BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/11704 21. Wahlperiode 26.01.18 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Boeddinghaus und Mehmet Yildiz (DIE LINKE) vom 18.01.18 und Antwort des Senats Betr.: Clearingstellen für Jugendliche in Hamburg In einem Bericht mit dem Titel „Unbegleitete minderjährige Ausländer“ des Landesbetriebes Erziehung und Beratung, Ausgabe Januar 2018, ist zu lesen, dass es dort inzwischen Clearingstellen gibt, die spezielle Angebote für unbegleitete minderjährige Ausländer (UMA) zur Verfügung stellen. Einmal existiert die Clearingstelle 1 in der Kollaustraße 150. Hier werden laut oben genanntem Bericht zehn Plätze für psychisch besonders belastete UMA in enger Kooperation mit der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik Eppendorf vorgehalten. In der Clearingstelle 3 in der Hammer Straße findet die Erstversorgung der UMA statt und es existiert ein Angebot „2. Chance“ mit zwölf Plätzen, die sich laut Bericht „in den Regeleinrichtungen der Jugendhilfe nicht haben integrieren können und durch negativ auffälliges Verhalten dort nicht weiter betreut werden können.“ Außerdem beabsichtig die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI), dass der Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB) den Betrieb am Standort Bullerdeich mit einer veränderten Nutzung weiterführt und als Clearingstelle 2 erneut nutzten soll. Die Einrichtung war im März 2015 im Zuge des ständig steigenden Zugangs unbegleiteter, minderjähriger Flüchtlinge entstanden. Der ursprüngliche Zweck ist nach Aussage der Fachbehörde mittlerweile weggefallen und die Einrichtung wurde im April 2017 stillgelegt. Nun soll die Einrichtung auf neuer konzeptioneller Grundlage ihren Betrieb wieder aufnehmen. Hierzu ist eine Reaktivierung der „Clearingstelle 2“ mit zehn Plätzen vorgesehen. In einem Schreiben an den Bezirk Mitte werden Eckpunkte benannt. Die dort geplante „Clearingstelle“ soll laut dem Schreiben eine Unterbringung von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren ermöglichen und es sollen Jugendliche aus dem Kinder- und Jugendnotdienst aufgenommen werden, die dort andere schutzsuchende Jugendliche gefährden und einer Betreuung und Perspektiventwicklung ausweichen. Aus dem vorliegenden Papier ist nicht ersichtlich, ob die Einrichtung die Kriterien einer Clearingstelle erfüllt. Die Beschreibung der Zielgruppe ist ausschließlich defizitorientiert, während Clearingstellen doch Bedarfe feststellen sollen wie sie zum Beispiel im Konzept der Kollaustraße 140 benannt werden. Auch der Verweis auf eine enge Kooperation mit der Polizei gehört nicht zu den grundlegenden Prinzipien einer Clearingstelle. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: 1. In einem Konzept des LEB Stand Februar 2017 wird eine Clearingstelle für psychisch besonders belastete unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vorgestellt. Dieses Angebot soll in der Kollaustraße 150 mit zehn Plätzen durchgeführt werden. Wann wurde der Betrieb aufgenommen? Wie viele UMA wurden bisher an diesem Standort betreut? Wie viele UMA haben Drucksache 21/11704 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 den sechsmonatigen Prozess der Diagnose und Hilfeplanaufstellung erfolgreich abgeschlossen? 2. Welche Anschlussperspektiven ergeben sich für die UMA (andere Einrichtungen zum Beispiel oder (Pflege-)Familien)? Die ersten Betreuten wurden am 10. April 2017 in die Einrichtung aufgenommen. Von bisher 18 Betreuten haben zehn die Einrichtung mit folgendem Ergebnis wieder verlassen : Fünf haben sich gut stabilisiert, vier ausreichend gut und ein Betreuter hat sich mit unbekanntem Ziel entfernt. In den neun Fällen mit regulärer Beendigung erfolgte eine Überführung in eine geeignete stationäre Hilfe. Die Erfahrung zeigt, dass die Klienten stabilisiert werden können, aber weiterhin einer professionellen pädagogischen Begleitung bedürfen, um die begonnene Entwicklung, die zum Beispiel auch Therapie beinhalten kann, sicher fortzusetzen. Somit kommen vor allem stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe in Betracht. 3. Handelt es sich bei dem uns vorliegenden Konzept vom Februar 2017 um die aktuelle Fassung? Wenn nein, bitte die aktuell gültige Fassung als Anlage beifügen. 