BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/13179 21. Wahlperiode 01.06.18 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Christiane Schneider und Cansu Özdemir (DIE LINKE) vom 24.05.18 und Antwort des Senats Betr.: Öffentlichkeitsfahndung im Zusammenhang mit G20 Am 16.05.2018 gab die Polizei Hamburg im Rahmen einer Pressekonferenz bekannt, dass sie eine weitere Öffentlichkeitsfahndung nach Verdächtigen von Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel eingeleitet haben. Vorausgegangen war eine Öffentlichkeitsfahndung im Dezember 2017, bei der nach 107 Verdächtigen gefahndet wurde. Trotz erheblicher Kritik an dieser ersten Öffentlichkeitsfahndung hält die Polizei an diesem Instrument fest und fahndet nun erneut nach 101 Verdächtigen. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: Die Durchführung einer Öffentlichkeitsfahndung richtet sich nach § 131b Strafprozessordnung (StPO). Die Maßnahme wird von der Polizei bei der Staatsanwaltschaft angeregt und auf deren Antrag anschließend von einem Gericht beschlossen. Somit initiiert die Polizei im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrages zwar die Öffentlichkeitsfahndung , die Entscheidung über die Durchführung der Maßnahme liegt jedoch letztlich im Zuständigkeitsbereich der Justiz. Somit entscheidet in jedem Einzelfall ein Richter in Anbetracht aller Ermittlungserkenntnisse über die Zulässigkeit der Maßnahme und deren Durchführung. Zu ermittlungstaktischen Grundsätzen sowie zu Ermittlungsergebnissen, insbesondere wenn sie sich auf laufende Ermittlungsverfahren beziehen, können keine Angaben gemacht werden, wenn dies den Ermittlungserfolg gefährden würde. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. In der Antwort auf unsere Anfrage vom 02.01.2018 (Drs. 21/11458) wird als Rechtsgrundlage für die Öffentlichkeitsfahndung der § 131b StPO genannt. Demnach ist eine Öffentlichkeitsfahndung möglich, wenn die betroffene Person einer Straftat von erheblicher Bedeutung verdächtig ist und wenn die Aufklärung beziehungsweise Feststellung der Identität des/der Beschuldigten auf andere Weise erheblich weniger Erfolg verspricht oder wesentlich erschwert wäre. Der Begriff der „Straftat von erheblicher Bedeutung“ ist nicht legal definiert. In der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH wird der Begriff regelmäßig wie folgt verstanden : Eine Straftat hat „erhebliche Bedeutung“, wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Welche Straftaten der mittleren Kriminalität zuzurechnen sind, bestimmt sich im Wesentlichen nach den abstrakten Strafrahmen des materiellen Strafrechts. Was versteht der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde generell unter einer Straftat von erheblicher Bedeutung? Drucksache 21/13179 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Siehe Drs. 21/11458. a. Welche Delikte werden den Personen, nach denen mit der erneuten Öffentlichkeitsfahndung gefahndet wird, konkret vorgeworfen? Die Personen, nach denen aktuell in der Öffentlichkeitsfahndung gefahndet wird, sind verdächtig, besonders schwere Fälle des Landfriedensbruchs gemäß § 125a Strafgesetzbuch (StGB), Brandstiftungen gemäß § 306 StGB, gefährliche Körperverletzungen gemäß §§ 223, 224 StGB, besonders schwere Fälle des Widerstandes gegen und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte gemäß §§ 113, 114 StGB und besonders schwere Fälle des Diebstahls gemäß §§ 242, 243 StGB begangen zu haben. b. Warum und inwieweit stellen die vorgeworfenen Delikte eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ dar? Die in Rede stehenden Delikte erfüllen die bereits in Drs. 21/11458 genannte Definition und sind im Einzelfall dazu geeignet gewesen, den Rechtsfrieden empfindlich zu stören und das Gefühl von Rechtssicherheit in der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen . Des Weiteren handelt es sich auch angesichts der Strafrahmen (Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und fünf beziehungsweise zehn Jahren) um Straftaten , die jedenfalls der mittleren Kriminalität zuzurechnen sind und damit grundsätzlich den Anforderungen an eine Straftat von erheblicher Bedeutung entsprechen. 