Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Auswärtigen Amts vom 15. Juni 2018 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Deutscher Bundestag Drucksache 19/2871 19. Wahlperiode 19.06.2018 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Heike Hänsel, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/2355 – Die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und die vorgezogenen Wahlen V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Die Europäische Kommission hat der Türkei im neuen Fortschrittsbericht vom 17. April 2018 ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Faktisch bewegt sich die Türkei in „Riesenschritten“ von der Europäischen Union (EU) weg und eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU rückt in immer weitere Ferne. Bei den Themen Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Rechtsstaat werde das Land gerade um Jahre zurückgeworfen (Reuters vom 17. April 2018). Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation P24 sitzen inzwischen mehr als 170 Journalisten im türkischen Gefängnis. Reporter ohne Grenzen spricht von 35 Journalisten in türkischer Haft. Die Organisation merkt jedoch an, dass Dutzende Fälle von Journalisten , die in Zusammenhang mit ihrer Arbeit inhaftiert wurden, wahrscheinlich seien. Dies lasse sich jedoch nicht nachweisen, weil die Justiz die Betroffenen oft über die Anschuldigungen im Unklaren lasse (dpa vom 2. Mai 2018). Darüber hinaus geht die größte Mediengruppe der Türkei, Dogan-Media, an den regierungsnahen Konzern Demirören. Damit bleiben nur noch wenige Medien übrig, die nicht in der Hand von regierungsnahen Konzernen sind (dpa vom 18. April 2018). Neben der andauernden Inhaftierung von Journalisten zählen aber auch die Inhaftierung von zwei griechischen Soldaten, die am 1. März 2018 versehentlich türkisches Staatsgebiet betraten, die Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten (14. April 2018) sowie die im Januar 2018 gestartete türkische Militäroffensive – die sog. Operation Olivenzweig – gegen Syrien. Zugleich verlängerte das türkische Parlament den seit dem Putsch vom 15. Juli 2016 geltenden Ausnahmezustand im Land am 18. April 2018 zum siebten Mal um drei Monate. Das Kabinett hatte die Verlängerung am Vortag beschlossen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verteidigt die Verlängerung des Ausnahmezustands mit dem Wunsch der Wirtschaft, da die Verhängung des Notstands vor Terrorismus schütze und Streiks verhindere (Reuters vom 21. April 2018). Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/2871 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Vor diesem Hintergrund kündigte Präsident Recep Tayyip Erdoğan im April 2018 an, die ursprünglich für November 2019 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bereits am 24. Juni 2018 stattfinden zu lassen. Diesen Schritt begründete er damit, dass gleichzeitig mit den Wahlen die Verfassungsänderung zur Einführung des Präsidialsystems in Kraft tritt (dpa vom 18. April 2018). Demnach werden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im andauernden Ausnahmezustand abgehalten. Der immer wieder verlängerte Ausnahmezustand wird in vollem Umfang genutzt, um dem Wahlkampf, der Presse sowie der Meinungsfreiheit jene Zügel anlegen zu können, die garantieren, dass jegliche Wahl weder frei noch fair ist (dpa vom 7. Mai 2018). V o r b e me r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g Die Frage 10 kann nicht offen beantwortet werden, da die erbetenen Auskünfte Informationen zur Führung nachrichtendienstlicher Quellen enthalten und damit schutzbedürftig sind. Der Quellenschutz stellt für die Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste einen überragend wichtigen Grundsatz dar. Die öffentliche Bekanntgabe der Identität von Quellen gegenüber Unbefugten würde zum einen die staatliche Fürsorgepflicht gegenüber den Betroffenen verletzen. Zum anderen würde die künftige Anwerbung von Quellen schon durch die bloße Möglichkeit des Bekanntwerdens der Identität von Quellen insgesamt nachhaltig beeinträchtigt . Dieses würde wiederum zu einer erheblichen Schwächung der den Nachrichtendiensten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Informationsgewinnung führen. Eine Kenntnisnahme durch Unbefugte würde daher für die Auftragserfüllung der Nachrichtendienste des Bundes erhebliche Nachteile zur Folge haben. Sie kann für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland schädlich sein. Deshalb sind die entsprechenden Informationen als Verschlusssache gemäß der VSA mit dem VS-Grad „VS – Vertraulich“ eingestuft. 1. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Schlussfolgerung aus dem aktuellen Fortschrittsbericht, wonach sich die Türkei in „Riesenschritten“ von der EU wegbewegt (Reuters vom 17. April 2018), und sieht sie zum vorherigen Fortschrittsbericht eine weitere Verschlechterung beispielsweise im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei? Die Bundesregierung hat dem aktuellen Länderbericht der Europäischen Kommission vom 17. April 2018 (https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/ sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf) nichts hinzuzufügen. Der Rat der Europäischen Union wird voraussichtlich im Juni 2018 Schlussfolgerungen dazu verabschieden. Die Bundesregierung hat wiederholt erklärt, dass sie die Entwicklung der Lage der Menschenrechte in der Türkei insbesondere seit dem gescheiterten vereitelten Putschversuch im Jahr 2016 sehr aufmerksam und mit großer Sorge verfolgt. Insbesondere hinsichtlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Rechtsstaatlichkeit sieht die Bundesregierung eine negative Entwicklung. Die Bundesregierung thematisiert dies regelmäßig gegenüber der türkischen Regierung. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/2871 2. Inwieweit sieht die Bundesregierung nach ihrer Kenntnis in der Türkei weitere Eingriffe in Grundrechte, vor allem die Meinungsfreiheit durch die Einschränkung der bürgerlichen und politischen Rechte durch die Notstandsdekrete , Strafverfahren gegen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten , Internetzensur, Einschränkung der Versammlungsfreiheit sowie den mangelhaften Schutz von Minderheiten (http://europa.eu/rapid/press-release_ MEMO-18-3407_en.htm)? Zur Beantwortung der Frage verweist die Bundesregierung auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Zur Lage der Menschenrechte in der Türkei“ auf Bundestagsdrucksache 19/2795. 3. Wie viele (vorläufige) Festnahmen hat es in der Türkei seit dem Putschversuch im Juli 2016 nach Kenntnis der Bundesregierung gegeben? Nach Informationen, die auf der Auswertung türkischer Medienberichte beruhen, wurden seit dem Putschversuch vom 16. Juli 2016 mit Stand vom 1. Juni 2018 insgesamt 117 101 Festnahmen vorgenommen, die mit dem Vorgehen gegen die sogenannte Gülen-Bewegung in Verbindung stehen. 4. Wie viele der seit dem Putschversuch im Juli 2016 (vorläufig) Festgenommenen befinden sich nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell noch in Untersuchungshaft ? Nach Informationen, die auf der Auswertung türkischer Medienberichte beruhen, befinden sich mit Stand vom 1. Juni 2018 aus dieser Gruppe noch 53 342 Personen in Haft. 5. Wie viele deutsche Staatsangehörige, die seit dem Putschversuch mutmaßlich wegen politischer Strafvorwürfe inhaftiert wurden, befinden sich aktuell in Haft in der Türkei? Es befinden sich gegenwärtig sechs deutsche Staatsangehörige mutmaßlich im Zusammenhang mit politischen Tatvorwürfen in der Türkei in Haft. 6. Wie viele deutsche Staatsangehörige können die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen? Der Bundesregierung sind 29 Fälle von deutschen Staatsangehörigen bekannt, die aufgrund von Ausreisesperren die Türkei nicht verlassen können. 7. Wie vielen der im türkischen Parlament befindlichen Abgeordneten wurde nach Kenntnis der Bundesregierung im Zusammenhang mit Strafurteilen seit dem Putschversuch im Juli 2016 das Mandat entzogen (bitte nach im Parlament befindlichen Parteien auflisten)? Im Zusammenhang mit Strafurteilen wurde bisher zehn Abgeordneten der Halklarin Demokratik Partisi (HDP) ihr Mandat aberkannt. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/2871 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 8. Wie viele der im türkischen Parlament befindlichen Abgeordnete befinden sich nach Kenntnis der Bundesregierung im Zuge des Putschversuchs im Juli 2016 in Haft (bitte nach im Parlament befindlichen Parteien auflisten)? Aktuell befinden sich zehn Abgeordnete im Gefängnis, neun Abgeordnete gehören der HDP an und ein Abgeordneter gehört der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) an. Einigen der genannten inhaftierten HDP-Abgeordneten wurde zwischenzeitlich ihr Mandat aberkannt. 9. Wie viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden im Zuge des Putschversuchs im Juli 2016 nach Kenntnis der Bundesregierung abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt (bitte nach Parteien auflisten)? Nach einem Bericht der HDP wurden durch Verordnung im Zuge des Notstands 94 von 102 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der Demokratik Bölgeler Partisi (DBP; lokale „Schwesterpartei“ der HDP im Südosten der Türkei) abgesetzt und in all diesen Fällen Zwangsverwaltung angeordnet. 10. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche ), ob durch massenhafte Verhaftungen die Partei HDP nur sehr bedingt zur Führung ihrer Wahlkampagne in der Lage ist? Nach einem Bericht der HDP wurden seit Juli 2015 gegen mehr als 10 000 Anhängerinnen und Anhänger der HDP und verbündeter Parteien strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet und gegen beinahe 3 000 Personen Untersuchungshaft verhängt . Die HDP wirft der AKP-Regierung vor, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft zu nutzen, um die politischen Aktivitäten der HDP zu behindern. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen.* 11. Wie viele Journalisten wurden nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Putschversuch im Juli 2016 in der Türkei inhaftiert? Die Bunderegierung verfügt hierzu über keine eigenen Erkenntnisse. Nichtregierungsorganisationen benennen hierfür aufgrund divergierender Kriterien unterschiedliche Zahlen. So spricht „Amnesty International“ von „über 120 inhaftierten Journalistinnen und Journalisten“ seit dem Putschversuch. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ beziffert die Anzahl inhaftierter Journalistinnen und Journalisten auf „über 100“. 12. Wie vielen Journalisten wurde nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Putschversuch im Juli 2016 in der Türkei die Akkreditierung entzogen? Das türkische Presse- und Informationsamt gab die Zahl der entzogenen Akkreditierungen zu Beginn 2017 mit „über 700“ an. * Das Auswärtige Amt hat die Antwort als VS – Vertraulich eingestuft. Die Antwort ist in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages hinterlegt und kann dort nach Maßgabe der Geheimschutzordnung eingesehen werden. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/2871 13. Gegen wie viele Personen insgesamt hat die türkische Justiz seit Amtsantritt von Präsident Recep Tayyip Erdoğan im August 2014 nach Kenntnis der Bundesregierung Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet (bitte entsprechend der Jahre auflisten)? Nach Informationen des türkischen Justizministeriums wurden im Jahr 2014 wegen 132 Straftaten, im Jahr 2015 wegen 1 953 Straftaten und im Jahr 2016 wegen 4 187 Straftaten Verfahren gemäß Artikel 299 I des türkischen Strafgesetzbuches (Beleidigung des Staatspräsidenten) eingeleitet. 14. Hat es nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Putschversuch im Juli 2016 eine weitere Unterminierung des Grundsatzes der Gewaltentrennung in der Türkei gegeben, da Richter und Staatsanwälte weiter „unter starkem politischen Druck“ stehen und zahlreiche Richter „gegen ihren Willen versetzt“ wurden (Bundestagsdrucksache 18/8217, Frage 39)? Die Bundesregierung verweist auf die Ausführungen des aktuellen Länderberichts der Europäischen Kommission vom 17. April 2018 im Rahmen des jährlichen Erweiterungspaketes, der unter anderem ernsthafte Rückschritte im Justizbereich und eine Schwächung der justiziellen Unabhängigkeit konstatiert. Im Übrigen wird auf die Vorbemerkung der Bundesregierung verwiesen. 