4. In der Clearingstelle 3 in der Hammer Straße findet die Erstversorgung statt. Diese ist im Bericht des LEB von 2018 ausführlich beschrieben. Gibt es darüber hinaus ein Konzept für die Erstversorgung? Wenn ja, bitte als Anlage beifügen. Wenn nein, warum nicht? Mit der Erweiterung des Angebotsspektrums der Flüchtlingseinrichtungen des Landesbetriebes für Erziehung und Beratung (LEB) auf Hilfen zur Erziehung und Volljährigenhilfen , ist ein Gesamtkonzept erstellt worden (Stand Oktober 2017). Die LEB- Konzepte zur Flüchtlingsarbeit sind zu finden unter: https://www.hamburg.de/basfi/ start-fluechtlinge/. 5. Im Bericht des LEB wird auf Seite 13 darauf hingewiesen, dass es ein Angebot „2. Chance“ mit zwölf Plätzen gibt. Über die Zielsetzung hinaus werden aber keine Aussagen zu diesem Angebot gemacht. Besteht das Angebot „2. Chance“ noch und mit wie vielen Plätzen? 6. Wenn ja, was sind die Eckpunkte dieses Angebots? 7. Wenn es ein Konzept gibt, bitte als Anlage beifügen. Wenn es kein Konzept gibt, warum gibt es das für ein so speziell angelegtes Angebot nicht? Das Angebot „2.Chance“ besteht gegenwärtig mit neun Plätzen. Es wendet sich an im Verhalten auffällige, männliche Jugendliche und im Einzelfall auch junge Volljährige, deren Betreuung in einer Jugendhilfemaßnahme nicht sichergestellt werden kann beziehungsweise deren Hilfe in einer Einrichtung aufgrund nicht tolerierbaren Verhaltens beendet wurde. Im Übrigen siehe Antwort zu 3. und 4. 8. Vor welchem inhaltlichen Hintergrund wird der Begriff Clearing für dieses Angebot verwendet? Bei Minderjährigen die immer wieder in Konflikt mit ihrer Umwelt geraten, die soziale Bezüge nicht aufbauen oder erhalten können, diese sogar immer wieder verlieren, ist eine tiefergehende Ursachenanalyse erforderlich. Aufgabe eines Clearings ist es dabei, durch eine intensive Befassung mit dem jungen Menschen, dessen Lebenssituation , den gesundheitlichen Status, seine Ressourcen und Wünsche zu erkunden um die weitere Entwicklung in einem angemessenen Betreuungssetting zu planen. Im Betreuungsangebot „2. Chance“ sollen nach dieser eingehenden Analyse und Bewertung der Problemlagen erste Schritte zu einem für den jungen Menschen sozial erfolgreichem Handeln erprobt werden. Ziel ist hierbei die Vorbereitung auf einen Wechsel in eine Einrichtung mit dauerhafter Verbleibensperspektive. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/11704 3 9. In einem Schreiben der BASFI an den Bezirk Mitte vom 13.9.17 wird berichtet, dass der LEB in einer Clearingstelle Bullerdeich 6 Jugendliche aufnehmen möchte, die beim Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) dadurch auffallen, dass sie „andere, schutzsuchende Jugendliche gefährden“ und selbst „einer Betreuung und Perspektiventwicklung ausweichen “. Um wie viele Jugendliche beim KJND handelt es sich momentan ? 10. Sieht die BASFI darüber hinaus weitere Bedarfe für eine solche Einrichtung ? Im KJND ist die Zahl der Klienten mit Merkmalen der anvisierten Zielgruppe schwankend , allerdings oft mit im Einzelfall wiederholten Neuaufnahmen nach kurzen Episoden in Einrichtungen der Jugendhilfe oder in der Familie. Aktuell sind dies zwei Jugendliche. Hinzu kommen fünf Jugendliche, die sich in der jugendamtlichen Zuständigkeit des Familieninterventionsteams befinden. Auch aus dem Kreis der bezirklichen Jugendämter werden immer wieder Bedarfe signalisiert. Im Übrigen werden derzeit keine weiteren Bedarfe gesehen. 11. Der Bezirk Mitte wurde um Stellungnahme gebeten. Wie ist die Stellungnahme ausgefallen? Wenn es keine Stellungnahme gegeben hat, wie bewertet die BASFI diesen Umstand? Vorliegende Stellungnahme bitte als Anlage beifügen. Der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte wurde gemäß § 28 BezVG Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Weder die Bezirksversammlung noch eine der Fraktionen haben innerhalb der Frist von einem Monat eine Stellungnahme abgegeben. Die zuständige Behörde geht daher davon aus, dass keine wesentlichen Bedenken gegen das Vorhaben bestehen. 12. Wird das Projekt der erneuten Nutzung der Einrichtung Bullerdeich 6 momentan weiter verfolgt? Wenn ja, wie sind die weiteren Schritte und zu welchem Zeitpunkt ist eine Eröffnung geplant? Für die bestehenden Baulichkeiten und deren Anpassung auf die neue Nutzung wurde ein Baugenehmigungsverfahren nach § 62 HBauO beim Bezirksamt Hamburg-Mitte eingeleitet. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. 13. In welcher Form werden Parlament und Fachpolitiker/-innen informiert und einbezogen? Siehe Antwort zu 11. Im Übrigen richtet sich die Beteiligung nach den gesetzlichen Vorschriften. 