BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/11788 21. Wahlperiode 02.02.18 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Harald Feineis und Dirk Nockemann (AfD) vom 26.01.18 und Antwort des Senats Betr.: Sexuelle Grenzverletzungen bei Kindern Durch den Erlass des Bundeskinderschutzgesetzes vom 1. Januar 1996 hat die Politik das Thema „Sexuelle Gewalt an Schulen“ erstmals in einen breiten öffentlichen Fokus gerückt. In 2012 bestätigte die Kultusministerkonferenz die Relevanz dieses Themas erneut, in dem sie konstatierte: „Die Kultusministerkonferenz spricht sich für eine größtmögliche Sensibilität gegenüber dem Problem sexueller Übergriffe und des gewalttätigen Handels in Schulen und schulnahen Einrichtungen und für ein engagiertes Handeln für die Betroffenen gegen die Übergriffe aus (…) Die Kultusministerkonferenz setzt sich für die rückhaltlose Aufklärung von Fällen sexuellen Missbrauchs und Gewaltanwendung gegen Kinder und Jugendliche in Schulen und schulnahen Einrichtungen ein, um das Vertrauen in die Schule als geschütztem und sicherem Ort zu gewährleisten.“1 Die aktuelle Ausgabe der für Hamburg verfassten Informationsbroschüre „Sexuelle Grenzverletzung“2 von 2017 enthält eine Reihe von Beispielen, die unterschiedliche Fallkonstellationen von sexueller Gewalt und Kindern illustrieren . Dazu heißt es: „Für Lehr- und Fachkräfte stellen sexuelle Grenzverletzungen bzw. sexualisierte Gewalt unter Kindern und Jugendlichen eine besondere Herausforderung dar. Dazu gehören beispielsweise folgende Situationen:3 • In einer 3. Klasse fordert ein Schüler einen Mitschüler auf, gegen Bezahlung seinen Penis in den Mund zu nehmen. • Die Mädchen einer 6. Klasse ärgern einen Mitschüler im Klassenchat, indem sie ihn vor anderen als schwul beschimpfen. • Ein Schüler einer 7. Klasse beleidigt eine Mitschülerin mit sexistischen Begriffen, z. B. „Schlampe“. • Bei der Gruppenarbeit versucht ein Schüler wiederholt, den BH einer Mitschülerin zu öffnen. 1 Confer Handlungsempfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Vorbeugung und Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen und Gewalthandlungen in Schulen und schulnahen Einrichtungen . Berlin 2010. Seite 1. 2 Confer „Sexuelle Grenzverletzung – Handeln bei sexuellen Grenzverletzungen unter Kindern und Jugendlichen. Hamburg 2017. 3 Das Folgende nach ibidem. Seite 4. Drucksache 21/11788 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 • In der Schule werden per Handy Fotos verschickt, die eine Schülerin beim Sex zeigen. • Während eines Schulfestes wird eine Schülerin von einem Mitschüler vergewaltigt .“ Es wird deutlich, dass der Extensionsgrad solcher Übergriffe grundsätzlich verschied stark ausgeprägt sein kann. Folglich erfordert der Umgang mit ihnen eine individuelle Handhabung, die nicht zuletzt auch durch die unterschiedliche Wahrnehmung der Betroffenen erschwert wird. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: Die Prävention von sexualisierter Gewalt gehört seit vielen Jahren zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Hamburger Schulen. So ist beispielsweise in den curricularen Vorgaben zur schulischen Sexualerziehung dieses Thema abgebildet (siehe http://li.hamburg.de/sexualerziehung/). Grundsätzlich gilt für alle curricularen Vorgaben für Hamburger Schulen, dass diese verbindlich umzusetzen sind. Wie die spezifische Ausgestaltung erfolgt und mit welchem außerschulischen Kooperationspartner im Ganztag zusammengearbeitet wird, entscheidet die Einzelschule. Außerdem wird zum übergeordneten Bereich des sozialen Lernens zu Gefühlen, ambivalenten Situationen und „Hilfe holen“ sensibilisiert. Dazu werden beispielsweise die Materialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Achtsamkeit und Anerkennung (siehe https://www.bzga.de/botmed_20420000.html und https://www.bzga.de/ botmed_20470000.html) genutzt. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie viele Fälle von sexueller Gewalt im Sinne der oben stehenden Definition sind für das Jahr 2017 an Hamburger Schulen aktenkundig? Im Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis 31. Juli 2017 wurden 27 Vorfälle mit dem Verdacht auf ein Sexualdelikt oder eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemeldet. Da die Auswertung der statistischen Daten zu den Gewaltvorfällen regelhaft schuljahresbezogen erfolgt, liegen noch keine Daten für das laufende Schulhalbjahr vor, siehe auch Drs. 21/425. 