15. Wie viele Medienunternehmen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Putschversuch im Juli 2016 in der Türkei geschlossen? Die Bunderegierung verfügt hierzu über keine eigenen Erkenntnisse. Nichtregierungsorganisationen nennen wegen divergierender Kriterien unterschiedliche Zahlen. Die Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ beziffert die Anzahl geschlossener Medienunternehmen nach aktuellem Stand mit „über 150“, laut „Amnesty International“ beläuft sich ihre Anzahl auf „über 180“. Laut Gutachten der „Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht“ des Europarates („Venedig-Kommission“) vom März 2017 wurden ca. 200 Medienorgane seit Beginn des Ausnahmezustands geschlossen und teilweise enteignet. 16. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse, dass mit dem Verkauf der Dogan-Mediengruppe an die Mediengruppe Demirören, zu der unter anderem der Sender CNN Türk, die Zeitung „Hürriyet“ und die Nachrichtenagentur DHA gehören, die türkische Medienlandschaft fast vollständig von regierungsnahen Konzernen kontrolliert wird (dpa vom 17. Mai 2018)? Dem „Media Ownership Monitoring“ von „Reporter ohne Grenzen“ vom Herbst 2016 zufolge bestanden zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studie bei rund 80 Prozent der türkischen Medien finanzielle und/oder personelle Verknüpfungen mit der Regierungspartei Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP). Durch den Verkauf der Dogan-Mediengruppe, zu der die bis zum Verkauf auflagenstärksten Tageszeitungen „Hürriyet“ und „Posta“ sowie der quotenstarke Sender „CNN Türk“ gehörten, kann von einer Kontrolle der türkischen Medien durch regierungsnahe Konzerne von ca. 90 Prozent gesprochen werden. 17. Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregierung, ob ein im Jahr 2014 geleaktes Video den Einfluss des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf die Mediengruppe Demirören beweist (dpa vom 17. Mai 2018)? Der Bundesregierung liegen hierzu keine über die Medienberichterstattung hinausgehenden Erkenntnisse vor. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/2871 – 6 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 18. Inwieweit spricht sich die Bundesregierung nach wie vor für eine schnelle Vorbereitung der Öffnung der Verhandlungskapitel „Justiz und Grundrechte “ und „Justiz, Freiheit, Sicherheit“ (Kapitel 23 und 24) aus, damit die EU hierzu mit der Türkei in einen vertieften, strukturierten und kritischen Dialog treten kann (Bundestagsdrucksache 18/6479, Antwort zu Frage 6 sowie Bundestagsdrucksache 18/8217, Antwort zu Frage 36)? 19. Spricht sich die Bundesregierung derzeit im Lichte einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände für die Öffnung weiterer Verhandlungskapitel aus? Wenn ja, für die Öffnung welcher Verhandlungskapitel? Die Fragen 18 und 19 werden gemeinsam beantwortet. Aus Sicht der Bundesregierung steht die Frage nach Öffnung weiterer Verhandlungskapitel mit der Türkei derzeit nicht im Raum. Faktisch ruhen die Verhandlungen zurzeit. 20. Inwieweit sind nach Kenntnis der Bundesregierung angesichts der menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Situation in der Türkei die bisherigen Heranführungshilfen erfolglos geblieben, da Fortschritte in Bereichen wie der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, der Bekämpfung von Korruption oder der Pressefreiheit vom politischen Willen der türkischen Behörden abhängig sind (dpa vom 14. März 2018) und sich die in „Riesenschritten “ von der EU wegbewegt (Reuters vom 17. April 2018)? Die Bundesregierung teilt die Einschätzung der Europäischen Kommission (im Länderbericht vom 17. April 2018), der zufolge das Bekenntnis der Türkei zum EU-Beitritt nicht durch entsprechende Maßnahmen und Reformen in die Tat umgesetzt worden ist. Aus diesem Grund ruhen die Beitrittsverhandlungen derzeit. Die Bundesregierung setzt sich gegenüber der Europäischen Kommission für die Planung der Mittel des „Instrument for Pre-accession Assistance“ (IPA) für den Zeitraum 2018 bis 2020 für eine verstärkte inhaltliche Fokussierung der Programme auf Demokratie, gute Regierungsführung, Grund- und Menschenrechte ein. 21. