BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/11012 21. Wahlperiode 24.11.17 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Carl-Edgar Jarchow (FDP) vom 16.11.17 und Antwort des Senats Betr.: Haftungsrisiken für die Freie und Hansestadt Hamburg durch mögliche Kunstfehler im Rettungsdienst durch jahrelange Nichtaufrüstung der Krankenwagen mit Amiodaron entgegen dem Stand der Notfallmedizin Dem § 20 Absatz 1 des Hamburgischen Rettungsdienstgesetzes (HmbRDG) lässt sich entnehmen, dass für die Notfallrettung und den Krankentransport Krankenkraftwagen einzusetzen sind. Dem Absatz 2 lässt sich des Weiteren entnehmen, dass Krankenkraftwagen sowie ihre Ausstattung, Ausrüstung und Wartung den allgemein anerkannten Regeln der Technik und dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen müssen. Dabei darf gemäß Absatz 3 die Notfallrettung nur mit Krankenkraftwagen durchgeführt werden, die für diese Einsatzart entsprechend dem Stand der Notfallmedizin ausgestattet sind. In der Begründung zum HmbRDG in der Bürgerschafts-Drs. 14/300 vom 19.09.1991 führte der Gesetzgeber in der besonderen Begründung zu § 20 explizit aus: „Die für die Krankenkraftwagen in Absatz 2 gestellten Anforderungen ergeben sich im einzelnen insbesondere aus den einschlägigen DIN-Vorschriften .“ Daher frage ich den Senat: Die Freie und Hansestadt Hamburg ist gemäß § 7 Satz 1 Hamburger Rettungsdienstgesetz (HmbRDG) zur Sicherstellung eines flächendeckenden, bedarfs- und fachgerechten Rettungsdienstes verpflichtet. Diese Aufgabe wird in Hamburg durch die Feuerwehr , unter Einbeziehung der Hilfsorganisationen und in Abstimmung mit den Kostenträgern , wahrgenommen. Durch ein strukturiertes Abfragesystem in der Rettungsleitstelle der Feuerwehr erfolgt eine gezielte und anforderungsorientierte Alarmierung von Rettungswagen (RTW) und arztbesetzten Rettungsmitteln. Vor dem Hintergrund dieses abgestimmten Zusammenwirkens ergeben sich in der Großstadt Hamburg andere Ausstattungserfordernisse an die RTW als in ländlichen Bereichen mit längeren Anfahrtswegen der arztbesetzten Einsatzmittel. Die Ausstattung der RTW und arztbesetzten Rettungsmittel der Feuerwehr Hamburg bildet konzeptionell eine Einheit und entspricht somit dem Stand der Notfallmedizin. Durch das Rendezvous-System von Rettungswagen und arztbesetztem Rettungsmittel stehen alle nach DIN EN 1789:2014-12 geforderten medizinischen Geräte – unabhängig von deren Transportmittel – für die Versorgung von Notfallpatienten zeitnah zur Verfügung. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: Drucksache 21/11012 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 1. Entsprechen die durch die Freie und Hansestadt Hamburg im Rettungsdienst eingesetzten RTW in allen erfolgten Einsatzfällen dem Stand der Technik entsprechend der einschlägigen DIN EN 1789 insbesondere hinsichtlich der Ausstattung von RTW „Typ C“ mit externem Herzschrittmacher , Thoraxdrainage, 12-Kanal-EKG, zentralem Venenzugang und (teilweise entfernt) Kapnometern? Die RTW sind mit allen für die Patientenversorgung im Rettungsdienst regelmäßig erforderlichen Geräten, Medikamenten und Materialien ausgestattet. Geräte, Medikamente und Materialien, die durch die Besatzung eines RTW nur in sehr seltenen Fällen zum Einsatz kommen können, werden auf den arztbesetzten Rettungsmitteln mitgeführt . Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 2. Als Stand der Notfallmedizin ist des Weiteren in den Leitlinien des ERC (European Resuscitation Council) seit 2010 die Verabreichung von Amiodaron verpflichtend bei Reanimation nach der dritten Defibrillation zu geben. Seit wann wird Amiodaron auf den notfallmedizinisch eingesetzen Krankenkraftwagen im Sinne des HmbRDG ständig vorgehalten und wenn nein, warum erfolgte dieses bis dato nicht? Ergibt die standardisierte Dispositionsabfrage in der Rettungsleitstelle einen Notfall mit einer nicht ansprechbaren Person, werden gleichzeitig ein RTW und ein arztbesetztes Rettungsmittel alarmiert. Auf den arztbesetzten Rettungsmitteln wird Amiodaron vorgehalten und kann bedarfsgerecht im Notfall genutzt werden. Im Rahmen der Umsetzung des Notfallsanitätergesetzes wird auch die Ausstattung der RTW der Feuerwehr Hamburg ständig angepasst und erweitert. Derzeit wird die RTW-Ausstattung mit Amiodaron umgesetzt. Bis zur 50. Kalenderwoche sollen alle RTW der Feuerwehr Hamburg mit diesem Medikament ausgestattet sein. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 3. Bei wie vielen Rettungsdiensteinsätzen seit 2010 wäre entsprechend dem Stand der Technik gemäß ERC (European Resuscitation Council) – Leitlinie bei Reanimationen Amiodaron zu verabreichen gewesen und in wie vielen Fällen konnte dieses mangels Vorhaltung auf dem eingesetzten Krankenkraftwagen nicht erfolgen? In wie vielen Fälle von Reanimationen seit 2010 wäre ein Verabreichung von Amiodaron nach Stand der Notfallmedizin potenziell erforderlich gewesen und das Fehlen des Wirkstoffes in der Ausstattung der eingesetzten Krankenkraftwagen somit für die erfolgte notfallmedizinische Behandlung zumindest mittelbar relevant ? Wie viele Todesfälle und bleibende Gesundheitsschäden nach erfolgten Reanimationen seit 2010 lassen sich ganz oder teilweise auf die Nichtausstattung des jeweils eingesetzten Krankenkraftwagens mit Amiodaron zurückführen? Die Feuerwehr führt keine Statistik über Reanimationen, nimmt aber am Reanimationsregister teil, das für alle teilnehmenden Länder von der Universitätsklinik in Kiel geführt wird. Medikationen werden in diesem Register nicht erfasst und können daher auch nicht ausgewertet werden. Für die Beantwortung der Fragestellung müssten daher alle Einsatzprotokolle von Notfalleinsätzen für die Jahre 2010 bis 2016 (circa 1.500.000) manuell ausgewertet werden. Dies ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 4. Gemäß § 630a BGB hat im Rahmen eines medizinischen Behandlungsvertrages die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist. Für eine vom fachlichen Standard in Form der ERC-Leitlinie abweichende Behandlung im Falle von Nichtverabreichung von Amiodaron hätte in den entsprechenden Fällen daher neben einer Aufklärung eine explizite Einwilligung eingeholt und dokumentiert werden müssen, um den gemäß § 630h BGB unter Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/11012 3 Beweislastumkehr zu vermutenden Kunstfehler abzuwenden. Ist dieses in allen betreffenden Fällen seit 2010 erfolgt und wurde dieses auch ausreichend dokumentiert? Wenn nein, wurden die Betroffenen oder deren Rechtsnachfolger von der Freien und Hansestadt Hamburg nachträglich darüber informiert und die entsprechenden Einwilligung für eine vom Stand der fachlichen Standards abweichende Behandlung nachträglich eingeholt und dieses dokumentiert? Wenn nein, wann plant der Senat hier seinen rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen? 5. Wie hoch schätzt der Senat die Haftungsrisiken für die Freie und Hansestadt Hamburg ein, die sich aus Kunstfehlern seit 2010 bei notfallmedizinischen Einsätzen im Rettungsdienst ergeben, bei denen ohne Einwilligung mangels Vorhaltung auf den Krankenkraftwagen nicht erfolgte Verabreichung von Amiodaron vom fachlichen Standards abgewichen wurde ? 6. Welche Vorsorge für solche Haftungsfälle hat der Senat seit wann im Haushalt der Freien und Hansestadt Hamburg einzustellen beantragt und wo sind diese in den Haushaltsplänen zu finden? Die Betroffenen erhalten durch den gleichzeitigen Einsatz von RTW und arztbesetztem Rettungsmittel die notwendige Hilfe im Sinne der Fragestellung, insbesondere steht das Medikament Amiodaron für diese Einsätze zur Verfügung. Die Einsätze werden auf der Grundlage des HmbRDG dokumentiert. Die Feuerwehr wird zu Einsätzen im Sinne der Fragestellung gerufen, um nicht ansprechbare Patienten zu retten. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes sind diese Menschen nicht in der Lage, eine wirksame Einwilligungserklärung abzugeben. Die Hilfeleistung geschieht aber im mutmaßlichen Willen der Betroffenen. Der öffentliche Rettungsdienst wird nicht auf der Grundlage eines zivilrechtlichen Vertragsverhältnisses im Sinne des § 630a BGB tätig, sondern erfüllt eine hoheitliche Aufgabe. Ein Behandlungsvertrag im Sinne der Fragestellung kommt daher nicht zustande. Die zivilrechtlichen Vorschriften über die Einwilligung von Patienten im Rahmen von Behandlungsverträgen gelten nicht für die Notfallrettung durch den öffentlichen Rettungsdienst. Gegenüber der Feuerwehr sind seit 2010 keine Schadensersatzansprüche geltend gemacht worden, die auf der Grundlage eines unterbliebenen Einsatzes des Medikamentes Amiodaron oder fehlender Einwilligung im Sinne der Fragestellung erhoben wurden.