Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums des Innern vom 21. Februar 2018 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Deutscher Bundestag Drucksache 19/883 19. Wahlperiode 23.02.2018 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lars Herrmann, Stephan Brandner, Jochen Haug, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD – Drucksache 19/559 – Verantwortlichkeit für die Grenzöffnung am 4. September 2015 V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r Am 4. September 2015 entschieden ein oder mehrere bisher unbekannte Mitglieder der Bundesregierung oder der Spitzen der Regierungsfraktionen auf bisher offiziell unbekannter Rechtsgrundlage, die Grenze nach Österreich für einreisewillige Drittstaatsangehörige, die sich zuvor in Ungarn mutmaßlich in einer Notlage befanden, ohne Pass und Aufenthaltstitel zu öffnen. Die Entscheidung zur Einreisegewährung war nach Presseberichten „… zwischen Bundeskanzlerin Merkel und Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann abgestimmt worden“ (vgl. www.n-tv.de/politik/Fluechtlingsaufnahmesorgt -fuer-Koalitionsstreit-article15873786.html). Die Bundeskanzlerin hat eingeräumt , für die Einreiseentscheidung verantwortlich zu sein. Nach Mitteilung der „Süddeutschen Zeitung“ sagte sie: „Es war selbstverständlich, dass wir diese Entscheidung getroffen haben, und ich halte sie auch für richtig, sie hat vielen Menschen geholfen“ (vgl. www.sueddeutsche.de/politik/merkel-zu-fluechtlingspolitikdann -ist-das-nicht-mein-land-1.2648819). In einem Interview mit der Zeitung „WELT am SONNTAG“ gab die Bundeskanzlerin an, sie würde ihre „… Entscheidungen des Jahres 2015 wieder so treffen“ (vgl. www.huffingtonpost. de/2017/08/27/merkelurlaub-fluechtlinge_n_17843156.html). Als direkte Auswirkung dieser Entscheidung reisten zwischen dem 4. und 6. September 2015 mehrere zehntausend Personen aus Ungarn nach Deutschland ein. Dies war der Beginn einer Massenmigration von asylsuchenden Drittstaatsangehörigen nach Deutschland, die bis Mitte 2017 etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge ins Land führte (vgl. www.zeit.de/2016/35/grenzoeffnung-fluechtlinge-september- 2015-wochenende-angela-merkel-ungarn-oesterreich/komplettansicht). Als sich abzeichnete, dass es bei den mehreren zehntausend Flüchtlingen nicht bleiben würde, sollten auf Betreiben der Bundesregierung ab dem 13. September 2015 Grenzkontrollen eingeführt werden. Zu diesem Zweck waren schon viele Hundertschaften der Landes- und Bundespolizei bereitgehalten worden. Im entsprechenden Einsatzbefehl habe es laut Presseberichten zunächst geheißen : „Nichteinreiseberechtigte Drittstaatsangehörige sind zurückzuweisen, auch im Falle eines Asylgesuchs.“ Demnach wäre ab dem 13. September 2015, 18 Uhr, allen nichteinreiseberechtigten Drittstaatsangehörigen an der Grenze zu Österreich die Einreise in Form einer Zurückweisung verwehrt worden. Jedoch Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/883 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode habe die Bundeskanzlerin unmittelbar vor Beginn des Einsatzes persönlich veranlasst, dass der Halbsatz „auch im Falle eines Asylgesuchs“ gestrichen wurde (vgl. www.welt.de/politik/deutschland/article162582074/Fast-haette- Merkel-die-Grenze-geschlossen.html). Diese Sachverhalte berichtete „WELT ONLINE“ am 5. März 2017 unter Berufung auf entsprechende Recherchen eines Buchautors, und sie wurden von der Bundesregierung bis heute nicht bestritten. Der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, hat im Interview mit „DIE WELT“ vom 13. Dezember 2015 eingeräumt, dass im September 2015 eine Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich diskutiert worden sei. Letztlich habe man sich jedoch aus politischen Gründen „gegen das Zurückweisen entschieden“ (vgl. www.welt.de/politik/deutschland/article149895074/Der-Hass-kriecht-bisin -die-Mitte-der-Gesellschaft.html). Auf die Korrektheit dieser Zeitungsberichte kommt es aber für diese Anfrage nicht entscheidend an, denn es steht fest, dass (schon) ab dem 4. September 2015 die Grenze zu Österreich für Drittstaatsangehörige, die nicht zum Grenzübertritt berechtigt waren, geöffnet wurde und dass damals und bis heute keinerlei Maßnahmen getroffen wurden, um asylsuchende Drittstaatsangehörige an der Grenze zurückzuweisen. Auf Bundestagsdrucksache 18/7311 legt die Bundesregierung dar, dass zwar „grundsätzlich einreiseverhindernde bzw. aufenthaltsbeendende Maßnahmen, insbesondere nach Maßgabe von Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 (Schengener Grenzkodex), §§ 15, 57 und 58 des Aufenthaltsgesetzes und § 18 des Asylgesetzes (AsylG), zu ergreifen“ sind. Allerdings kamen „Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nachsuchende Drittstaatsangehörige … derzeit nicht zur Anwendung (§ 18 Absatz 2, Absatz 4 AsylG)“. Dieser Zustand gilt bis heute. Bei Abstimmungsgesprächen zwischen CSU und CDU über gemeinsame Positionen für Koalitionsverhandlungen mit anderen Parteien wurde noch Anfang Oktober 2017 die Übereinkunft erzielt, auch weiterhin keine Schutzsuchenden an der Grenze zurückzuweisen (vgl. www.zeit.de/politik/deutschland/2017-10/ unionsparteien-csu-cdu-gespraeche). Die Bundesregierung erklärte bisher nicht eindeutig, von welcher der in § 18 Absatz 4 AsylG vorgesehenen Möglichkeiten der Ausnahme vom Grundsatz der Zurückweisung sie damals Gebrauch gemacht hat oder immer noch Gebrauch macht: von der europarechtlich determinierten Zuständigkeitsregelung nach „Dublin III“ (§18 Absatz 4 Nummer 1) oder von der nationalen Möglichkeit einer Anordnung des Bundesinnenministers (§18 Absatz 4 Nummer 2) (vgl. Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Az.: WD 3 – 3000-299/15). In einem Antwortschreiben des Bundesinnenministeriums vom 16. Februar 2016 auf eine Anfrage auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes nach einer eventuellen Anwendung der „nationalen“ Alternative des § 18 Absatz 4 AsylG heißt es: „Eine schriftliche Anordnung des BMI gibt es nicht.“ Vielmehr wird erneut, wie schon auf Bundestagsdrucksache 18/7510, in der Antwort zu den Fragen 39 und 40 für die Entscheidung zur Grenzöffnung auf „Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung“ verwiesen. Dies konstatiert auch die Ausarbeitung Az.: WD 3-3000-109/17 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 24. Mai 2017, ohne konkreter zu werden. Es bleibt daher bis heute unklar, ob ggf. auf einem anderen als dem schriftlichen Weg eine ministerielle Anordnung erging oder ob, und ggf. wer, sich die Auffassung einer europarechtlichen Zuständigkeit zu eigen machte. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/883 In der Ausarbeitung Az.: WD 3-3000-299/15 der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 26. November 2015 wurde eine Twitter-Mitteilung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 25. August 2015 um 4.30 Uhr morgens als Erklärung des Selbsteintrittsrechts nach Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III) interpretiert . Diese erfolgte also bereits zehn Tage vor der Grenzöffnung am 4. und 6. September 2015. Eine Ausübung des Selbsteintrittsrechts verhindert jede Zurückweisung des hier in Rede stehenden Personenkreises an der Grenze. Weitere mögliche europarechtliche Hürden für die Zurückweisung sind einerseits, die Unmöglichkeit festzustellen, welcher Mitgliedstaat Ersteinreiseland war, und andererseits angebliche systemische Mängel im entsprechenden Ersteinreiseland (vgl. Artikel 17 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013). Sofern sich nachfolgend einzelne Fragen auf zitierte Presseberichte beziehen, zielen diese nicht auf eine Kommentierung im Sinne einer inhaltlichen Stellungnahme zu diesen Berichten ab, sondern auf eine Bestätigung oder Verneinung unserer darauf beruhenden Frage. 