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse darüber, dass zum Beispiel die Gelder, die im Rahmen der Heranführungshilfen bislang in das türkische Justizsystem geflossen sind, keine gute Anlage waren (dpa vom 14. März 2018)? Es wird auf die Antwort zu Frage 20 verwiesen. 22. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse darüber, dass bei der Verwendung der Mittel im Rahmen der IPA-I-Ziele (IPA = Instrument für Heranführungshilfe ) auf einige grundlegende Erfordernisse kaum eingegangen wurde, nämlich Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, Bekämpfung von Korruption auf hoher Ebene und von organisiertem Verbrechen, Pressefreiheit, Vermeidung von Interessenkonflikten und Stärkung der externen Prüfung und der Zivilgesellschaft (Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes 2018, Heranführungshilfe der EU für die Türkei: bislang nur begrenzte Ergebnisse, S. 5)? Die Bundesregierung hat den Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs 2018 zu Heranführungshilfen der EU für die Türkei zur Kenntnis genommen und unterstützt insbesondere die Empfehlung des Europäischen Rechnungshofs, die Konditionalität stärker einzusetzen. Die Europäische Kommission, die Planung Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 7 – Drucksache 19/2871 und Durchführung der Vorbeitrittshilfen mit Unterstützung der Mitgliedstaaten beschließt, hat den Empfehlungen des Europäischen Rechnungshofs bereits zugestimmt . Die Bundesregierung setzt sich insbesondere dafür ein, dass bei der Verwendung der IPA-Mittel die Zusammenarbeit mit unabhängigen Akteuren der Zivilgesellschaft gestärkt wird und der Aufbau demokratischer Institutionen unterstützt wird. 23. Inwieweit sind die vom November 2019 auf den 24. Juni 2018 vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei, vor dem Hintergrund, dass der vom türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach dem Putschversuch vom Juli 2016 ausgerufene Ausnahmezustand am 18. April 2018 zum siebten Mal verlängert wurde und damit maßgebliche Grundrechte eingeschränkt bleiben, Massenverhaftungen von Erdoğan-Kritikern stattfinden , Recep Tayyip Erdoğan weitestgehend per Dekret regieren kann und die Opposition – insbesondere die HDP – in ihren Rechten massiv eingeschränkt ist, nach Kenntnis der Bundesregierung bezüglich des Wahlkampfes frei und fair (dpa vom 19. April 2018)? Die Bewertung der Rahmenbedingungen und Durchführung der vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen obliegt den hierzu entsandten internationalen Beobachtermissionen, allen voran dem Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE (ODIHR). Außerdem entsenden die Parlamentarischen Versammlungen der OSZE und des Europarates Beobachter. Die Bundesregierung wird sich mit den daraus gewonnenen Erkenntnissen zu gegebener Zeit auseinandersetzen. 24. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse, ob mit der im Zuge der Präsidentschaftswahlen in Kraft tretenden erheblichen Verstärkung der Kompetenzen des Staatspräsidenten die Gewaltenteilung nur noch formell gegeben und der Einfluss des Parlaments im neuen System nur noch marginal ist? Die Bundesregierung verweist auf das Gutachten der „Venedig-Kommission“ des Europarates vom 11. März 2017 (Opinion No. 875/2017), in dem ausführlich zur Frage der Verfassungsänderungen Stellung genommen wird. Sie hat ihrer Erwartung Ausdruck verliehen, dass die türkische Regierung sich mit den im Gutachten geäußerten Bedenken auseinandersetzt. 25. Wurden nach Kenntnis der Bundesregierung auf dem Treffen zwischen der EU und der Türkei in Varna am 26. März 2018 bilaterale Probleme der Türkei mit EU-Mitgliedstaaten wie Zypern, Griechenland und den Niederlanden thematisiert, und wenn ja, welche Probleme mit welchen Staaten waren das, und gab es konkrete Lösungen? 