2. Auf der Pressekonferenz wurde geäußert, dass von den 107 in der ersten Öffentlichkeitsfahndung gesuchten Personen 35 identifiziert seien. Davon habe eine Person einen Strafbefehl erhalten. Gemäß § 407 StGB können mit einem Strafbefehl nur Vergehen geahndet werden. Wegen welchen Delikts wurde nach der Person öffentlich gefahndet und wegen welchen Delikts ist der Strafbefehl ergangen? a. Ist der Strafbefehl rechtskräftig? b. Welche Rechtsfolge in welcher Höhe wurde durch den Strafbefehl festgesetzt? c. Wurde bei dem Beschluss über die öffentliche Fahndung der entsprechenden Person bereits die vorgeworfene Straftat nur als Vergehen bewertet oder hat sich die Bewertung im Laufe des Verfahrens geändert? Der Beschluss des Gerichtes gemäß § 131b StPO erging wegen des Anfangsverdachts des Verstoßes gegen §§ 125, 125a, 25 Abs. 2 StGB. Nach den Ermittlungen konnte dem Beschuldigten zwar nachgewiesen werden, dass er sich zweimalig von 22.13 Uhr bis 22.25 Uhr in dem geplünderten REWE-Markt aufgehalten hat. Mit der für eine Verurteilung erforderlichen hinreichenden Sicherheit konnte dem Beschuldigten aber nicht nachgewiesen werden, dass er beim Aufbrechen des REWE-Marktes mitgewirkt hat oder Waren aus dem REWE-Markt entwendet hat. Der Erlass des Strafbefehls wurde daher wegen Verstoßes gegen § 123 StGB beantragt. Es wurde der Erlass eines Strafbefehls über eine Gesamtstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30 Euro (Einzelstrafen: je 40 Tagessätze zu je 30 Euro) beantragt, der Strafbefehl ist nach hiesigen Erkenntnissen noch nicht rechtskräftig. 3. Welche und wie viele unterschiedliche Richter/-innen haben über die Zulässigkeit der erneuten Öffentlichkeitsfahndung entschieden? a. Wann wurden die Anträge gestellt? b. Wurde für jede der 101 Personen ein einzelner Antrag gestellt, oder waren die Anträge in irgendeiner Form „gebündelt“? Wenn ja, nach welchen Kriterien? c. Wann wurden die Anträge beschieden? d. In wie vielen Fällen wurde der Beschluss durch eine/n Jugendrichter /in getroffen? Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/13179 3 e. Wie viele gestellte Anträge sind aktuell von der Staatsanwaltschaft noch nicht beschieden? f. In wie vielen Fällen hat das Gericht den begehrten Antrag abgelehnt ? Die seit dem 18. Dezember 2017 in G20-Verfahren gemäß §§ 131c Absatz 1, 131b Absatz 1 StPO erlassenen Beschlüsse wurden von jedenfalls acht Ermittlungsrichterinnen und Ermittlungsrichtern, einer Jugendrichterin sowie – auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft – von einer Großen Strafkammer des Landgerichts Hamburg erlassen. In der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle erging der Beschluss im jeweiligen Verfahren betreffend einen unbekannten Beschuldigten. In Einzelfällen handelte es sich um Beschlüsse gegen zwei oder drei, in einem Fall gegen fünf unbekannte Beschuldigte. Aufgrund der Vielzahl der Verfahren und Beschlüsse können weitere Einzelheiten zu den Vorgängen innerhalb der für die Beantwortung einer Schriftlichen Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht mitgeteilt werden. 4. Bei der ersten Öffentlichkeitsfahndung wurden die Verdächtigen einzelnen Tatkomplexen zugeordnet. Bei der neuen Öffentlichkeitsfahndung wurde auf eine Zuordnung verzichtet. Der Pressesprecher der Polizei gab im Rahmen der Pressekonferenz an, dass diese Zuordnung aus ermittlungstaktischen Gründen nicht mehr erfolge. Welche Veränderungen hat es zwischen der ersten und der zweiten Öffentlichkeitsfahndung gegeben, die eine Zuordnung zu Tatkomplexen aus ermittlungstaktischen Gründen nun nicht mehr zulassen? Siehe Vorbemerkung. 