1. Trifft es zu, dass es keine schriftliche Anordnung des Bundesinnenministeriums oder des Bundesinnenministers an die Bundespolizei und/oder die Grenzbehörden gab und gibt, wonach unter Berufung auf § 18 Absatz 4 Nummer 2 AsylG von der Einreiseverweigerung oder Zurückschiebung von Drittstaatsangehörigen abzusehen ist, welche um internationalen Schutz nachsuchen? Eine schriftliche Anordnung des Bundesministeriums des Innern an das Bundespolizeipräsidium oder andere mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden gibt es nicht. 2. Wurde von dem oder den „Zuständigen“ im Sinne der Bundestagsdrucksache 18/7510 in anderer Weise als per schriftlicher Anweisung von der Möglichkeit nach besagtem § 18 Absatz 4 Nummer 2 AsylG Gebrauch gemacht und die Anordnung erlassen, von einer Einreiseverweigerung oder Zurückschiebung abzusehen, und, falls ja, in welcher Weise wurde diese Anordnung übermittelt – etwa telefonisch, per E-Mail oder durch persönliche mündliche Anordnung? Die Entscheidung wurde im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung getroffen. Bundesminister Dr. Thomas de Maizière hat am 13. September 2015 den Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums über die Entscheidung der Bundesregierung mündlich informiert. Im Übrigen wird auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 18/7311 (Vorbemerkung der Bundesregierung) sowie auf die Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 13 der Abgeordneten Sevim Dağdelen auf Bundestagsdrucksache 18/12640 verwiesen. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/883 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 3. Falls Frage 1 verneint wurde (es also eine schriftliche Anordnung gibt) oder Frage 2 bejaht wurde, welches konkrete Mitglied der Bundesregierung hat die darin bezeichnete schriftliche oder auch nicht schriftliche Anordnung nach § 18 Absatz 4 Nummer 2 AsylG zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Wortlaut erlassen? 4. Falls eine Anordnung nach § 18 Absatz 4 Nummer 2 AsylG in keiner Weise und von niemandem erlassen wurde, beruht dann das Absehen von Einreiseverweigerungen und Zurückweisungen auf der Grundlage des § 18 Absatz 4 Nummer 1 AsylG, und falls nicht, beruht dieses auf anderweitigen politischen Gesichtspunkten, und ggf. auf welchen? Auf die Antwort zu den Fragen 1 und 2 wird verwiesen. 5. Welche Dienststelle hat auf wessen letztendliche Veranlassung hin und aus welchem Grund das Bundesamt zum „Tweet“ vom 25. August 2015 morgens um 4.30 Uhr veranlasst, mit dem augenscheinlich das Selbsteintrittsrecht erklärt wurde? Es lässt sich nicht mehr im Einzelnen nachvollziehen, aus welchem Grund und auf wessen letztendlicher Veranlassung der „Tweet“ vom 25. August 2015 des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration (BAMF) veranlasst wurde. Im Übrigen wird auf die Antwort der Bundesregierung zu Frage 8 der Kleinen Anfrage der Fraktion der AfD auf Bundestagsdrucksache 19/609 verwiesen. 6. Falls das Absehen von Einreiseverweigerungen auf § 18 Absatz 4 Nummer 1 AsylG in der Form des Selbsteintrittsrechts beruhte, wurde dieses Selbsteintrittsrecht dann nach dem 25. August 2015 nochmals erklärt, erneuert oder aufrechterhalten, und falls ja, von welchem Mitglied, welcher Personengruppe oder welchem Gremium innerhalb der Bundesregierung, wann, und gegenüber wem, und in welcher Form? Über die Ausübung des sogenannten Selbsteintrittsrechts nach Artikel 17 der sogenannten Dublin-III-VO entscheiden die zuständigen Behörden des jeweiligen Mitgliedstaates nach Stellung eines Asylantrages. Bereits vor dem 25. August 2015 wurde das Selbsteintrittsrecht ausgeübt. Auch ohne die Ausübung des sogenannten Selbsteintrittsrechts wird der Mitgliedstaat , in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, zuständig (Artikel 3 Absatz 2 Satz 1 Dublin-III-VO), wenn sich keine Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates feststellen lassen. Außerdem findet ein Zuständigkeitsübergang auf den Mitgliedstaat, in dem sich der Antragsteller aufhält, statt, wenn die Frist zur Stellung eines Aufnahmegesuchs nicht eingehalten wird (Artikel 21 Absatz 1 Satz 3 Dublin-III-VO) oder der Antragsteller nicht innerhalb der vorgesehenen Überstellungsfristen in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird (Artikel 29 Dublin-III-VO). Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/883 7. Trifft es zu, oder trifft es nicht zu, dass Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am oder zeitnah zum 13. September 2015 im Rahmen ihrer Richtlinienkompetenz eine Änderung des Einsatzbefehls an die Bundespolizei veranlasst hat, und falls ja, geschah dies in der Form, dass die schon in diesem Einsatzbefehl enthaltene Anweisung, auch Personen zurückzuweisen, die um „internationalen Schutz“ nachsuchen, gestrichen wurde, so dass die Bundespolizei gezwungen war, diesen Personen den Zutritt in das Bundesgebiet zu erlauben, und wenn es nicht zutrifft, geschah dies in einer anderen und ggf. welcher anderen Weise, und ggf. auf wessen Verantwortung? Auf die Antwort zu Frage 2 wird verwiesen. 8. Welche Abteilung in welchem Bundesministerium hat dem zuständigen Bundesminister/der zuständigen Bundesministerin über die Flüchtlingssituation in Italien und Griechenland berichtet? Auf die Antwort der Bundesregierung zu Frage 1 der Kleinen Anfrage der Fraktion der AfD auf Bundestagsdrucksache 19/599 wird verwiesen. 9. Ist man im Bundesinnenministerium jemals zu der Auffassung gelangt, dass Italien und Griechenland mit der Anzahl der Flüchtlinge überfordert sind? Wann bestanden erstmals Hinweise darauf, dass Italien und Griechenland den rechtlichen Verpflichtungen nach der Dublin-Verordnung nicht vollumfänglich nachkommen? Griechenland und Italien befinden sich aufgrund ihrer geografischen Lage naturgemäß in einer schwierigen und herausfordernden Situation hinsichtlich der aktuell anhaltenden Migrationslage. Dies sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Bewältigung der Migrationslage sind allgemeinkundige Tatsachen , die aus Sicht der Bundesregierung keiner näheren Darlegung bedürfen. Grundsätzlich obliegt die Überwachung der Einhaltung der europäischen Rechtsnormen einschließlich der sogenannten Dublin-III-VO durch die jeweiligen Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission als „Hüterin der Verträge“. Bereits mit der Entscheidung des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) vom 21. Januar 2011 (30696/09) und der Entscheidung des EuGH (Europäischer Gerichtshof) in den Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 vom 21. Dezember 2011 wurde festgestellt, dass sowohl das Asylverfahren als auch die Aufnahmebedingungen in Griechenland systemische Mängel aufweisen. Seit der Empfehlung der EU-Kommission vom 8. Dezember 2016 sind Dublin-Überstellungen nach Griechenland unter bestimmten Voraussetzungen wieder möglich. Seit dem 15. März 2017 hat das BAMF das Dublin-Verfahren mit Griechenland wieder aufgenommen. Im Falle Griechenlands hat die Europäische Kommission in den Jahren 2009 und 2010 Vertragsverletzungsverfahren wegen Mängeln im Asylverfahren sowie der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber eingeleitet. Griechenland verpflichtete sich 2010 und erneut 2013 zu einer Reform seiner Asyl- und Migrationspolitik sowie zur Reform seiner Grenzschutzpolitik. Die Umsetzung der entsprechenden Aktionspläne wurde von der EU-Kommission intensiv überwacht . Die Bundesregierung hat diese Bemühungen über eine von der Kommission eingerichtete „Freundesgruppe“ begleitet. Im Hinblick auf Italien wurde das Verfahren infolge des Urteils des EGMR vom 4. November 2014 (29217/12) bei Familien mit Kindern unter 16 Jahren angepasst. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/883 – 6 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 10. Wann hatte das Bundesinnenministerium erstmals Kenntnis davon erhalten, dass Italien und Griechenland Drittstaatsangehörigen ohne erforderliche Erfassung gemäß der Dublin-Verordnung und entgegen dem Schengener Grenzkodex die Weiterreise – teils in Zügen – in die nördlichen Vertragsstaaten ermöglichte? Es ist allgemein bekannt, dass irreguläre Sekundärmigration, auch von Griechenland und Italien ausgehend, in Richtung der nördlichen Mitgliedstaaten stattfand und stattfindet. Vor diesem seit Jahren bekannten Hintergrund wurden seitens der Bundesregierung zahlreiche Aktivitäten und Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene initiiert, um den Schutz der EU- und Schengen-Außengrenzen stetig weiter zu verbessern und die Einhaltung der Vorgaben der sogenannten Dublin-III-VO zu gewährleisten. 11. Hat die Bundesregierung und ggf. zu welchem Zeitpunkt aufgrund von Lageerkenntnissen aus Frage 10 gegenüber Italien und Griechenland die Einhaltung von Dublin- und Schengen-Recht angemahnt oder in sonst irgendeiner Form thematisiert? Der Europäischen Kommission obliegt als „Hüterin der Verträge“ die Überwachung der Einhaltung der europäischen Rechtsnormen einschließlich der sogenannten Dublin-III-VO durch die jeweiligen Mitgliedstaaten. Die Lageerkenntnisse wurden auf europäischer Ebene, insbesondere im Hinblick auf die seit Ende 2015 erfolgte personelle Unterstützung auf Ersuchen der Europäischen Grenzund Küstenwache in Griechenland und Italien umfassend thematisiert. Dies wird u. a. durch den Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands auf EU-Ebene sichergestellt. Dabei werden die anderen Schengenstaaten einbezogen. Im Übrigen wird auf die Antworten zu den Fragen 12 und 13 verwiesen. 12. Welche Schritte und Maßnahmen hat die Bundesregierung zu welchem Zeitpunkt unternommen, um Italien und Griechenland zur Einhaltung der Dublin -Verordnung und des Schengener Grenzkodex zu unterstützen? Die grenzpolizeiliche Zusammenarbeit mit Italien und Griechenland sowie deren Unterstützung wurden und werden kontinuierlich entwickelt und intensiviert. So sind in Italien seit 1998 und in Griechenland seit 2001 grenzpolizeiliche Verbindungsbeamte eingesetzt. Die Bundespolizei unterstützt darüber hinaus seit dem Jahr 2002 die italienischen Grenzbehörden und seit dem Jahr 2008 auch die griechischen Grenzbehörden im Rahmen von bilateralen grenzpolizeilichen Beratungsmaßnahmen an ausgewählten Flug- und Seehäfen. Seit 2014 werden bi- und trinationale Zugstreifen mit Italien und Österreich durchgeführt. Zudem beteiligt sich die Bundespolizei an Einsatzmaßnahmen der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex). Aufgrund der gestiegenen Anzahl ankommender Drittstaatsangehöriger hat die Bundespolizei auf Ersuchen der Europäischen Grenz- und Küstenwache seit Ende 2015 das personelle und technische Engagement in Italien und Griechenland verstärkt, um die beiden Mitgliedstaaten u. a. bei der grenzpolizeilichen Registrierung und Überprüfung der ankommenden Migranten im Rahmen der sogenannten Hotspots zu unterstützen. Das BAMF steht als zuständige Behörde in regelmäßigen Austausch mit Vertretern der griechischen und der italienischen Asylbehörde, um bestehende Probleme , insbesondere im Dublin-Verfahren, zu beheben. Auch der Bundesminister Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 7 – Drucksache 19/883 des Innern befindet sich in stetigem Austausch mit seinen italienischen und griechischen Amtskollegen und wirkt sowohl bilateral als auch auf europäischer Ebene auf die konsequente Einhaltung der europäischen Normen, insbesondere der sogenannten Dublin-III-VO, hin. Darüber hinaus unterstützt Deutschland Italien und Griechenland vor Ort durchgehend über die Entsendung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO). Aktuell (Stand 5. Februar 2018) sind aus Deutschland für EASO 36 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Griechenland und sieben in Italien im Einsatz. Auch dieses Engagement dient dazu sicherzustellen, dass die Vorgaben der sogenannten Dublin-III-VO eingehalten werden. 