Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Stephan Brandner, Jens Maier, Tobias Matthias Peterka, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD – Drucksache 19/19641 – Strafbarkeitslücke bei § 183 des Strafgesetzbuchs V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Gemäß § 183 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) wird ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt, mit Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Vor dem Hintergrund , dass der Zweck der Vorschrift die Bewahrung des Einzelnen vor ungewollter Konfrontation mit möglicherweise schockierenden sexuellen Handlungen anderer ist (Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019, StGB § 183 Rn. 1), derartige Handlungen jedoch nicht nur von einer Person männlichen Geschlechts verübt werden können, erscheint es fragwürdig, dass ausschließlich dieser Personenkreis von der Straffolge des § 183 Absatz 1 StGB erfasst wird. Dies gilt umso mehr, da inzwischen das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Ansicht vertritt, dass die binäre Geschlechterordnung, auf welche § 183 StGB zugeschnitten ist, nicht der Realität entspricht (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16) und der Gesetzgeber mit der Änderung des § 22 Absatz 3 des Personenstandsgesetzes (PStG) sowie der Einführung des § 45b PStG diese Rechtsprechung umgesetzt hat. Darüber hinaus wird auch in einem, dem Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz Heiko Maas am 19. Juli 2017 vorgelegten Abschlussbericht der Reformkommission zum Sexualstrafrecht in Bezug auf § 183 StGB ein Reformbedürfnis festgestellt und mehrheitlich für die vollständige Abschaffung des Straftatbestandes , beziehungsweise alternativ für den Fall, dass § 183 StGB nicht gestrichen werden sollte, mehrheitlich dafür gestimmt, dass auch die Frau als potenzielle Täterin von § 183 Absatz 1 StGB erfasst wird (https://www.bmj v.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/StudienUntersuchungenFachbueche r/Abschlussbericht_Reformkommission_Sexualstrafrecht.pdf?__blob=publicat ionFile&v=1). Entsprechende Änderungen seitens des Gesetzgebers wurden bislang jedoch noch nicht umgesetzt. In Anbetracht der Entwicklungen der vergangenen Jahre ist daher zu klären, ob § 183 Absatz 1 StGB noch zeitgemäß ist, oder ob eine geschlechtsneutrale Neuformulierung des § 183 Absatz 1 StGB angebracht ist, so dass auch exhibitionistische Handlungen von Personen diversen oder weiblichen Geschlechts von der Straffolge dieser Norm erfasst werden und die bestehende Strafbarkeitslücke geschlossen wird. Deutscher Bundestag Drucksache 19/19875 19. Wahlperiode 11.06.2020 Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucher schutz vom 11. Juni 2020 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. 1. Sieht die Bundesregierung eine Strafbarkeitslücke bei exhibitionistischen Handlungen durch Personen weiblichen und diversen Geschlechts, und wie bewertet sie den Umstand, dass § 183 Absatz 1 StGB in seiner aktuellen Fassung ausschließlich Täter männlichen Geschlechts erfasst, obwohl Judikative (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 1 BvR 2019/16) und Legislative (Bundestagsdrucksache 19/4669) bereits die Existenz eines sogenannten dritten Geschlechts bestätigt haben (bitte begründen)? 2. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass § 183 Absatz 1 StGB in seiner aktuellen Fassung reformbedürftig ist? a) Wenn ja, inwiefern sollte nach Ansicht der Bundesregierung § 183 Absatz 1 StGB reformiert werden, und aus welchem Grund erachtet die Bundesregierung die Vorschrift als reformbedürftig? b) Wenn nein, aus welchem Grund erachtet die Bundesregierung die Vorschrift nicht als reformbedürftig? Die Beantwortung der Fragen 1, 2, 2a und 2b erfolgt wegen des Sachzusammenhangs gemeinsam. Die Ausgestaltung des § 183 Absatz 1 StGB als Sonderdelikt, nach welchem sich lediglich ein Mann strafbar machen kann, wurde im Rahmen der Beratungen zum Vierten Gesetz zur Reform des Strafrechts in der sechsten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ausführlich diskutiert. Grund für die Nichtpönalisierung weiblicher exhibitionistischer Handlungen war laut dem schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform der Umstand, dass die entsprechenden Handlungen