BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/10574 21. Wahlperiode 13.10.17 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Dennis Gladiator (CDU) vom 05.10.17 und Antwort des Senats Betr.: Gesetzeskonforme Errichtung von Windenergieanlagen Anwohner sorgen sich vor dem Einfluss von Windenergieanlagen auf ihr Wohlbefinden. Schall, Schattenschlag, Nachtbefeuerung und Brandgefahr liefern immer wieder die Grundlage für Diskussionen über die Abstände zwischen den Windparks und der nächsten Wohnbebauung. Sobald der Schall bestehende Grenzwerte übersteigt, müssen wie bei allen Industrieanlagen lärmmindernde Maßnahmen getroffen werden. Messungen im laufenden Betrieb sind jedoch aufgrund weiterer Lärmquellen oft schwierig. Deshalb werden der Schall und dessen Ausbreitung vorher durch Prognosen ermittelt. Das Standardmodell dafür ist die DIN ISO 9613-2, die jedoch von bodennahen Schallquellen mit einer mittleren Höhe von maximal 30 m ausgeht. Bei einer Nabenhöhe der Windenergieanlagen von 140 m und mehr werden aber im tatsächlichen Betrieb deutlich höhere Schallimmissionen festgestellt, die zu erheblichen Belastungen für Anwohner führen. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: 1. Ist das Berechnungsmodell nach DIN ISO 9613-2 aussagekräftig genug, um valide Prognosen in Hinblick auf die Schallemissionen von Windenergieanlagen zu treffen? Die für die Beurteilung zum Schutz gegen schädliche Umwelteinwirkungen durch Geräusche für Anlagen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG) maßgebliche „Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm“ verweist im Anhang A.2.2 für die Schallausbreitungsrechnung auf die Regelungen der DIN ISO 9613-2, Entwurf Ausgabe September 1997. Diese Norm gilt für die Berechnung der Schallausbreitung bei bodennahen Quellen (bis 30 m mittlere Höhe zwischen Quelle und Empfänger, siehe Kapitel 9, Tabelle 5 der DIN ISO 9613-2). Bei Schallquellenhöhen , wie sie bei Windkraftanlagen (WKA) heute vorherrschen (> 100 m), werden im Ergebnis nationaler und internationaler Untersuchungen zunehmend Zweifel an der Prognosequalität geäußert. 2. Ist es aus Sicht des Senats beziehungsweise der zuständigen Behörde notwendig, die Berechnungsmodelle, welche im Rahmen der Genehmigungsverfahren für Windenergieanlagen unterstellt werden, an die technischen Veränderungen im Bereich der Windkraftanlagen, insbesondere in Bezug auf steigende Leistungsfähigkeit und Höhe, anzupassen, und wenn ja, in welcher Form? Wenn nein, weshalb nicht? Vergleichende Messungen und Berechnungen an hochliegenden Schallquellen führten zu dem Ergebnis, dass bei größeren Quellhöhen der Einfluss des Bodeneffektes bei der Dämpfung des Schalls überschätzt wird. Zur Anpassung des Prognoseverfah- Drucksache 21/10574 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 rens auf hochliegende Quellen hat der Normenausschuss Akustik, Lärmminderung und Schwingungstechnik (NALS) auf Basis neuerer Untersuchungsergebnisse und auf Basis theoretischer Berechnungen ein Interimsverfahren („Dokumentation zur Schallausbreitung – Interimsverfahren zur Prognose der Geräuschimmissionen von WKA, Fassung 2015-05.1“) veröffentlicht. Die von der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI) überarbeiteten und auf der 134. Sitzung am 05./06. September 2017 den Ländern zur Anwendung empfohlenen „Hinweise zum Schallimmissionsschutz bei WKA“ mit Stand vom 30. Juni 2016 stellen für die Schallausbreitung von WKA auf die Anwendung des Interimsverfahrens ab. Wie der Name „Interimsverfahren “ bereits induziert, bestimmen die überarbeiteten LAI-Hinweise den gegenwärtigen Stand der Geräuschbeurteilung von WKA. Wegen der großen Komplexität sind zukünftig weitere Untersuchungen und Fortschritte im Verständnis und der Modellierung der Geräuschentstehung und -ausbreitung von WKA erforderlich. 3. Gegen welche Standorte beziehungsweise Windenergieanlagen wurden konkret Beschwerden von Bürgern wegen zu hoher Schallbelastungen vorgebracht? Am Standort Francop gingen seit Inbetriebnahme einer neu errichteten WKA im Juni 2014 Beschwerden von Anwohnern ein. Seit Inbetriebnahme der ersten beiden neu errichteten WKA am Standort Neuengamme im März 2015 liegen bis zur heutigen Ausbaustufe der Windfarm einige Beschwerden von Anwohnern vor. Am Standort Altengamme ging in 2012 eine Beschwerde ein. 4. An welchen Standorten von Windenergieanlagen wurden durch Behörden Schallmessungen durchgeführt und welche Ergebnisse haben diese Messungen jeweils konkret ergeben? 