13. Haben Italien und/oder Griechenland jemals in Bezug auf die hohe Anzahl eingereister Drittstaatsangehöriger bei der Bundesregierung um Hilfe nachgesucht ? Falls ja, wie genau hat die Bundesregierung darauf reagiert, und welche konkrete Unterstützungsleistung wurde erbracht? Konkrete bilaterale Hilfeersuchen Italiens hinsichtlich der Aufnahme und Versorgung von Asylsuchenden sind der Bundesregierung nicht bekannt. Griechenland bat bilateral um materielle Unterstützung, im grenzpolizeilichen Bereich insbesondere um Ausstattungshilfe mit EURODAC-Geräten für die Hotspots. Im Jahr 2015 wurden 27 EURODAC-Geräte im Wert von etwa 370 000 Euro geliefert . Zudem stellte Griechenland Ende 2015 einen Antrag zum Frontex-Einsatz von 886 Polizeivollzugsbeamten. Darüber hinaus wird auf die Antwort zu Frage 12 verwiesen. Im Rahmen der Umverteilung von Asylantragstellern (Relocation) hat Deutschland Italien und Griechenland bislang mit der Aufnahme von 10 279 Personen entlastet (Stand: 5. Februar 2018), 4 908 davon aus Italien und 5 371 aus Griechenland . Die Bundesregierung unterstützt Griechenland außerdem bereits seit Mitte 2015 durch bilaterale Hilfsmaßnahmen, um die Anstrengungen Griechenlands und der EU bei der Bewältigung der Flüchtlingslage in Griechenland zu flankieren. Die Bundesregierung hat seitdem 14,9 Mio. Euro bereitgestellt. Für das Jahr 2018 sind 1,5 Mio. Euro vorgesehen. Schwerpunkte sind Hilfsangebote für besonders vulnerable Gruppen, psychosoziale Betreuung, Rechtsberatung und informelle Bildungsangebote. Die deutsche bilaterale Unterstützung umfasst auch konkrete Maßnahmen zur Winterhilfe, zum Beispiel die Finanzierung von 135 beheizten Containern in zwei Lagern in der Region um Thessaloniki. Dadurch wurden bis zu 800 zusätzliche winterfeste Unterkunftsplätze geschaffen. Darüber hinaus ist die Bundesregierung an den Unterstützungsleistungen der EU beteiligt. Die EU hat bislang über 1,3 Mrd. Euro für die Bewältigung der Flüchtlingskrise in Griechenland bereitgestellt. Der Gesamtbetrag für die nationalen Programme Griechenlands im Rahmen des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) und des Fonds für die innere Sicherheit (ISF) beläuft sich auf rd. 561 Mio. Euro für den Zeitraum 2014 bis 2020. Zudem ist seit dem Jahr 2015 eine substanzielle Soforthilfe aus dem AMIF und dem ISF in Höhe von rd. 380 Mio. Euro bereitgestellt worden, um Griechenland beim Ausbau seiner Aufnahmeeinrichtungen und seiner Kapazitäten für die Migrationssteuerung, die Bearbeitung von Asylanträgen und für das Grenzmanagement zu unterstützen (Stand: 10. Januar 2018). Davon 189 Mio. Euro unmittelbar an die griechischen Behörden (147 Mio. Euro ausgezahlt) und 191 Mio. Euro (133 Mio. Euro ausgezahlt ) an internationale Organisationen und EU-Behörden. Bis zum 10. Januar Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/883 – 8 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 2018 sind darüber hinaus rd. 440 Mio. Euro aus dem Instrument für die Bereitstellung von Soforthilfe innerhalb der EU an 15 humanitäre Partnerorganisationen vergeben worden. Zusätzlich hat die Kommission seit Anfang 2015 fast 189 Mio. Euro Soforthilfe für die italienischen Behörden sowie für in Italien tätige internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen zur Verfügung gestellt. Diese Mittel wurden zusätzlich zu den 626,4 Mio. Euro, die Italien bereits im Rahmen der nationalen Programme für den Zeitraum 2014 bis 2020 zugewiesen wurden, bereitgestellt (381,49 Mio. Euro aus dem AMIF und 252,76 Mio. Euro aus dem ISF). 