26. Wurde nach Kenntnis der Bundesregierung auf dem Treffen zwischen der EU und der Türkei in Varna am 26. März 2018 die türkische Militäroffensive auf den Norden Syriens und die dortige humanitäre Lage thematisiert? Wenn ja, welche unterschiedlichen Positionen gab es dazu, und gab es konkrete Lösungen? Die Frage 25 und 26 werden gemeinsam beantwortet. An dem genannten Treffen hat die Bundesregierung (ebenso wie die übrigen Mitgliedstaaten der EU) nicht teilgenommen. Die EU war durch den Präsidenten des Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/2871 – 8 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Europäischen Rats, Donald Tusk, den Präsidenten der Europäischen Kommission , Jean-Claude Juncker, sowie den bulgarischen Ministerpräsidenten, Bojko Borissow, für die aktuelle Ratspräsidentschaft vertreten. Nach Kenntnis der Bundesregierung wurde in Varna eine ausführliche Diskussion über die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei und über das weitere Vorgehen geführt. Zu den Einzelheiten wird auf die öffentlich zugänglichen Informationen des Präsidenten des Europäischen Rats verwiesen: www.consilium.europa.eu/de/meetings/ international-summit/2018/03/26/ 27. Welche konkreten Schritte hat die Bundesregierung inzwischen unternommen , sich in Kenntnis aller Umstände zu setzen, um nach drei Monaten eine Abwägung hinsichtlich der völkerrechtlichen Bewertung der am 20. Januar 2018 gestarteten „Operation Olivenzweig“ des türkischen Militärs im Norden Syriens um die Stadt Afrin – den Experten als völkerrechtswidrigen Angriffskrieg betrachten (www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/militaeroffensiveafrin -tuerkei-bundestag-voelkerrecht) – treffen zu können? Die Bundesregierung hat die ihr zur Verfügung stehenden Quellen fortlaufend ausgewertet und Begegnungen mit türkischen Gesprächspartnerinnen und -partnern dazu genutzt, die Türkei um nähere Erläuterung und Nachweise zu der Selbstverteidigungslage zu bitten, in der sie nach eigenen Angaben gehandelt hat. Die Zweifel, die die Bundesregierung an der völkerrechtlichen Rechtfertigung des türkischen Vorgehens hat, konnten dadurch bisher nicht ausgeräumt werden. 28. Inwieweit sieht die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass Afrin nun als Teil der türkischen Provinz Antakya regiert und eine 450 Personen starke Polizeitruppe aufgestellt werden soll (www.heise.de/tp/features/Ist-Afrinjetzt -Teil-der-tuerkischen-Provinz-Antakya-4012986.html?seite=all), in allen verfügbaren Indizien mit hoher Plausibilität eine inzwischen dauerhafte Besetzung, die nicht im Einklang mit dem Völkerrecht steht (www.fr.de/ politik/bundesregierung-deutsche-waffenexporte-nach-beginn-tuerkischerafrin -offensive-a-1477494)? Die Bundesregierung hat keine Kenntnis davon, dass Afrin als Teil der türkischen Provinz Antakya regiert würde und die genannte Polizeitruppe aufgestellt worden wäre oder werden soll. Der Bundesregierung liegen derzeit keine belastbaren Informationen für eine solide Bewertung der Lage in der Region rund um Afrin vor. 29. Inwieweit ist die Bundesregierung aufgrund der aktuellen politischen Lage in der Türkei gegen eine Mandatserteilung an die Europäische Kommission zur Aufnahme der Verhandlungen zur Modernisierung der bestehenden Zollunion bzw. eines entsprechenden Abkommens zwischen der EU und der Türkei ? Nach Auffassung der Bundesregierung ist die Erteilung eines Mandats an die Europäische Kommission zu Verhandlungen über eine Modernisierung der Zollunion angesichts der derzeitigen Lage in der Türkei, insbesondere im Rechtstaatsbereich , zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 9 – Drucksache 19/2871 30. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse über Ergebnisse des Treffens des gemeinsamen Ausschusses der EU-Türkei-Zollunion am 16./17. Mai 2018 in Ankara? Die regelmäßigen Treffen des gemeinsamen Ausschusses dienen der praktischen Umsetzung der seit langem bestehenden Zollunion zwischen der EU und der Türkei . Das Treffen am 16./17. Mai 2018 in Ankara thematisierte insbesondere Fragen der Implementierung, Umsetzungsdefizite und Entwicklungen mit Blick auf Handelshemmnisse in der EU-Türkei-Zollunion. Eine detaillierte Unterrichtung der Mitgliedsstaaten durch die Europäische Kommission steht noch aus. 31. Wie viele Asylsuchende aus der Türkei sind nach Kenntnis der Bundesregierung seit Februar 2018 laut der ab Januar 2017 zur Verfügung stehenden, auf Personendaten