von Frauen „zwar in sehr seltenen Fällen auch vorkommen, aber – gleichgültig, ob sie vor Frauen oder Männern vorgenommen werden – kaum jemals die von exhibitionistischen Handlungen eines Mannes typischerweise ausgehenden negativen Auswirkungen haben“ (vgl. Bundestagsdrucksache VI/3521, S. 53). Aus heutiger Sicht ist der Umstand, dass weiblicher Exhibitionismus praktisch seltener vorkommt, nur begrenzt geeignet, eine strafrechtliche Privilegierung von Frauen zu begründen. Der Schutzzweck der Vorschrift ist die Bewahrung der oder des Einzelnen vor ungewollter Konfrontation mit möglicherweise schockierenden sexuellen Handlungen anderer. Der Straftatbestand des § 183 Absatz 1 StGB setzt deshalb neben der Entblößung eines primären Geschlechtsorgans mit sexueller Motivation eine Belästigung voraus, die nicht nur erfordert, dass das Opfer die exhibitionistische Handlung wahrnimmt und versteht, sondern auch, dass es aufgrund der Tathandlung negative Gefühle wie Schrecken, Angst, Verärgerung , Ekel, Abscheu oder Verletzung des Schamgefühls empfindet. Der Schutzzweck dieser Vorschrift kann unabhängig vom Geschlecht der handelnden Person eingreifen. Vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung – unabhängig von der genannten Entscheidung des BVerfG und den Änderungen im Personenstandsgesetz , auf welche die Frage Bezug nimmt – die Notwendigkeit, die Ausgestaltung von § 183 StGB zu überprüfen. Auch die Reformkommission zum Sexualstrafrecht hat in ihrem Abschlussbericht Änderungen bei § 183 StGB empfohlen . Drucksache 19/19875 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 3. Welche Gründe gibt es dafür, dass das Abstimmungsergebnis der Expertenkommission hinsichtlich des § 183 StGB, bei welchem eine Mehrheit der Kommissionsmitglieder für eine Streichung des § 183 StGB votierte bzw. für den Fall, dass § 183 StGB nicht gestrichen werden sollte, mehrheitlich dafür gestimmt hat, dass auch die Frau als potenzielle Täterin erfasst werden soll, nicht umgesetzt wurde (vgl. https://www.bmjv.de/Share dDocs/Downloads/DE/Service/StudienUntersuchungenFachbuecher/Absc hlussbericht_Reformkommission_Sexualstrafrecht.pdf;jsessi nid=636E54 F8FA2B95D8EF1F67544C66EE30.2_cid334?__blob=publicationFile &v=1)? Das Sexualstrafrecht bedarf einer grundlegenden Überarbeitung und Neuordnung . Deshalb hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Februar 2015 die Reformkommission zum Sexualstrafrecht eingesetzt. Diese hat im Juli 2017 ihren umfassenden Abschlussbericht mit 61 Empfehlungen vorgelegt, der als Basis für eine Reform des Sexualstrafrechts dienen und für die Gesetzgebung eine wichtige Orientierungs- und Entscheidungshilfe sein kann. Demgemäß ist das Sexualstrafrecht grundlegend reformbedürftig. Ein solches Vorhaben ist nicht kurzfristig umsetzbar. 4. Wie wird nach Kenntnis der Bundesregierung das Geschlecht einer Person bestimmt, die verdächtigt wird, sich nach § 183 Absatz 1 StGB strafbar gemacht zu haben, und werden hierbei Erkenntnisse der sogenannte Gender- bzw. Geschlechterforschung berücksichtigt? a) Wenn ja, inwiefern werden diese Ergebnisse nach Kenntnis der Bundesregierung berücksichtigt? b) Wenn nein, warum werden diese Ergebnisse nach Kenntnis der Bundesregierung nicht berücksichtigt? c) Auf welchen Zeitpunkt wird hinsichtlich der Strafbarkeit und der Geschlechtsfeststellung nach Kenntnis der Bundesregierung abgestellt (Zeitpunkt der Tat, der Hauptverhandlung oder anderer Zeitpunkt)? d) Wie wird nach Kenntnis der Bundesregierung verfahren, wenn beim mutmaßlichen Täter nach der Tat und vor einer rechtskräftigen Verurteilung eine oder mehrere Geschlechtsänderungen stattgefunden haben, welches Geschlecht ist dann maßgeblich? Die Frage bezieht sich auf die Anwendung des Straftatbestandes in der strafgerichtlichen Praxis. Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes ist die Strafverfolgung grundsätzlich Sache der Länder. Die Bundesregierung hat keine Erkenntnisse im Sinne der Fragen 4 und 4a bis 4d. Einschlägige Rechtsprechung ist der Bundesregierung nicht bekannt. 5. Wie häufig kam es nach Kenntnis der Bundesregierung innerhalb der vergangenen zehn Jahre zu Verurteilungen nach § 183a StGB (bitte getrennt nach Geschlecht, Jahresscheiben und Bundesland aufschlüsseln)? Die erbetenen Informationen können der vom Statistischen Bundesamt jährlich herausgegebenen Statistik der Strafverfolgung entnommen werden. Die nachstehende Tabelle weist die Verurteilungen der aktuell verfügbaren letzten zehn Jahre 2009 bis 2018 aus. Daten für 2019 und 2020 liegen noch nicht vor. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/19875 Dabei ist zu beachten, dass die Strafverfolgungsstatistik eine Verurteilung immer nur bei dem schwersten Delikt erfasst, dass dieser Entscheidung zugrunde liegt. Soweit zugleich wegen weiterer in Tateinheit oder Tatmehrheit begangener schwerer wiegender Straftaten eine Verurteilung erfolgt ist, wird die Verurteilung nur bei diesem Delikt erfasst. Verurteilte wegen Straftaten nach § 183a StGB nach Ländern 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Männlich BW 20 30 26 31 25 25 23 28 29 32 BY 28 29 35 33 36 24 40 20 44 36 BE 4 6 5 1 5 1 2 1 2 4 BB 6 3 1 3 3 4 2 2 3 4 HB 2 0 0 2 1 2 1 1 2 0 HH 11 7 5 9 8 5 4 3 7 9 HE 3 5 3 6 4 11 4 8 4 8 MV 1 6 1 3 3 1 3 1 1 0 NI 5 8 17 9 19 6 3 13 12 11 NW 22 29 45 43 31 28 27 23 22 38 RP 5 3 6 5 7 11 4 2 5 8 SL 3 2 0 2 1 2 2 1 0 2 SN 4 9 5 9 5 7 6 3 3 4 ST 0 2 5 3 0 2 3 1 1 3 SH 2 0 0 3 1 1 1 3 1 5 TH 0 1 3 4 2 3 2 1 4 2 Insg. 116 140 157 166 151 133 127 111 140 166   2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Weiblich BW 3 0 3 4 2 0 1 4 1 0 BY 2 2 3 5 3 2 6 5 3 3 BE 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 BB 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 HB 0 0 0 0 0 1 0 0 0 1 HH 0 2 0 0 2 0 0 0 1 0 HE 0 0 0 0 0 0 1 1 0 0 MV 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 NI 0 0 0 0 0 0 0 1 1 0 NW 1 2 3 0 0 0 0 0 2 4 RP 1 0 0 0 0 0 0 0 1 0 SL 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 SN 0 2 1 0 0 0 0 0 0 0 ST 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 SH 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 TH 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 Insg. 7 8 10 9 8 3 8 11 9 9 Drucksache 19/19875 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Insgesamt BW 23 30 29 35 27 25 24 32 30 32 BY 30 31 38 38 39 26 46 25 47 39 BE 4 6 5 1 6 1 2 1 2 4 BB 6 3 1 3 3 4 2 2 3 4 HB 2 0 0 2 1 3 1 1 2 1 HH 11 9 5 9 10 5 4 3 8 9 HE 3 5 3 6 4 11 5 9 4 8 MV 1 6 1 3 3 1 3 1 1 0 NI 5 8 17 9 19 6 3 14 13 11 NW 23 31 48 43 31 28 27 23 24 42 RP 6 3 6 5 7 11 4 2 6 8 SL 3 2 0 2 1 2 2 1 0 2 SN 4 11 6 9 5 7 6 3 3 4 ST 0 2 5 3 0 2 3 1 1 3 SH 2 0 0 3 1 1 1 3 1 6 TH 0 1 3 4 2 3 2 1 4 2 Insg. 123 148 167 175 159 136 135 122 149 175 Quelle: Strafverfolgungsstatistik (Hrsg.) Statistisches Bundesamt 6. Wie häufig waren nach Kenntnis der Bundesregierung innerhalb der vergangenen zehn Jahre die Täter einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemäß den §§ 174 bis 184j StGB männlich, weiblich oder divers (bitte getrennt nach Straftatbeständen, Geschlecht und Jahresscheiben aufschlüsseln)? Die erbetenen Informationen sind in der Anlage 1 zusammengestellt. In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird als Geschlecht nur „männlich“ oder „weiblich“ erfasst. 7. Wie häufig waren nach Kenntnis der Bundesregierung innerhalb der vergangenen zehn Jahre die Opfer einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemäß den §§ 174 bis 184j StGB männlich, weiblich oder divers (bitte getrennt nach Straftatbeständen, Geschlecht und Jahresscheiben aufschlüsseln)? Die erbetenen Informationen sind in der Anlage 2 zusammengestellt. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 6 verwiesen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/19875 Drucksache 19/19875 – 6 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Anlage 1 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 7 – Drucksache 19/19875 Drucksache 19/19875 – 8 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 9 – Drucksache 19/19875 Drucksache 19/19875 – 10 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 11 – Drucksache 19/19875 Drucksache 19/19875 – 12 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Anlage 2 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 13 – Drucksache 19/19875 Drucksache 19/19875 – 14 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 15 – Drucksache 19/19875 Drucksache 19/19875 – 16 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 17 – Drucksache 19/19875 Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333