BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/14239 21. Wahlperiode 11.09.18 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Birgit Stöver (CDU) vom 04.09.18 und Antwort des Senats Betr.: Inklusion mit der Brechstange – Vernachlässigt der Senat Schüler mit emotionalem und sozialem Förderbedarf? An den staatlichen Sonderschulen in Hamburg sind aufgrund der Inklusion – das heißt der gemeinsamen Regelbeschulung von Kindern mit und ohne Förderbedarf – in den letzten Jahren die Anmeldezahlen zum Teil erheblich gesunken. Betroffen sind vor allem die Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ), die aus den Förderschulen alter Prägung hervorgegangen sind und die sich vor allem um Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung (LSE) kümmern. Aufgrund der zum Teil sehr ideologisch durchgezogenen Inklusion bleiben manche Schüler mit emotionalem und sozialem Förderbedarf auf der Strecke und Lehrer werden an Regelschulen überfordert. So fehlen für Kinder, die schwer beschulbar sind, Therapieplätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder einer Förderschule, die sich wieder explizit auf die emotionale und soziale Entwicklung konzentriert. Gleichzeitig wird immer mehr Kindern mit erhöhtem Unterstützungsbedarf an allgemeinbildenden Schulen in Hamburg eine individuelle Schulbegleitung gewährt, um einen geordneten Unterricht an Regelschulen gewährleisten zu können. Während im Schuljahr 2011/2012 in circa 460 Fällen eine Schulbegleitung bewilligt wurde, hat sich die Zahl der begleiteten Schülerinnen und Schüler bis zum Schuljahr 2016/2017 auf 1.874 erhöht, wie die Senatsantwort auf meine Schriftliche Kleine Anfrage Drs. 21/13802 ergeben hat. Es stellt sich die Frage, ob in Hamburg derzeit geeignete Grundlagen für eine gelungene Kooperation von Förder- und Regelschulen, das geeignete Förderangebot und die größtmögliche Durchlässigkeit für jeden Schüler geschaffen worden ist. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die letzte Schule für Verhaltensgestörte war im Hamburg bereits mit Wirkung vom 01.08.2004 geschlossen worden. Die ReBBZ haben die Kernaufgabe, die Inklusion gemeinsam mit den allgemeinen Schulen voranzubringen. Sie beraten und unterstützen allgemeinbildende Schulen, Schülerinnen und Schüler sowie deren Sorgeberechtigte in allgemeinen Fragen der Bildung und Erziehung ebenso wie in speziellen Fragen zur sonderpädagogischen Förderung und zur inklusiven Bildung. Sie beschulen dauerhaft Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache Drucksache 21/14239 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 oder emotionale und soziale Entwicklung, wenn Sorgeberechtigte dies wünschen. Es wurden keine Angebote eingeschränkt, sondern flächendeckend fortgeführt. Schließlich betreuen und beschulen die ReBBZ Kinder und Jugendliche mit besonders herausforderndem Verhalten temporär in regionalen Kooperationen zwischen Schule und Jugendhilfe gemäß Rahmenvereinbarung von BSB, BASFI und Bezirken vom 01.02.2013. Auch hier ist die Zustimmung der Sorgeberechtigten notwendig. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. An welchen staatlichen und privaten Förderschulen Hamburgs gab es in den letzten zwei Schuljahren Wartelisten für Kinder (bitte je nach Schule aufschlüsseln nach Anzahl und durchschnittlicher Wartezeit)? Es gibt keine Wartelisten oder Wartezeit, weder in den Bildungsabteilungen der ReBBZ noch an Schulen in freier Trägerschaft, die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung beschulen. 2. In wie vielen Fällen haben sich in den letzten zwei Schuljahren Eltern dafür entschieden, ihre Kinder von der Regelschule auf eine Förderschule zu geben und wie viele wurden jeweils an einer privaten beziehungsweise staatlichen Förderschule beschult? Schulformwechsler von allgemeinen Schulen an staatlichen Regionalen Bildungs - und Beratungszentren (ReBBZ) und an Sonderschulen in freier Trägerschaft im Schuljahr 2016/17 und 2017/18 Schulformwechsel Schuljahr 2016/17 2017/18 von allgemeiner Schule an ReBBZ-Bildungsabteilung 215 223 von allgemeiner Schule an Sonderschule in freier Trägerschaft 48 40 gesamt 263 263 Quelle: Schuljahresstatistik 2016 und 2017 3. In wie vielen Fällen in den letzten zwei Schuljahren kam es zu Komplikationen im Unterricht einer Regelschule aufgrund von Problemen mit Schülern, die keinen Platz an einer geeigneten Förderschule bekommen haben? Siehe Antwort zu 1. 4. Hält der Senat an seiner Überzeugung fest, dass die Abschaffung von Förderschulen für verhaltensgestörte Kinder der richtige Weg war und durch gemeinsame Regelbeschulung von Kindern mit und ohne Förderbedarf sowie der Zusammenlegung von Lern-, Sprach- und emotionalen Förderbedarfen adäquat ersetzt worden ist? Ja. Die Abschaffung von Sonderschulen für Verhaltensgestörte erfolgte bereits 2004 und nicht in der Zeit des aktuellen Senats. Die Gründung der ReBBZ diente einerseits der Unterstützung der Umsetzung der inklusiven Bildung an Hamburgs Schulen gemäß § 12 HmbSG, ermöglichte andererseits mit ihren Bildungsabteilungen für die Beschulung von Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache oder emotionale und soziale Entwicklung die Sicherstellung des Elternwahlrechtes zwischen inklusiver Beschulung oder Beschulung in einer Sonderschule. Zu diesem Zeitpunkt existierte die Schule für Verhaltensgestörte bereits seit über acht Jahren nicht mehr. 5. Sieht der Senat Alternativen zur immer weiter steigenden Anzahl von Schulbegleitungen für Schüler mit erhöhtem Unterstützungsbedarf, die durch eine Umstellung des Systems bezüglich der Förderschulen bewirkt werden könnte? Wie bereits in Drs. 21/13802 ausgeführt, erfolgte aufgrund der Steigerung der Fallzahlen eine umfassende Reorganisation der Verfahren zur Bewilligung von Schulbegleitungen durch die für Bildung zuständige Behörde. So hat sich im Schuljahr 2017/2018 diese Entwicklung mit insgesamt 1.008 Maßnahmen Bewilligungen nicht fortgesetzt. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/14239 3 Im Übrigen siehe Drs. 21/12544. 6. Inwieweit kann man noch von Inklusion sprechen, wenn immer mehr Schüler an Regelschulen eine Schulbegleitung benötigen? Die Ausgestaltung und konkrete Umsetzung von Schulbegleitungsmaßnahmen orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen der jeweiligen Schülerin oder des jeweiligen Schülers. In diesem Sinne wirkt Schulbegleitung als Ergänzung und Bestandteil des inklusiven Bildungssystems und ermöglicht auch Kindern mit massiven Förderbedarfen im Bereich der sozialen und emotionalen Entwicklung durch eine förderplangeleitete und zielgerichtete Unterstützung Teilhabe am schulischen Leben im Allgemeinen und am Unterrichtsgeschehen im Besonderen. 7. Gibt es Untersuchungen, inwieweit Kinder ohne Förderbedarf von Störungen durch verhaltensauffällige Mitschüler beeinträchtigt werden? Es gibt allgemeine Studien zu der Frage, ob Schülerinnen und Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in der inklusiven Beschulung durch die gemeinsame Unterrichtung in ihrem Lernerfolg beeinträchtigt werden. Die Ergebnisse weisen nicht darauf hin. Zugleich konstatiert Willmann1, dass lediglich „0,5-1,0 Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs derart gravierende Verhaltensprobleme aufweisen , dass eine temporäre Förderung in separaten Lernumgebungen indiziert ist“. Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass Störungen von verhaltensauffälligen Mitschülerinnen und Mitschüler mit einer Beeinträchtigung des Lernprozesses für Schülerinnen und Schüler ohne Förderbedarf einhergehen. 8. Wie viele Therapieplätze sind für Kinder und Jugendliche in Hamburg vorgesehen und wie lange ist durchschnittlich die Wartezeit für die Betroffenen? Die Zahl der zur Versorgung von gesetzlich krankenversicherten Patientinnen und Patienten zugelassenen Fachärztinnen und Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie beziehungsweise Kinder und Jugendliche betreuenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten lag nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH) am 01.01.2018 bei 48,45 Ärztinnen und Ärzten beziehungsweise 137,5 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Die Zwischenfortschreibung 2017 des Krankenhausplans 2020 der Freien und Hansestadt Hamburg weist für die Krankenhäuser mit Fachabteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Hamburger Stadtgebiet 205 vollstationäre und 74 teilstationäre Behandlungsplätze aus. Der zuständigen Behörde liegen keine Hinweise auf nennenswerte Wartezeiten vor. In Einzelfällen kann es indikationsbedingt oder aus Gründen der Therapieplanung zu Wartezeiten kommen. Eine Abfrage der Wartezeiten bei den einzelnen Leistungsanbietern konnte in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht durchgeführt werden. 9. In wie vielen Fällen und aus welchen Gründen sind in den letzten zwei Schuljahren Kinder und Jugendliche, die als „nicht beschulbar“ galten beziehungsweise denen eine Therapie abgelehnt worden ist, zurück auf eine Regelschule beziehungsweise an eine Förderschule verwiesen worden? 10. Welche Lösungen sind für die unter 9. angesprochenen Fälle vorgesehen ? Die in der Fragestellung dargestellte Annahme ist nicht korrekt, da Maßnahmen von Schule, Jugendhilfe und klinisch/therapeutischen Einrichtungen Hand in Hand greifen, um auch Schülerinnen und Schülern mit besonders herausforderndem Verhalten 1 Willmann 2014, 319; Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen in Europa. In: Wember, F., Stein, R. & Heimlich, U. (Hrsg.): Handlexikon Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen . Stuttgart: Kohlhammer, 316 – 319. Drucksache 21/14239 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 schulische Teilhabe zu ermöglichen und zugleich die Schulen in ihrer Aufgabe zu unterstützen. Im Übrigen siehe Antwort zu 4. 11. Gibt es im Senat bereits Überlegungen, wie zum Beispiel im Saarland, Förderschulen für emotionalen und sozialen Förderbedarf einzurichten? Wenn ja, wie weit sind diese Überlegungen fortgeschritten? Wenn nein, warum nicht? Nein, im Übrigen siehe Vorbemerkung und Antwort zu 4. 12. Beabsichtigt der Senat eine Aufstockung der Therapiekapazitäten für Kinder und Jugendliche und wenn ja, in welchem Umfang? Die Sicherstellung der vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung obliegt der KVH. Grundlage für die Bedarfsplanung der Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten ist die Bedarfsplanungs-Richtlinie. Danach besteht in Hamburg eine zahlenmäßige Überversorgung mit Fachärztinnen und Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie mit Kinder und Jugendlichen betreuenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Auch die Krankenhausplanung sieht gegenwärtig keine Aufstockung klinischer Therapiekapazitäten für Kinder und Jugendliche vor. Eine Überprüfung der Bedarfsgerechtigkeit in der voll- und teilstationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung erfolgt mit der Fortschreibung des Krankenhausplans 2020 im Verlauf der Jahre 2019 und 2020.