5. Wurden neben Schallmessungen am Tage auch in den Nachtstunden, in denen geringere Grenzwerte im Bereich der Wohnbebauung einzuhalten sind, Messungen durchgeführt? In den immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsbescheiden von WKA sind in der Regel Auflagen verfügt, welche den Betreiber verpflichten, nach Errichtung der Anlagen Geräuschmessungen durch nach dem BImSchG anerkannte Messstellen durchführen zu lassen. Solche Messungen werden daher im Regelfall nicht von den Behörden durchgeführt. Geräuschmessungen durch die zuständige Behörde selbst werden unter anderem im Vorfeld von Anordnungen von Geräuschmessungen aus besonderem Anlass nach § 26 BImSchG (in der Regel im Beschwerdefall bei ausreichendem Anfangsverdacht von Lärmproblemen) durchgeführt. So wurden Messungen tieffrequenter Geräusche nach Nummer A.1.5 TA Lärm und DIN 45680 bei einem Beschwerdeführer im Umfeld der WKA Neuengamme-West durchgeführt, die jedoch keine Überschreitungen der Anhaltswerte nach Beiblatt 1 der DIN 45680 ergaben. Diese Messungen wurden kürzlich bei anderen Witterungsbedingungen wiederholt, die Auswertungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen. Die Messungen wurden wegen der geringeren Fremdgeräuschbelastung vorwiegend zur Nachtzeit durchgeführt. Maßgebend zur Beurteilung, ob von den WKA schädliche Umwelteinwirkungen durch tieffrequente Geräusche ausgehen, ist die Einhaltung der Anhaltswerte nach Beiblatt 1 zur DIN 45680 für die Nachtstunden. 6. Sind dem Senat beziehungsweise der zuständigen Behörde Fälle bekannt, in denen rechtlich definierte Lärmgrenzen durch Windenergieanlagen überschritten wurden, und wenn ja, wo und wie wurde mit diesen Anlagen weiter verfahren? Im Rahmen der Genehmigungsverfahren nach BImSchG werden zur Beurteilung, ob durch die WKA schädliche Umwelteinwirkungen durch Geräusche hervorgerufen werden , in der Regel Geräuschprognosegutachten erstellt. Sollten diese ergeben, dass die Gesamtbelastung eines Immissionsortes mit Geräuschimmissionen von allen Anlagen, für die die TA Lärm gilt, die geltenden Immissionsrichtwerte nach Nummer 6 TA Lärm überschreitet, werden in den immissionsschutzrechtlichen Nebenbestimmungen zur Genehmigung Auflagen zum schallmindernden Betrieb der WKA insbe- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/10574 3 sondere zur Nachtzeit verfügt. Damit wird sichergestellt, dass von den WKA gemäß § 5 BImSchG keine schädlichen Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile oder Belästigungen durch Geräusche für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft hervorgerufen werden. Insbesondere ist dies der Fall, wenn der Abstand zu maßgeblichen Immissionsorten gering ist, die einzuhaltenden Immissionsrichtwerte niedrig sind oder auch viele Anlagen auf die nachbarschaftliche Wohnbebauung einwirken. Der schallreduzierte Betrieb der WKA wird durch Aufzeichnung der Betriebsparameter fortlaufend protokolliert. 7. Baugleiche Windkraftanlagen wie in Neuengamme werden andernorts (zum Beispiel 48621 Schöppingen BOR 07) trotz größerer Abstände zu den dort befindlichen Wohnhäusern nachts vorsorglich schallreduziert betrieben. Warum verfährt man zum Schutz der betroffenen Bürger bis zur endgültigen DIN-Abklärung des sogenannten Interimsverfahren bezüglich der Schallausbreitung bei den neuen Windkraftanlagen, die doppelt so hoch und vielfach stärker sind, nicht auch in Hamburg gleichermaßen vorsorglich? Ob ein schallreduzierter Betrieb der WKA notwendig ist, ergibt sich aus dem Ergebnis der erstellten Geräuschprognosegutachten, siehe dazu auch Antwort zu 6. Die Überschreitung der Immissionsrichtwerte nach Nummer 6 TA Lärm (und damit die Notwendigkeit eines schallmindernden Betriebes der WKA) ist dabei unter anderem von der konkreten Art und Lage der zu genehmigenden Anlagen, der Vorbelastung durch andere Anlagen, den konkreten Ausbreitungsbedingungen (Orografie und Topografie) und der Schutzwürdigkeit (einzuhaltende Immissionsrichtwerte) der umgebenden Nachbarschaft abhängig und ist nicht pauschal übertragbar.