Die Antwort wurde namens der Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit vom 4. April 2019 übermittelt. Die Drucksache enthält zusätzlich – in kleinerer Schrifttype – den Fragetext. Deutscher Bundestag Drucksache 19/9174 19. Wahlperiode 08.04.2019 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Rainer Kraft, Karsten Hilse, Marc Bernhard, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD – Drucksache 19/8621 – Festhalten am Atomausstieg V o r b e m e r k u n g d e r F r a g e s t e l l e r In der Bundesrepublik Deutschland wird seit fast 60 Jahren die Energiegewinnung aus Kernspaltung zur Stromerzeugung genutzt. Der Anteil am Strommix beträgt zurzeit ca. 12 Prozent (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/29295/ umfrage/anteil-der-atomenergie-an-der-stromerzeugung-in-deutschland). Dazu werden ausschließlich wassermoderierte Reaktoren eingesetzt, bei denen Kritikalitätsunfälle wie 1986 bei Tschernobyl physikalisch ausgeschlossen sind (www.kernenergie.de/kernenergie-wAssets/docs/service/623tschernobyl_2014.pdf). Einer Kernschmelze, wie 1979 im Kernkraftwerk Three Mile Island in den USA und 2011 im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi eingetreten, wird durch aktive Sicherheitsmechanismen und passive Partikelfilter im Falle einer notwendigen Druckentlastung begegnet (www.grs.de/content/deutsche-risikostudie-kernkraft werke-phase-b, vgl. S. 70, 474 f.). Sicherheitsstudien zu deutschen Kernkraftwerken bescheinigten diesen schon 1989 eine sehr kleine Eintrittswahrscheinlichkeit eines „schweren Unfalls “ (GRS-Studie, www.grs.de/content/deutsche-risikostudie-kernkraftwerkephase -b). Dabei ist zu beachten, dass ein schwerer Unfall nicht notwendigerweise eine Kernschmelze zur Folge hat und eine Kernschmelze nicht notwendigerweise den Austritt von Radioaktivität. So musste in Fukushima-Daiichi Radioaktivität nur wegen fehlender Filter in die Umgebung entlassen werden. Deutsche Kernkraftwerke sind seit den 90er Jahren mit solchen „Wallmann-Filtern“ ausgestattet (www.chemie-schule.de/KnowHow/Wallmann-Ventil). Seit Erscheinen der GRS-Studie dürfte sich die Situation nach Einschätzung der Fragesteller nochmals stark verbessert haben, da selbst kleinere Vorfälle in Kernkraftwerken genau dokumentiert und analysiert werden und auch die Ausgaben zur Reaktorsicherheitsforschung nicht unwesentlich sind (s. Bundestagsdrucksache 19/7824). Neben der Eintrittswahrscheinlichkeit spielt auch die Schadenshöhe eine Rolle. Doch auch hier zeigen seriöse Untersuchungen aus Sicht der Fragesteller, dass z. B. die Freisetzung von Radioaktivität in Fukushima-Daiichi kein einziges „Strahlenopfer“ zur Folge hatte, weder unter den Kraftwerksarbeitern, noch unter den Helfern, noch in der Bevölkerung. So stellte der Wissenschaftliche Aus- Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/9174 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode schuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) nach einem Review von 80 Publikationen 2013 fest, dass keine gesundheitlichen Schäden durch Strahlung zu beobachten und auch nicht zu erwarten sind (www.unscear.org/unscear/en/fukushima.html). Dies wurde in einer Aktualisierung 2017 nochmals bestätigt (www.unscear.org/docs/ publications/2017/UNSCEAR_WP_2017.pdf). Mit dem „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität“ vom 22. April 2002 wurde der sogenannte Atomausstieg von der damals rot-grünen Bundesregierung beschlossen. Dabei wurde aus Sicht der Fragesteller ohne erkennbaren Sachgrund eine gesamte Technologiesparte, de facto sogar grundlegend die Nutzung einer der vier elementaren Naturkräfte, pauschal unterbunden. Diese in § 1 Absatz 1 des Atomgesetzes (AtG) übernommene und bis heute beibehaltene Formulierung ignoriert dabei nach Ansicht der Fragesteller sämtliche o. a. Studien und ist überdies ungewöhnlich allgemein gehalten. Weder die zur Kernspaltung eingesetzte Technik noch die Sicherheitsstandards spielen in diesem Gesetz eine Rolle. So wird nicht einmal grob zwischen dem in Tschernobyl eingesetzten graphitmoderierten Typ RBMK und dem deutschen Leichtwasserreaktor unterschieden . Somit stellt sich nach Ansicht der Fragesteller verfassungsrechtlich die Frage, ob die derzeitige einfach-gesetzliche Rechtslage zum Atomausstieg mit den Grundrechten, insbesondere mit dem der Berufsfreiheit (Artikel 12 des Grundgesetzes – GG), der Eigentumsfreiheit (Artikel 14 GG), dem Willkürverbot (Artikel 3 Absatz 1 GG) und der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 GG) sowie mit dem umweltrechtlichen Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen (Artikel 20a GG) vereinbar ist. Zwar wird in diesem Zusammenhang oft auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Dezember 2016 verwiesen. Diese Entscheidung bezieht sich jedoch gerade nicht auf den Atomausstieg als solchen, sondern lediglich auf die Verfassungsmäßigkeit des Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 (BGBl. S. 1704). Überdies wird auch in dem Gerichtsurteil auf einen begutachteten Nachweis einer behaupteten Bedrohung durch die friedliche Nutzung der Kernenergie verzichtet. Der pauschale Atomausstieg steht aus Sicht der Fragesteller auch im Widerspruch zum BVerfG-Beschluss vom 8. August 1978 (2 BvL 8/77) zur Klage gegen den Bau des Kernkraftwerks vom Typ „Schneller Brüter“ in Kalkar (NJW 1979, 359). Dort heißt es im Leitsatz 6: Vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern , die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb möglicherweise entstehen können, hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen. Für die Gestaltung der Sozialordnung muss es insoweit bei Abschätzungen anhand praktischer Vernunft bewenden. Ungewissheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen. Eine „Abschätzung anhand praktischer Vernunft“ ist jedoch nach Ansicht der Fragesteller in der Entscheidung zum Atomausstieg nicht erkennbar. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 3 – Drucksache 19/9174 V o r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g Nach der Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1978 obliegt allein dem Gesetzgeber die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. August 1978 – 2 BvL 8/77, Zweiter Leitsatz). Auf Grundlage der seit Beginn der Nutzung der Kernenergie zur Elektrizitätserzeugung weltweit gewonnenen Erkenntnisse unternahm der Gesetzgeber im Jahre 2002 eine Neubewertung der mit der Kernenergie verbundenen Risiken. Mit dem Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität vom 22. April 2002 (BGBl. I S. 1351) beschloss der Gesetzgeber, die friedliche Nutzung der Kernenergie nur noch für einen begrenzten Zeitraum zuzulassen. An der Grundsatzentscheidung des Atomgesetzes aus dem Jahre 1959 zu Gunsten der Kernenergie hielt der Gesetzgeber nicht länger fest. Im März 2011 ereignete sich der Reaktorunfall von Fukushima. Im Lichte dessen beschloss der Gesetzgeber mit dem Dreizehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 (BGBl. I S. 1704) unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Reaktor-Sicherheitskommission und der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ sowie des absoluten Vorrangs der nuklearen Sicherheit, die Nutzung der Kernenergie zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden. Zu diesem Zweck wurden die Berechtigungen zum Leistungsbetrieb der Atomkraftwerke auf den noch erforderlichen Zeitraum zeitlich gestaffelt bis zum 31. Dezember 2022 befristet. Damit gilt in Deutschland ein festes Enddatum für die friedliche Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität. Mit Urteil vom 6. Dezember 2016 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes mit dem Ziel der frühestmöglichen Beendigung der Nutzung der Kernenergie weitgehend im Einklang mit dem Grundgesetz steht (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 6. Dezember 2016 – 2 BvR 2821/11 u. a., Erster Leitsatz). Insbesondere hat der Gesetzgeber auch ohne neue Gefährdungserkenntnisse den Reaktorunfall in Fukushima als Anlass nehmen dürfen, zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt den Ausstieg aus der Kernenergie zu beschleunigen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 6. Dezember 2016 – 2 BvR 2821/11 u. a., Sechster Leitsatz). 1. Welche Reaktorsicherheitsstudien oder vergleichbaren begutachteten Dokumente technisch-wissenschaftlicher Organisationen liegen der Bundesregierung vor, die eine Stromgewinnung durch Kernspaltung allgemein und speziell durch die in Deutschland eingesetzten Leistungsreaktoren als – verglichen mit der sonstigen Industrie – besonders risikobehaftet ansehen? 2. Welche begutachteten wissenschaftlichen Publikationen liegen der Bundesregierung vor, die – entgegen den Ergebnissen der UNSCEAR-Studie zu Fukushima – im Schadensfall eines Kernreaktors, verglichen z. B. mit Chemieanlagen , eine hohe gesundheitliche Beeinträchtigung der Bevölkerung erwarten lassen, insbesondere bei deutschen Kernkraftwerken? 3. Aus welchen genauen Gründen hält die Bundesregierung den in § 1 des Atomgesetzes beschriebenen pauschalen Eingriff in die Grundrechte aus Artikel 2 Absatz 1, Artikel 3 Absatz 1, Artikel 12 und Artikel 14 des Grundgesetzes ohne Rücksicht auf Reaktortyp und technischen Entwicklungsstand für verhältnismäßig und somit verfassungsrechtlich gerechtfertigt? Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Drucksache 19/9174 – 4 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode 4. Sieht die Bundesregierung den Atomausstieg in Einklang mit dem Beschluss des BVerfG vom 8. August 1978 (2 BvL 8/77), insbesondere Leitsatz 6? 5. Warum soll das pauschale Verbot mit dem umweltrechtlichen Staatsziel aus Artikel 20a GG vereinbar sein? Die Fragen 1 bis 5 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet . Wie in der Vorbemerkung ausgeführt, obliegt nach der Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1978 allein dem Gesetzgeber die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 6. Dezember 2016 entschieden, dass der Gesetzgeber auch ohne neue Gefährdungserkenntnisse den Reaktorunfall in Fukushima als Anlass hat nehmen dürfen, zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt den Ausstieg aus der Kernenergie zu beschleunigen. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus: „Das Ziel des Gesetzgebers, das mit der Kernenergienutzung unvermeidbar in Kauf zu nehmende Restrisiko möglichst schnell und möglichst weitgehend zu beseitigen, ist – auch wenn es allein auf einer politischen Neubewertung der Bereitschaft zur Hinnahme dieses Restrisikos beruhen sollte – von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die vom Gesetzgeber innerhalb seines weiten Spielraums bei der Auswahl von ihm verfolgter Gemeinwohlziele […] angestrebte Beschleunigung des Atomausstiegs dient im Gegenteil dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) und der in Artikel 20a GG dem Staat auferlegten Aufgabe, die natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen zu schützen“ (vgl. Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 6. Dezember 2016 – 2 BvR 2821/11 u. a. – Randnummer 283). 6. Teilt die Bundesregierung die Rechtsauffassung, dass nach dem Stand des Atomgesetzes nach wie vor ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Betriebsgenehmigung für neue Kernreaktoren besteht, sofern sie nicht zur gewerblichen Elektrizitätserzeugung eingesetzt werden? Die Erteilung atomrechtlicher Genehmigungen bestimmt sich nach den Vorschriften des Atomgesetzes. Gemäß § 7 Absatz 1 Satz 2 des Atomgesetzes werden für die Errichtung und den Betrieb von Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität keine Genehmigungen erteilt. 7. Warum initiiert die Regierung nicht einen Gesetzgebungsvorschlag des Inhalts , dass das Atomausstiegsgesetz durch Veränderung seines Wortlauts auf die bisher ausschließlich im Betrieb befindlichen Reaktoren vom Typ „Leichtwasserreaktor“ beschränkt wird? Das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes hat das Ziel der frühestmöglichen Beendigung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Zu diesem Zweck wurden auf Grund von § 7 Absatz 1a Satz 1 des Atomgesetzes die Berechtigungen zum Leistungsbetrieb der Atomkraftwerke Biblis A, Neckarwestheim 1, Biblis B, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser, Philippsburg 1, Krümmel, Grafenrheinfeld , Gundremmingen B, Philippsburg 2, Grohnde, Gundremmingen C, Brokdorf, Isar 2, Emsland, Neckarwestheim 2 auf den noch erforderlichen Zeitraum zeitlich gestaffelt bis zum 31. Dezember 2022 befristet. Eine Änderung des Wortlauts ist hinsichtlich des Regelungsziels des Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes weder zielführend noch geboten. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 5 – Drucksache 19/9174 8. Hält die Bundesregierung eine Erstreckung des Atomausstieges auch auf alle zukünftigen, eventuell noch deutlich sichereren Bauarten von Kernkraftwerken für sinnvoll, und wenn ja, warum? 9. Unter welchen Bedingungen würde die Bundesregierung in Zukunft nicht mehr an der allgemeinen Begrenzung der durch Kernspaltung erzeugten Elektrizitätsmenge, wie in § 1 AtG festgelegt, und somit am Atomausstieg festhalten? Die Fragen 8 und 9 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet . Wie bereits ausgeführt, erlaubt die geltende Rechtslage keine Erteilung von Genehmigungen für die Errichtung und den Betrieb von Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität. Zugleich ist gesetzlich vorgesehen, dass spätestens am 31. Dezember 2022 die friedliche Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität in Deutschland endet. Vorabfassung - w ird durch die lektorierte Version ersetzt. Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333