BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/10660 21. Wahlperiode 20.10.17 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Richard Seelmaecker (CDU) vom 12.10.17 und Antwort des Senats Betr.: Überlastung der Justiz – Freilassung eines verurteilten Totschlägers – Überlastung des Landgerichts und unzumutbare Verfahrensverzögerungen Nachdem es bereits im Jahre 2015 zu überlastungsbedingten Entlassungen erstinstanzlich verurteilter Totschläger kam, ordnete das Hanseatische Oberlandesgericht nun erneut die Freilassung eines erstinstanzlich wegen Totschlags verurteilten 51-Jährigen an. Die Fortdauer der Untersuchungshaft sei aufgrund erheblicher Verzögerungen im bisherigen Verfahren unverhältnismäßig . Die 25 Verhandlungstage des Prozesses seien nach Auffassung des OLG nicht so terminiert worden, wie es für ein zügiges Verfahren erforderlich wäre, zudem sei an manchen Tagen nur kurz verhandelt worden. Insbesondere von Januar bis zur Urteilsverkündigung im Juni habe oft weniger als einmal pro Woche ein Verhandlungstermin stattgefunden, was sonst als Minimum angesehen wird. Für die Hinterbliebenen des Opfers ist dies ein Schlag ins Gesicht. Für den Rechtsstaat ist es ein Zeichen nicht hinzunehmenden Versagens. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die zuständige Behörde verfolgt das Ziel einer nachhaltigen Entlastung der Justiz und arbeitet kontinuierlich an der Verbesserung der Personalsituation. Insgesamt wurden die Gerichte und die Staatsanwaltschaft seit dem Jahr 2015 um 123 Stellen verstärkt. Die zuständige Behörde befindet sich fortlaufend in Gesprächen mit dem Landgericht zur Erörterung der personellen Entwicklung. Bereits im Oktober 2015 hat die zuständige Behörde die nötigen Ressourcen für die Einrichtung einer zusätzlichen Strafkammer beim Landgericht bereitgestellt. In diesem Jahr erhält das Landgericht acht Stellen für Richterinnen und Richter zusätzlich. Dadurch konnte zum 1. August 2017 bereits eine weitere Strafkammer beim Landgericht eingerichtet werden. Mit den bereitgestellten Stellen ist darüber hinaus die Einrichtung von bis zu drei weiteren Kammern möglich. Vor dem Hintergrund des aktuellen Beschlusses des 2. Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts prüft die zuständige Behörde gemeinsam mit dem Landgericht im Übrigen mögliche Konsequenzen, wobei auch Fragen des Personalbedarfs und der Organisationsentwicklung erneut in den Blick genommen werden. Die Gerichte stehen bei der Prozessführung zunehmend vor höheren Anforderungen. Deshalb setzt sich die zuständige Behörde gleichzeitig für die Weiterentwicklung der gesetzlichen Rahmenbedingungen ein. Am 24. August 2017 ist das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens (BGBl. Teil I Nummer 58, S. 3202 fortfolgende) in Kraft getreten. Neben Änderungen im Ermittlungsund Rechtsmittelverfahren enthält das Gesetz auch Änderungen, die das Hauptverfahren und damit die Hauptverhandlung vor Gericht effizienter machen und so die Drucksache 21/10660 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Strafgerichte entlasten sollen. Unter anderem sind Erleichterungen für die Praxis in folgenden Bereichen vorgenommen worden: §§ 26 fortfolgende StPO: Umgang mit Befangenheitsanträgen; § 244 Absatz 6 StPO: Umgang mit Beweisanträge nach Abschluss der Beweisaufnahme sowie §§ 251, 254, 256 StPO: Erweiterte Möglichkeit der Verlesung von Protokollen und ärztlichen Attesten, Möglichkeit der Vorführung von Bild-Ton-Aufzeichnungen. Hamburg hat diese Regelungen im Gesetzgebungsvorhaben unterstützt. Schließlich setzt sich der Präses der zuständigen Behörde auf allen Ebenen für die praxisgerechte Weiterentwicklung des Strafverfahrens ein, bei der auch die Opferinteressen im Blick zu behalten sind. Im Übrigen wird sich Hamburg im Rahmen der anstehenden Justizministerkonferenz am 9. November 2017 auf der Grundlage eines gemeinsam mit Niedersachsen eingebrachten Beschlussvorschlages dafür einsetzen, dass die Justizministerinnen und Justizminister sich mit den Ergebnissen des zweiten bundesweiten Strafkammertages vom 26. September 2017 befassen . Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz soll aufgefordert werden, den begonnenen Reformprozess die in enger Abstimmung mit den Ländern fortzusetzen. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie stellt sich der Sachverhalt konkret dar? Die maßgeblichen strafprozessualen Abläufe stellen sich wie folgt dar: Im Verfahren 2 Ws 161/17 = 602 Ks 9/16 = 6610 Js 43/16 wurde der Angeklagte am 12. Mai 2016 festgenommen, am 13. Mai 2016 wurde gegen ihn vom Amtsgericht Hamburg Haftbefehl wegen des Verdachts des Totschlags erlassen. Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat am 4. August 2016 Anklage zur Großen Strafkammer – Schwurgericht – erhoben, am 12. September eröffnete die Große Strafkammer 2 das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung fand sodann in der Zeit vom 26. Oktober 2016 bis zum 13. Juni 2017 an 25 Tagen statt (siehe dazu Antwort zu 2.). Am 13. Juni 2017 wurde der Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Der Angeklagte hat gegen das Urteil das Rechtsmittel der Revision zum Bundesgerichtshof und mit einem am 27. September 2017 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz Haftbeschwerde eingelegt. Die Kammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen, sodass die Sache über die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, die auf Verwerfung der Beschwerde und Fortdauer der Untersuchungshaft angetragen hat, dem Hanseatischen Oberlandesgericht (HansOLG) zugeleitet wurde. Der 2. Senat des HansOLG beschloss schließlich mit Datum vom 6. Oktober 2017 die Aufhebung des Haftbefehls, da sich die Fortdauer der Untersuchungshaft aufgrund eines Verstoßes gegen das Gebot besonders beschleunigter Verfahrensführung in Haftsachen als unverhältnismäßig erweise. Der Senat hat zur Begründung ausgeführt, dass das Verfahren bis zum Ende der ursprünglich als ausreichend erachteten 13 Hauptverhandlungstermine bis zum 19. Januar 2017 von Staatsanwaltschaft und Landgericht ausreichend bis zügig gefördert wurde. Zu erheblichen und vermeidbaren Verzögerungen sei es sodann im weiteren Verlauf des Prozesses gekommen. Das HansOLG hat im Rahmen seiner Bewertung der Abläufe nach dem 19. Januar 2017 in den Blick genommen, dass - längere Urlaube der Verteidigung (sieben Wochen Urlaub innerhalb eines halben Jahres) und der Kammer zu berücksichtigen waren, - Vorschläge der Kammer für eine engere Terminierung vielfach an Terminkollisionen der Verteidigung scheiterte, die Bestellung eines (weiteren) Verteidigers jedoch nicht erfolgte, - das Hauptverhandlungsprotokoll erst am 14. September und damit etwa zwei Wochen nach Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe fertiggestellt wurde, - die Strafkammer während dieses Zeitraums in bis zu vier weiteren Verfahren mit vollzogener Untersuchungshaft verhandelte. 2. Wann haben die 25 Verhandlungstage konkret stattgefunden? Die Hauptverhandlung fand an folgenden 25 Tagen statt: am 26. Oktober 2016, am 9., 25. und 28. November 2016, am 1., 8, 15. und 22. Dezember 2016, am 9., 11., 12., Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/10660 3 17., 19. und 23. Januar 2017, am 7. und 15. Februar 2017, am 8. und 20. März 2017, am 6. April 2017, am 4., 10., 11. und 29. Mai 2017 sowie am 7. und 13. Juni 2017. 3. Wie hat sich Anzahl der großen Strafkammern am Landgericht Hamburg seit 2015 entwickelt? Die Entwicklung der Strafkammern stellt sich wie folgt dar, wobei die Organisation der Kammern eine Frage der Geschäftsverteilung ist, die im Rahmen der grundgesetzlich garantierten Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern in der Verantwortung des Präsidiums liegt: Zum 1. Januar 2015 gab es 29 Große Strafkammern (einschließlich vier Strafvollstreckungskammern , einer Wohnraumüberwachungskammer und zwei jeweils personenidentischen Kammern (Große Strafkammern 2/14 sowie Große Strafkammern 12/18)). Zum 1. August 2015 hat das Präsidium diese Zahl auf 28 Große Strafkammern reduziert , da die Große Strafkammer 4 zugunsten der neu eingerichteten Zivilkammer 5 aufgelöst wurde. Zum 1. Januar 2016 bestanden nach Einrichtung der Großen Strafkammern 10 und 15 (in identischer Besetzung zu je ½) wieder 29 Große Strafkammern . Seit dem 1. August 2017 schließlich sind nach Neueinrichtung der Großen Strafkammer 4 insgesamt 30 Große Strafkammern beim Landgericht tätig. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 4. Wie hat sich die Anzahl der diesen Strafkammern angehörenden Berufsrichter seit 2015 entwickelt? Stichtag Anzahl der Richterinnen und Richter 31. Dezember 2015 85 31. Dezember 2016 88 30. September 2017 90 5. Wie viele Große Strafkammern nehmen gegenwärtig am Turnus der Haftsachen teil? Zum Stichtag 17. Oktober 2017 verteilt sich die Teilnahme am Turnus der Haftsachen bei neu eingehenden Verfahren wie folgt: - Schwurgerichtssachen: vier Kammern (alle eingeschränkt); - Jugendschutzsachen: drei Kammern (alle eingeschränkt); - Wirtschaftsstrafsachen: vier Kammern (davon eine Kammer eingeschränkt); - Allgemeine Strafsachen: zwölf Kammern (davon zehn Kammern eingeschränkt). Der Hinweis auf Einschränkungen bedeutet, dass einige Kammern – situationsbezogen auf die jeweils in der Kammer vorherrschende Belastungssituation und abhängig von der für den jeweiligen Neueingang geltenden Frist gemäß § 121 StPO – aus dem Turnus herausgenommen werden. 6. In wie vielen Haftsachen konnte seit Beginn des Jahres die Frist des § 121 StPO nicht eingehalten werden? Fälle, in denen in Haftsachen die Hauptverhandlung nicht binnen sechs Monaten begonnen hat (§ 121 Absatz 1 i.V.m. Absatz 3 Satz 2 StPO), werden statistisch nicht erfasst. Verlässliche Angaben können daher zu dieser Frage nicht gemacht werden. Eine absehbare Überschreitung der Sechsmonats-Frist (bis zum Beginn der Hauptverhandlung ) führt zunächst nur zu einer gesetzlich vorgesehenen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht. Dabei überprüft das Gericht das Verfahren nicht nur auf unzulässige Verfahrensverzögerungen, sondern nimmt eine vollständige Prüfung der Voraussetzungen für den Erlass und das Fortbestehen des Haftbefehls vor. Eine Aufhebung wegen Fristüberschreitung erfolgt nur, wenn das Oberlandesgericht feststellt, dass das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft oder das zuständige Gericht – wegen Überlastung oder aus anderen Gründen – nicht angemessen gefördert worden ist. Von den wenigen berichteten Verfahren hat in einem Fall das HansOLG im Jahr 2017 einen Haftbefehl im Rahmen einer Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO wegen ver- Drucksache 21/10660 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 meidbarer Verfahrensverzögerungen aufgehoben. Die zur Aufhebung des Haftbefehls führenden Gründe lagen nicht in einer unzureichenden personellen Ausstattung der Justiz, sondern waren atypischen Verfahrensbesonderheiten geschuldet. Aus den vorliegenden Mitteilungen der Gerichte ergibt sich ferner, dass das HansOLG in einem Fall von einer Entscheidung wegen nur geringfügiger Fristüberschreitung abgesehen hat, in einem weiteren Fall hat es die Haftfortdauer bestätigt. 7. In wie vielen weiteren Haftsachen wurden seit Beginn des Jahres Haftbefehle außer Vollzug gesetzt, weil die Verfahrensdauer vermeidbar verzögert wurde? Die Außervollzugsetzung von Haftbefehlen auf Grund von vermeidbaren Verfahrensverzögerungen wird ebenfalls statistisch nicht erfasst. Nach den vorliegenden Erkenntnissen wurde von Strafkammern des Landgerichts in einem weiteren Fall wegen der eingetretenen Verzögerung ein Haftbefehl aufgehoben und ein weiterer Haftbefehl außer Vollzug gesetzt. 8. Wie viele unterjährige Veränderungen wurden seit Beginn des Jahres im Geschäftsverteilungsplan bezüglich der Großen Strafkammern (ohne Änderungen der personellen Besetzung) vorgenommen (zum Beispiel zur Beseitigung von festgestellten Überlastungen? Es wurden insgesamt 80 Veränderungen in Bezug auf Rz. 537 des Geschäftsverteilungsplans vorgenommen, welche die Verteilung von Schwurgerichtssachen, Jugendschutzsachen , Wirtschaftsstrafsachen, allgemeinen Strafsachen, allgemeinen Haftsachen sowie allgemeinen Jugendsachen regelt. 9. Die Pressesprecherin der Justizbehörde erklärte gegenüber dem „Hamburger Abendblatt“ (12. Oktober 2017), dass die Gerichte bei der Prozessführung zunehmend vor höheren Anforderungen stehen: „Hier haben wir auf Bundesebene bereits Vereinfachungen erreicht. Weitere nötige Veränderungen werde Justizsenator Till Steffen in den anstehenden Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition ansprechen.“ a. Welche Vereinfachungen wurden auf Bundesebene konkret erreicht? b. Zu welchen Entlastungen haben diese geführt? c. Welche weiteren nötigen Veränderungen will der Senator in den anstehenden Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition ansprechen ? Angesichts der Kürze der Zeit seit Inkrafttreten des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens liegen hierzu noch keine Erkenntnisse vor. Im Übrigen siehe Vorbemerkung.