des BGH und des EGMR hierfür aufgestellten Kriterien. 3. Auf welchen Rechtsgrundlagen erfolgen ein in Frage 1 angesprochener Einsatz von nicht offen ermittelnden Polizeibeamten, verdeckter Ermittler oder Vertrauenspersonen bzw. würden solche Einsätze erfolgen, sofern aktuell keine Einsätze stattfinden? Der Einsatz von Vertrauenspersonen und nicht offen ermittelnden Polizeibeamten zu strafprozessualen Zwecken erfolgt auf der Grundlage von §§ 161, 163 der Strafprozessordnung (StPO). Der Einsatz von Verdeckten Ermittlern erfolgt auf Grundlage von §§ 110a ff. StPO. Ergänzend wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen. 4. Wird nicht offen ermittelnden Polizeibeamten, verdeckten Ermittlern oder Vertrauenspersonen, die zur Provokation von Straftaten tätig sind und im Rahmen ihrer Tätigkeit aller Voraussicht nach strafbare Handlung begehen werden, im Vorhinein Straffreiheit zugesichert? a) Wie begründet die Bundesregierung ein solches Versprechen gerade im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip, das Verbot widersprüchlichen Verhaltens und die Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz nach Artikel 20 Absatz 3 GG? b) Wie begründet die Bundesregierung ein solches Versprechen in strafrechtlicher bzw. strafprozessualer Hinsicht? Die Fragen 4 bis 4b werden gemeinsam beantwortet. Es wird auf die Antwort der Bundesregierung zu Frage 5 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 18/7591 verwiesen. Die bestehende Rechtslage schließt eine strafbare Tatbeteiligung bzw. Handlung einer polizeilichen Vertrauensperson im Rahmen ihres Einsatzes generell aus. Dies gilt auch für Verdeckte Ermittler und nicht offen ermittelnde Polizeibeamte . Drucksache 19/16593 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode c) Welche Konsequenzen hat die (mutmaßliche) Begehung von Straftaten durch Vertrauenspersonen für ihren weiteren Einsatz als Vertrauensperson ? Es wird auf die Antwort der Bundesregierung zu Frage 5 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 18/7591 verwiesen. Sollten sich im Rahmen eines Einsatzes von Vertrauenspersonen Anhaltspunkte für eine strafbare Tatbeteiligung bzw. ein strafbares Verhalten der Vertrauensperson ergeben, wird der Einsatz bzw. die Zusammenarbeit mit der Vertrauensperson in Abstimmung mit der zuständigen Staatsanwaltschaft beendet. 5. Wie werden Vertrauenspersonen für die Provokation von Straftaten vergütet ? a) Woran bemisst sich die Vergütung bzw. Entschädigung von Vertrauenspersonen für die Provokation von Straftaten? Die Fragen 5 und 5a werden gemeinsam beantwortet. Die Entlohnung von Vertrauenspersonen bemisst sich nicht nach der Frage, ob zum Zweck der Beweiserhebung die Tatgeneigtheit des Täters genutzt worden ist. b) Existieren derzeit bei den o. g. Bundesbehörden Vergütungsordnungen ähnlich der angesprochenen „Allgemeinen Grundsätze zur Bezahlung von V-Personen und Informanten“ des BKA? Es wird auf die Antwort der Bundesregierung zu Frage 16 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 18/7591 verwiesen. c) Wie erfolgt die Vergütung von Vertrauenspersonen für die Provokation von Straftaten praktisch? Es wird auf die Antwort zu Frage 5 verwiesen. 6. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über den Einsatz von nicht offen ermittelnden Polizeibeamten, verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen , die potentielle Straftäter zu strafrechtlich relevantem Verhalten verleiten sollen, durch die Landeskriminalämter und Polizeibehörden der Bundesländer? Der Bundesregierung liegen hierzu keine Informationen vor. 7. Warum ist die Anlage D zur RiStBV durch den Bund nicht in Kraft gesetzt worden? Die Anlage D der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) wurde für den Bund nicht in Kraft gesetzt, da die Bestimmungen den Besonderheiten der Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts nicht in allen Fällen gerecht werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/16593 8. Trifft es zu, dass die Anlage D zur RiStBV durch die Strafverfolgungsbehörden des Bundes faktisch dennoch angewendet wird? In Verfahren des Generalbundesanwaltes erfolgt der Einsatz von nicht offen ermittelnden Polizeibeamten, Verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen nach Maßgabe der gesetzlichen Grundlagen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. hierzu zusammenfassend Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. § 110a Rdnr. 1 ff.). Ergänzend finden die Bestimmungen der Anlage D zur RiStBV Beachtung, soweit deren Anwendung im Hinblick auf die Besonderheiten der Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwaltes im Einzelfall geeignet ist. Denn wie die RiStBV insgesamt kann auch Anlage D nur eine Anleitung für den Regelfall geben (vgl. Einführung der RiStBV). Drucksache 19/16593 – 6 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333