14. Welche Schlüsse hat die Bundesregierung aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 23. Februar 2012 (22765/09) in Bezug auf die Situation der ans Mittelmehr grenzenden EU- Mitgliedstaaten, insbesondere Italien und Griechenland, gezogen? In der Rechtssache Hirsi v. Italien hat der EGMR mit seinem Urteil vom 23. Februar 2012 (die korrekte Beschwerdenummer lautet 27765/09) erstmals ausdrücklich entschieden, dass das aus Artikel 3 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention ) hergeleitete non-refoulement-Prinzip an Bord von Militärschiffen auf hoher See und damit extra-territorial Geltung hat. Das Urteil liegt auf der Linie der bisherigen EGMR-Rechtsprechung zur Ausübung von Hoheitsgewalt („continuous and exclusive de jure and de facto control“). Das Urteil bindet Italien als beklagten Staat unmittelbar. Es entfaltet aufgrund seiner grundsätzlichen Bedeutung darüber hinaus eine Orientierungswirkung für alle Vertragsstaaten der EMRK und damit auch für Griechenland und Deutschland. 15. Hat die Bundesregierung vor dem Jahr 2016 jemals Überlegungen dazu angestellt , wie sich die Zahlen der über die zentrale Mittelmeerroute einreisenden Flüchtlinge verändern könnten? Falls ja, welche Mitglieder der Bundesregierung wussten davon? Es wird auf die Antwort der Bundesregierung zu Frage 8 der Kleinen Anfrage der Fraktion der AfD auf Bundestagdrucksache 19/599 verwiesen. 16. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das Urteil des EGMR vom 23. Februar 2012 es generell unmöglich macht, Flüchtlinge in die Länder zurückzubringen, von denen aus sie aufgebrochen sind? Nein. Das Urteil in dem Verfahren Hirsi v. Italien hat eine extraterritoriale Geltung der EMRK nur unter bestimmten Voraussetzungen bejaht. Hiernach ist zu prüfen, ob Artikel 3 EMRK und Artikel 4 des 4. Zusatzprotokolls (Kollektivausweisungen ) einer Zurückverbringung von Flüchtlingen in den Staat, von dem sie aufgebrochen sind, entgegenstehen. 17. Sieht die Bundesregierung Bedarf, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) diesbezüglich zu ändern? Die Bundesregierung sieht keinen Änderungsbedarf. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 9 – Drucksache 19/883 18. Falls die Bundesregierung der Auffassung ist, dass eine Änderung der EMRK nicht in Frage kommt, würde sie Italien und Griechenland unterstützen , wenn diese die EMRK aussetzen wollten? Nein, darüber hinaus wird insbesondere hinsichtlich der Verpflichtungen aus Artikel 3 EMRK auf Artikel 15 Absatz 2 EMRK verwiesen. Eine „Aussetzung“ der völkerrechtlichen Verpflichtungen ist nach den Regelungen der EMRK nicht vorgesehen . Auch nach dem allgemeinen Völkerrecht käme lediglich eine Kündigung der EMRK durch einen Vertragsstaat in Betracht. Die Bundesregierung setzt sich für die Geltung und Anwendung der EMRK in allen Staaten des Europarats ein. 19. Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation in Griechenland und Italien bezüglich der dort durchgeführten Asylverfahren? Entsprechen diese rechtsstaatlichen Grundsätzen? Falls nicht, was hat die Bundesregierung dagegen unternommen? Die griechische und die italienische Regierung haben sich zu den geltenden internationalen Standards bekannt und räumen jedem einzelnen Schutzsuchenden die Möglichkeit ein, einen Asylantrag in Griechenland bzw. Italien zu stellen. Eine behördliche Entscheidung kann jeweils von unabhängigen Gerichten überprüft werden. Die Bundesregierung hat keine Hinweise darauf, dass die von den italienischen und griechischen Asylbehörden durchgeführten Asylverfahren nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 11 verwiesen. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333