2. Zu welcher Art von Übergriffen ist es dabei im Einzelnen gekommen? In der Mehrzahl handelt es sich um unerlaubte Berührungen im Intimbereich und unterschiedliche sexuelle Handlungen. Ein weiterer Schwerpunkt sind obszöne Beleidigungen und verbale Belästigungen. Auch die Verbreitung pornografischen Materials in Form von Videos oder Fotos über Smartphones ist vorgekommen. 3. Was ist dem Senat über die involvierten Personen bekannt? Die Betroffenen beziehungsweise Täter bitte jeweils in Hinblick auf Alter und Geschlecht nennen. An den in der Antwort zu 1. genannten Vorfällen waren Personen folgenden Alters beteiligt: Männliche Tatverdächtige Alter Anzahl 8 2 9 2 10 2 11 3 12 2 13 3 14 6 15 4 46 1 Unbekannt 2 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/11788 3 Weibliche Tatverdächtige Alter Anzahl 13 2 Männliche Geschädigte Alter Anzahl 8 2 14 1 Weibliche Geschädigte Alter Anzahl 5 1 8 1 10 2 11 2 12 2 13 1 14 3 15 6 16 1 24 1 Quelle: Interne Daten der zuständigen Behörde. 4. In wie vielen Fällen waren diese Übergriffe mit physischer beziehungsweise psychischer Gewaltanwendung verbunden? In zwölf Vorfällen gab es physische Gewalt. 5. Ist dem Senat bekannt, ob dabei sexistische beziehungsweise homophobe Motive eine Rolle gespielt haben? Falls ja, welche? Nein. 6. Gibt es einen standardisierten Handlungsablauf für den Umgang mit sexueller Gewalt an Schulen? Falls ja, welche Maßnahmen werden bei Bekanntwerden solcher Übergriffe durch das Lehrpersonal umgesetzt? Die „Richtlinie zur Meldung und Bearbeitung von Gewaltvorfällen in Schulen“ und die Broschüre „Sexuelle Grenzverletzungen“ benennen Verfahrenswege, Beratungsmöglichkeiten und Institutionen, die zu beteiligen sind. 7. Unter welchen Voraussetzungen schaltet die Schulleitung externe Instanzen ein? Die Schulleitung lässt sich bedarfsorientiert durch die Schulaufsicht, die Beratungsstelle Gewaltprävention, die Abteilung Beratung des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LIB) und das zuständige regionale Bildungs- und Beratungszentrum (ReBBZ) beraten. Ferner werden, je nach Lage, externe Beratungsstellen angefragt, um die pädagogische Arbeit mit den Tatverdächtigen zu unterstützen sowie zusätzliche Begleitung und Unterstützung für die geschädigten Personen zu veranlassen . Ebenso kann das zuständige Landeskriminalamt um Unterstützung gebeten werden . 8. In wie vielen Fällen hatten die dokumentierten Fälle von sexueller Gewalt eine strafrechtliche Relevanz, weshalb Anzeige erstattet wurde? In allen Fällen erfolgte eine Anzeige gegenüber der Polizei. Eine strafrechtliche Verfolgung erfolgt in Abhängigkeit des Alters des Tatverdächtigten und der weiteren Ermittlungen. Drucksache 21/11788 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 9. Welcher Straftatbestand hat diesen Anzeigen im Einzelnen zugrunde gelegen? Verdacht auf ein gegenwärtiges Sexualdelikt oder eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. 10. Ist es im Zuge der Ermittlungen – sofern die Beschuldigten strafmündig waren – zu Verurteilungen gekommen? Falls ja, welche Strafen wurden dabei verhängt? Bei der Justizbehörde sind bis zum 31. Januar 2018 keine Verurteilungen als Verfahrensausgänge registriert. Im Übrigen siehe Antwort zu 13. und 14. 11. Was tut die Behörde für Schule und Berufsbildung, um präventiv gegen sexuelle Übergriffe an Schulen vorzugehen? Schulische Fachkräfte erhalten seit Jahren entsprechende Unterstützung durch Beratungen und Fortbildungen zur Prävention und Intervention durch die Abteilung Beratung des LI sowie der Beratungsstelle Gewaltprävention. In Kooperation mit den Fachstellen zur sexuellen Bildung und gegen sexualisierte Gewalt werden Unterstützungsangebote , wie zum Beispiel die interaktive Ausstellung für Grundschulen „Echt Klasse!“ angeboten (siehe http://li.hamburg.de/sexualisierte-gewalt-grundschule/). Einmal im Quartal tagt ein Arbeitskreis im LI, der unter anderem die erste Auflage der Broschüre „Sexuelle Grenzverletzungen“ verfasst hat. In diesem Rahmen wurde gemeinsam auch mit Unterstützung der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) unter anderem das bundesweite Projekt „Trau Dich“ unter Schirmherrschaft vom für Bildung zuständigen Präses an Grundschulen umgesetzt (siehe http://www.hamburg.de/kein-raum-fuer-missbrauch/4488158/trau-dich/). Seit 2010 ist die Handlungsempfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK) zur Vorbeugung sexuellen Missbrauchs (siehe https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/2010/2010_04_20-Handlungsempfehlungen- Vorbeugung-sexueller-Missbrauch_2013.pdf) Grundlage