14. Als Zielgruppe werden männliche Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren genannt. Diese Gruppe wird im Gegensatz zum Konzeptentwurf für die Kollaustraße 150 ausschließlich defizitorientiert beschrieben. Warum wird das so gemacht? Entspricht das einer Clearingstelle? Die Beschreibung der Zielgruppe hat den Zweck, Kriterien für den Zugang zu dem Angebot zu definieren. Bei der anvisierten Zielgruppe, die zunächst durch ihr Verhalten auffällt und dadurch für dieses Setting in Betracht kommt, ist eine problemorientierte Beschreibung daher angemessen. Die pädagogische Arbeit ist aber gleichwohl ressourcenorientiert. 15. Gibt es über das Schreiben an den Bezirk Mitte hinaus konzeptionelle Überlegungen der BASFI und des LEB zu dieser geplanten Einrichtung Bullerdeich 6? Wenn ja, welche sind diese? 16. Welche Regeln sollen in der Einrichtung gelten? 17. Werden die betreuten Jugendlichen in Containern schlafen? Drucksache 21/11704 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 18. Dürfen die betreuten Jugendlichen jederzeit die Aufenthalts- und Essensräume betreten? 19. Was ist unter „Personal mit pädagogischer Basiskompetenz“ zu verstehen ? 20. Welche Möglichkeiten der Folgeunterbringung sieht die zuständige Behörde für diese Jugendlichen? 21. Welche Aufgaben und Kompetenzen haben die Sicherheitskräfte? Wer verantwortet den Einsatz der Sicherheitskräfte in der Einrichtung? 22. Dürfen die Sicherheitskräfte Betreute mit Polizeigriffen zu Boden bringen ? Die Beschreibung der Zielgruppe hat den Zweck, Kriterien für den Zugang zu dem geplanten Angebot zu definieren. Über die Beschreibung der avisierten Einrichtung gegenüber der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte hinausgehende Konzeptionelle Überlegungen und Planungen sind derzeit noch nicht abgeschlossen. 23. Wird es in der Einrichtung einen Time-out-Raum oder andere Formen der räumlichen Begrenzung der Bewegungsfreiheit geben? 24. Was unterscheidet die geplante Einrichtung von einer geschlossenen Unterbringung? Nein, freiheitsentziehende Maßnahmen sind für die Einrichtung nicht vorgesehen. 25. Was soll der Betrieb der Einrichtung Bullerdeich 6 kosten? In welchem Haushaltstitel wird der Betrieb einer solchen Einrichtung finanziert? Siehe Antwort zu 15. bis 22. 26. Wurden die Erfahrungen mit der im April 2017 stillgelegten Flüchtlingsunterkunft Bullerdeich 6 von der zuständigen Behörde beziehungsweise dem Senat ausgewertet beziehungsweise evaluiert und was sind die Ergebnisse? Wenn nein, warum fand keine Auswertung beziehungsweise Evaluierung statt? 27. Hat die zuständige Behörde beziehungsweise der Senat die Absicht, solch eine Auswertung noch vorzunehmen? Wenn ja, in welcher Form? Wenn nein, warum nicht? Der Betrieb der Einrichtung wurde im LEB laufend und zuletzt auch nach Betriebsende ausgewertet und hat zur Fortentwicklung der Arbeit mit den Klienten beigetragen. Wesentliche Ergebnisse der rund zweijährigen Arbeit der Einrichtung sind: - Es wurden 89 Klienten für einen Zeitraum von einem Tag bis über 500 Tage betreut. Bei 22 gelang ein Übergang in eine der Flüchtlingseinrichtungen des LEB oder in ein anderes stationäres Betreuungsangebot. 15 sind in Haft gegangen. Für die übrigen Klienten endete die Betreuung mit deren Verlassen mit unbekanntem Ziel, durch Vollendung des 18. Lebensjahres oder andere Gründe. - Die Klienten der Einrichtung Bullerdeich waren einer pädagogischen Intervention in den Flüchtlingseinrichtungen des LEB und des KJND nicht zugänglich und haben dort erhebliche, mit Gewalt verbundene Störungen verursacht. Die Einrichtungen konnten wesentlich zum Vorteil der pädagogischen Arbeit mit den Verbliebenen entlastet werden. - Im Gegenzug konnte sich Einrichtung Bullerdeich konzeptionell auf diese jungen Menschen einstellen. In einer, angesichts der besonderen Schwierigkeiten der Zielgruppe relevanten Zahl konnte eine Wende zur Integration in Regelangebote erreicht werden. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/11704 5 - Die pädagogisch nicht zugänglichen Klienten haben die Einrichtung als Wohnort genutzt und damit anderen, in der Regel prekären Lebensorten vorgezogen. Dadurch konnte zumindest eine Basisversorgung mit Wohnraum, Verpflegung und Bekleidung sowie Hygiene und Gesundheitsfürsorge sichergestellt werden. - Das Konzept auf einfachen, durchsetzbaren Basisregeln des Zusammenlebens ausgerichteten Pädagogik in einem offenen Setting hat sich bewährt. Darüber hinaus hat die zuständige Fachbehörde keine weitere Evaluation in Auftrag gegeben.