5. Gegen wie viele Personen wurden im Zusammenhang mit dem G20- Gipfel bisher insgesamt Maßnahmen nach § 131a StPO vorgenommen? Nach wie vielen Personen wird aktuell nach § 131a StPO gefahndet? Zur Beantwortung der Frage müssten sämtliche Verfahrensakten aus dem Register 7120 Js ausgewertet werden. Die vollständige Beiziehung und Auswertung der mehr als 600 Verfahrensakten ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 6. Hat die Polizei außer der Maßnahmen nach § 131a StPO weitere Maßnahmen zur Aufklärung der Identität durchgeführt? Wenn ja, welche? Wenn nein, warum nicht, und sieht der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde trotzdem die Subsidiaritätsklausel des § 131b StPO in einem ausreichenden Maße berücksichtigt? Bis zu der Anregung einer Öffentlichkeitsfahndung werden verschiedene Stufen von Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt, da die Öffentlichkeitsfahndung nur zulässig ist, wenn die Feststellung der Identität eines unbekannten Täters auf andere Weise erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wäre. So wurden zunächst alle geeigneten, erforderlichen und milderen Ermittlungsmaßnahmen zur Identifizierung eines Täters ergriffen. In allen Fällen, in denen eine Öffentlichkeitsfahndung erlassen wurde, erfolgten unter anderem zuvor polizeiinterne Fahndungen, die letztlich nicht zu einer Identifizierung der Personen führten. 7. Im Rahmen der ersten Öffentlichkeitsfahndung wurde eine minderjährige Person gesucht, deren Bild auf der Titelseite der „Bild“-Zeitung abgedruckt wurde. Sie wurde als „Krawall-Barbie“ bezeichnet und durch die Öffentlichkeitsfahndung erheblich stigmatisiert. Ihr Bild ist noch immer unverpixelt im Internet zu finden. Welche Konsequenzen hat der Senat beziehungsweise zuständige Behörde daraus für die neuerliche Öffentlichkeitsfahndung gezogen? Die Maßnahme der Öffentlichkeitsfahndung ist nicht auf erwachsene Tatverdächtige beschränkt. Durch technische Maßnahmen wird sichergestellt, dass die zur Öffentlich- Drucksache 21/13179 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 keitsfahndung benötigten personenbezogenen Daten ausschließlich auf Servern im Verantwortungsbereich der Strafverfolgungsbehörden gespeichert und nicht an private Internetanbieter übermittelt werden. Nach der Identifizierung einer Person wird die Öffentlichkeitsfahndung umgehend auf diesen Servern gelöscht. Auf die Datenlöschung in den privaten Medien hat die Polizei nur begrenzten Einfluss. Es erfolgt grundsätzlich seitens der Pressestelle der Polizei für jede Identifizierung einer Person und einer damit einhergehenden Löschung der Öffentlichkeitsfahndung eine Pressemeldung. Im Rahmen der Pressekonferenz zur zweiten Öffentlichkeitsfahndung der Sonderkommission (SoKo) „Schwarzer Block“ am 16. Mai 2018 wies der Polizeipressesprecher auf die Situation des immer noch möglichen Auffindens einzelner Personen im Internet hin und bat die Medienvertreter ausdrücklich, identifizierte Personen auch aus ihren Internetangeboten zu löschen. 8. Auf der Pressekonferenz am 16.05.2018 informierte die Polizei Hamburg auch über eine europaweite Fahndung nach Verdächtigten im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel, die zuvor durch eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Bundestag (BT.-Drs. 19/1652) öffentlich geworden war. Nach den Informationen auf der Pressekonferenz wird aktuell nach 91 Personen in 15 europäischen Ländern polizeiintern gefahndet. Bei diesen 91 Personen würde es sich um eine Auswahl aus den 208 Personen handeln, die in der deutschlandweiten Öffentlichkeitsfahndung bereits gesucht worden seien. Zudem gäbe es Personen, nach denen in allen 15 Ländern gesucht wird, bei anderen Personen würde nur in spezifischen Ländern eine Fahndung erfolgen. Nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl, welche Personen in welchen Ländern gesucht werden? 