aller schulischen Maßnahmen . Hier werden Prävention und Intervention zusammengeführt: Pädagogische Fachkräfte, die im Unterricht mit Kindern zum Thema arbeiten (Prävention), müssen damit rechnen, dass sich ihnen Kinder oder Jugendliche anvertrauen. Dazu brauchen sie Handlungssicherheit, das heißt, sie müssen wissen, wie sie mit konkreten Situationen umgehen können (Intervention). Um unnötige Doppelstrukturen zu vermeiden, wurde in Hamburg entschieden, das Thema „sexualisierte Gewalt“ in den Kontext Kinderschutz zu stellen. Deshalb gab es mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) und dem für Bildung zuständigen Präses im April 2017 eine Auftaktveranstaltungen für die Schulleitungen der Hamburger Grundschulen zur bundesweiten Kampagne „Schule gegen sexuelle Gewalt“ (siehe https://beauftragter-missbrauch.de/presse-service/pressemitteilungen/detail/news/ bundesinitiative-schule-gegen-sexuelle-gewalt-startet-in-hamburg/). Alle Schulleitungen der Hamburger Schulen haben außerdem im Juni 2017 den Kinderschutzordner erhalten (siehe http://www.hamburg.de/schwerpunkte/kinderschutz/), in dem sich Hinweise zur Sexualerziehung und zur sexualisierten Gewalt befinden (siehe Seiten 85 bis 109). Zum Umgang mit konkreten Situationen ist im Ordner die aktualisierte Broschüre „Sexuelle Grenzverletzungen“ beigefügt. Dieser Rahmen ist verpflichtend, die schulinterne Befassung liegt im Sinne der selbstverantworteten Schule in der Hand der pädagogischen Fachkräfte. Im Übrigen siehe Vorbemerkung und Drs. 21/3638 und 21/6430. 12. Sind in der Vergangenheit bereits Maßnahmen zur Sensibilisierung der Kinder unternommen worden? Falls ja, welche? Falls nein, warum nicht? Um Kinder besser vor Übergriffen zu schützen, hat das Bundesministerium für Familie , Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) die bundesweite Initiative „Trau dich!“ zur Präven- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/11788 5 tion des sexuellen Kindesmissbrauchs gestartet. Sie ist Teil des Aktionsplans 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Vom Juni 2015 bis Juni 2017 wurde „Trau dich!“ für die Hamburger Grundschulen angeboten. Am 14. Juni 2017 wurden die letzten Aufführungen des Theaterstücks „Trau Dich!“ im Ernst-Deutsch-Theater veranstaltet. Insgesamt gab es von im Schuljahr 2015/2016 und 2016/2017 vierzehn „Trau dich!“-Aufführungen in Hamburg, an denen 50 Grundschulen mit circa 4.000 Schülerinnen und Schüler teilnahmen. Im Rahmen dieser Kampagne wurden 199 Fachkräfte/Lehrkräfte qualifiziert und circa 970 Eltern auf Elternveranstaltungen bei beteiligten Schulen informiert. Die teilnehmenden Schulen sendeten schulische Fachkräfte in vorgeschaltete Fortbildungen (drei Stunden ) und in jeder teilnehmenden Schule wurde ein Elternabend durchgeführt. Das Projekt war eine Kooperation zwischen der BZgA, der BASFI und der für Bildung zuständigen Behörde (Beratungsstelle Gewaltprävention) sowie den spezialisierten Fachberatungsstellen gegen sexuellen Missbrauch. Im Rahmen eines Bilanzierungsgesprächs wurden die gute Zusammenarbeit zwischen den Einrichtungen und das Theaterstück gelobt. Zwei Grundschulen gaben an, dass sie das „Trau dich!-Projekt“ in ihren dritten Klassen im dritten Jahr regelhaft durchführen. Im Übrigen siehe Antwort zu 11. 13. Wie viele Fälle sind dem Senat für 2017 bekannt, bei denen Lehrpersonal sexuelle Gewalt gegen Schutzbefohlene begangen haben? 14. Ist es infolgedessen zu Verurteilungen gekommen? Falls ja, zu welchen, und was kann der Senat zu den Tätern sagen? 2017 sind drei Fälle bekannt geworden, in denen gegen Lehrpersonal wegen des Verdachts der sexuellen Belästigung beziehungsweise des sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener strafrechtlich ermittelt wird; die Ermittlungs- beziehungsweise Strafverfahren sind noch nicht abgeschlossen. 15. Beruhen die in der Informationsbroschüre enthaltenen Fallbeispiele auf wahren Begebenheiten? Falls ja, welche und wo beziehungsweise wann haben sich diese ereignet ? Nein, auch die Darstellung anonymisierter Situationen birgt die Gefahr des Erkennens und Zuordnens. Die in der Publikation enthaltenen Fallbeispiele sind typische Situationen aus der Beratungspraxis der Beratungsstelle Gewaltprävention, der Abteilung Beratung des LI sowie den Hamburger Fachberatungsstellen. Es sind keine anonymisierten , tatsächlich stattgefundenen Handlungen, sondern Beschreibungen, die auf Grundlage verschiedener Echtsituationen gebildet wurden.