basierenden Asylgesuch-Statistik in Deutschland neu registriert worden, und wie hoch war die bereinigte Schutzquote in Bezug auf Asylsuchende aus der Türkei in diesen Monaten (bitte entsprechend der Monate in absoluten und relativen Zahlen angeben; vgl. Bundestagsdrucksache 18/13683, Antwort auf die Schriftliche Frage 5)? Übersicht der Zugänge von türkischen Asylsuchen laut Asylgesuch-Statistik seit Februar 2018: Februar 2018 März 2018 April 2018 Mai 2018 Neuregistrierung türkischer Asylsuchender 609 541 564 793 Die nachfolgende Tabelle weist alle Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu türkischen Asylbewerberinnen und Asylbewerbern für die Monate Februar bis Mai 2018 aus, auch den Anteil der positiven Entscheidungen (Asyl-/Flüchtlingsanerkennung/subsidiärer Schutz/Abschiebungsverbot). Mögliche weitere Quoten können ggf. aus den Daten der Tabelle ermittelt werden : davon: Asylentscheidungen des BAMF Asylentscheidungen Anerkennung als Asylberechtigte Anerkennungen als Flüchtling nach §3 AsylG Gewährung von subsidiärem Schutz nach §4 AsylG Feststellung eines Abschiebungs - verbots nach §60 V/VII AufenthG Anteil der positiven Entscheidungen an allen Entscheidungen (in Prozent) Ablehnungen sonstige Verfahrenserledi - gungen (Einstellungen , Dublin-Verfahren ) Februar 2018 781 87 281 1 5 47,9 314 93 März 2018 835 61 277 14 12 43,6 355 116 April 2018 764 36 203 4 4 32,3 382 135 Mai 2018 715 49 173 3 7 32,4 384 99 Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/2871 – 10 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 32. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche ), dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die AKP, beispielsweise über ihre diplomatischen Einrichtungen in Deutschland, die Dienstaufsicht über die aus der Türkei entsandten und vor allem in DITIB-Gemeinden (DITIB = Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) tätigen Imame des Diyanet (= Präsidium für religiöse Angelegenheiten der Türkei) dahingehend ausübt, Einfluss auf die türkische Wählerschaft in Deutschland zu nehmen (Bundestagsdrucksache 19/154, Antwort zu Frage 1)? Der Bundesregierung liegen keine über ihre Antwort zu Frage 1 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Mutmaßliche Einflussnahme der Türkei in Deutschland“ auf Bundestagsdrucksache 19/154 hinausgehenden Erkenntnisse vor. 33. Inwieweit hat die Bundesregierung – vor dem Hintergrund, dass allein im März 2018 bundesweit mehr als 80 Gedenkveranstaltungen an den Ersten Weltkrieg auch mit Kindern und militärischem Bühnenprogramm in DITIB- Gemeinden stattgefunden haben (www.tagesschau.de/ausland/ditib-127.html), Aufrufen zum Gebet für den Sieg der türkischen Truppen in Syrien (www.deutschlandfunkkultur.de/tuerkischer-einmarsch-in-syrien-einvoelkerrechtswidriger .996.de.html?dram:article_id=409349) der türkischen Truppen in Syrien/Afrin (KNA vom 24. Januar 2018) etc. – Kenntnisse, dass sich das, was sich seit zwei Jahren in den DITIB-Moscheen abspielt, neu ist, weil politische und nationalistische Mythen Einzug in die Moschee halten, wobei Syrien/Afrin und 1915 gleichgesetzt werden (www.tagesschau.de/ ausland/ditib-127.html), und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung für die zukünftige Zusammenarbeit mit der DITIB (finanzielle Förderung , Deutsche Islam Konferenz etc.)? Die in der Fragestellung geschilderten Phänomene sind aus Sicht der Bundesregierung nicht grundsätzlich neu. Die Bundesregierung sieht die Einflussnahmen staatlicher türkischer Stellen auf DITIB, die über religiöse Dienstleistungen hinausgehen , kritisch. Die Bundesregierung führt mit DITIB bilaterale Gespräche und Dialogformate, die Impulse in Richtung Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der DITIB gegenüber staatlichen Einrichtungen der Türkei setzen sollen. Hinsichtlich der Projektförderung wird auf die Antwort der Bundesregierung zu den Fragen 27 und 28 der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „DITIB als verlängerter Arm des türkischen Präsidenten Erdogan“ auf Bundestagsdrucksache 19/1869 verwiesen. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333