9. Nach wie vielen Personen wird nur in einzelnen Ländern gefahndet und wie wird die Begrenzung der Suche auf ein einzelnes Land jeweils begründet? Ergeben sich aus Ermittlungsverfahren Hinweise darauf, dass Personen aus bestimmten Ländern stammen könnten, so wird auch nur in diesen Ländern gefahndet. Dies stellt eine Mindermaßnahme zu einer europaweiten Fahndung dar und ergibt sich schon allein aus den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 10. Aus der Anfrage BT.-Drs. 19/1652 ergibt sich, dass das LKA Hamburg im Rahmen seines förmlichen Ersuchens an das BKA vom 06.April 2018 darauf hinwies, dass die Personen, für die eine europaweite Fahndung erfolgen soll, bereits „teilweise“ in der deutschlandweiten Öffentlichkeitsfahndung gesucht wurden. Hierzu steht die auf der Pressekonferenz getroffene Äußerung, dass alle 91 Personen dem Kreis der Gesuchten der deutschlandweiten Öffentlichkeitsfahndung entstammen, im Widerspruch . Sind alle Personen, nach denen europaweit gesucht wird, bereits in einer der beiden Öffentlichkeitsfahndungen gesucht worden? Nein. 60 Personen befanden sich zuvor in der Öffentlichkeitsfahndung. 11. In der BT.-Drs. 19/1652 sind die ausländischen Dienststellen genannt, die im Rahmen der europaweiten Fahndung angeschrieben wurden. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Anti-Terror-Dienststellen. Aus welchen Gründen wurden diese Dienststellen ausgewählt? Die europaweite Fahndung wurde auf Initiative der SoKo „Schwarzer Block“ durch das dafür zuständige Bundeskriminalamt (BKA) gesteuert. Die SoKo „Schwarzer Block“ hat keinen Einfluss auf die vom BKA angeschriebenen Dienststellen. Nach welchen Kriterien das BKA die Auswahl vornimmt, ist der SoKo „Schwarzer Block“ nicht bekannt. 12. Hat es bereits Rückmeldungen von europäischen Behörden gegeben? Wenn ja, mit welchem Inhalt? Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/13179 5 Ja. Darüber hinaus siehe Vorbemerkung. 13. Auf der Pressekonferenz vom 16.05.2018 wurde geäußert, dass auch eine europaweite Öffentlichkeitsfahndung angestrebt wird. Aus welchen Gründen hält der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde ein solches Vorgehen für notwendig? Nach welchen Maßstäben beurteilt der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde angesichts des weitreichenden Verbreitungsgrades der Bilder eine solche weitreichende Maßnahme als verhältnismäßig? Die Polizei ist nach dem Legalitätsprinzip gemäß § 163 StPO verpflichtet, Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten. Im Rahmen des G20-Gipfels wurden teilweise schwere Straftaten begangen, durch die das Sicherheitsgefühl der Bürger massiv negativ betroffen wurde. Öffentlichkeitsfahndungen im Ausland erfolgen nur, wenn zuvor die Ermittlung eines Tatverdächtigen auf andere Weise nicht möglich war. Zur Identifizierung von Personen, die für diese Taten verantwortlich sind, wird die europaweite Öffentlichkeitsfahndung nach vorheriger Einzelfallprüfung in Fällen schwerwiegender Straftaten als verhältnismäßig angesehen. 14. Nach wie vielen Personen und wegen welcher Delikte wurde im Jahr 2016 öffentlich durch die Polizei Hamburg gefahndet? a. In wie vielen Fällen wurden die Fahndungsbilder auch im Internet veröffentlicht? b. Wie viele von den Personen, nach denen durch die Polizei Hamburg 2016 gefahndet wurde, wurden durch die Öffentlichkeitsfahndung identifiziert? Statistiken im Sinne der Fragestellungen werden bei der Polizei nicht geführt. Zur Beantwortung dieser Fragen wäre eine Durchsicht mehrerer zehntausend Hand- und Ermittlungsakten des erfragten Zeitraums bei der Polizei erforderlich. Dieses ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.