BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/14373 21. Wahlperiode 21.09.18 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein (FDP) vom 13.09.18 und Antwort des Senats Betr.: Vollstreckungsbehörde und Ermessensausübung– Wie stellt sich die Praxis von Überstellungsanträgen ins Ausland dar? Gemäß Paragraf 456a Absatz 1 Strafprozessordnung (StPO) kann „die Vollstreckungsbehörde von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, einer Ersatzfreiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung absehen, wenn der Verurteilte wegen einer anderen Tat einer ausländischen Regierung ausgeliefert, an einen internationalen Strafgerichtshof überstellt oder wenn er aus dem Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes abgeschoben, zurückgeschoben oder zurückgewiesen wird.“ Das Ermessen der Staatsanwaltschaft ist hier entscheidend zu berücksichtigen. Unter Beteiligung von Justiz- und Innenbehörde soll es nun eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Staatsanwaltschaft und Einwohnerzentralamt der Freien und Hansestadt Hamburg geben, die die Gewichtung von Rückführungsinteressen und Strafverfolgungsinteressen prüft. Der Senator für Justiz betonte, Klarheit darüber zu erlangen, unter welchen Umständen und Kriterien der Staat eine Rückführung stärker gewichtet und die Strafverfolgung aussetzen kann. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die Staatsanwaltschaft kann als Vollstreckungsbehörde von der Vollstreckung gemäß § 456a StPO unter anderem absehen, wenn der Verurteilte aus dem Geltungsbereich der Strafprozessordnung abgeschoben, zurückgeschoben oder zurückgewiesen wird. Es handelt sich hierbei um eine Entscheidung der Vollstreckungsbehörde, die von Amts wegen oder auf Antrag des Verurteilten ergeht, nicht auf Antrag der Ausländerbehörde . In ihrer Entscheidung muss sie die Interessen des Verurteilten gegen die Gründe abwägen, die gegen ein Absehen von der Vollstreckung sprechen. Zu berücksichtigen sind hierbei die Umstände der Tat, die Schwere der Schuld, die Höhe des verbüßten Teils der Strafe und das öffentliche Interesse an einer nachhaltigen Vollstreckung , wie auch die familiäre und soziale Lage des Verurteilten. Hinzu kommen bei Tätern der organisierten Kriminalität das Maß der Mitwirkung an der Erfüllung der vom Gericht angeordneten Einziehung des durch die Tat Erlangten sowie in engen Grenzen – etwa bei reisenden Tätern von Wohnungseinbruchsdiebstählen – kriminalpolitische Erwägungen, die eine nachhaltige Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafen geboten erscheinen lassen. Die Länder haben hierzu Richtlinien erlassen. So hat die Justizbehörde mit Verfügung vom 27. Januar 1992 bestimmt, dass eine (endgültige) Maßnahme nach § 456a StPO für die Vollstreckungsbehörde nur dann in Betracht kommt, wenn die Ausweisung des Verurteilten bereits bestandskräftig angeordnet worden ist und demnächst auch durchgeführt werden soll. Von der Vollstreckung einer zeitigen Freiheitsstrafe oder einer Jugendstrafe kann ganz oder vor Verbüßung der Hälfte teilweise abgesehen werden, wenn neben der Verurteilung eine in dem Verfahren erlittene Freiheitsentziehung oder die Auslieferung oder Ausweisung selbst zur Einwirkung auf den Verurteil- Drucksache 21/14373 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 ten ausreichend erscheinen. Zum Zeitpunkt der Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe ist eine Maßnahme nach § 456 a StPO in der Regel geboten. Werden mehrere Strafen nacheinander vollstreckt, ist bei der Berechnung des Halbstrafenzeitpunktes von der insgesamt zu vollstreckenden Strafe auszugehen. Ist eine Vollstreckungsbehörde außerhalb Hamburgs beteiligt, so ist mit dieser zuvor Einvernehmen über das weitere Vorgehen herbeizuführen. Eine über den Halbstrafenzeitpunkt hinausgehende Vollstreckung kommt nur dann in Betracht, wenn aus besonderen, in der Tat oder in der Person des Verurteilten liegenden Gründen eine nachhaltige Vollstreckung geboten ist oder eine solche zur Verteidigung der Rechtsordnung erforderlich erscheint. Eine frühzeitige Anwendung der Vorschrift wird daher nicht in Betracht kommen bei Tätergruppen, bei denen das öffentliche Interesse eine nachhaltige Strafvollstreckung gebietet, insbesondere bei Tätern der organisierten Kriminalität und der schweren Betäubungsmittelkriminalität. Auch können ausgewiesene Ausländer, die illegal in das Bundesgebiet zurückkehren, grundsätzlich mit einer Fortsetzung der Strafvollstreckung, das heißt gegebenenfalls Inhaftierung, rechnen. Eine lebenslange Freiheitsstrafe ist der Anwendung des § 456 a StPO nicht grundsätzlich entzogen. Hier wird eine Maßnahme nach § 456a StPO jedoch in der Regel nicht vor Verbüßung von zwölf Jahren in Betracht kommen. Vor der Anordnung der Maßnahme ist der Justizbehörde zu berichten. Soweit eine rechtskräftige Verurteilung noch nicht vorliegt, mithin § 465a StPO nicht zur Anwendung kommen kann, darf die Ausländerbehörde gemäß § 72 Absatz 4 Aufenth G eine Ausweisung oder Abschiebung nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft durchführen. Erst wenn über die öffentliche Klage (Anklage) rechtskräftig, durch Urteil oder endgültigen Einstellungsbeschluss, entschieden worden ist, endet die Einvernehmenspflicht. Die Strafverfolgung hat dabei den Vorrang vor Abschiebung oder Ausweisung. Zwar regeln die §§ 53 folgende AufenthG, dass das Rückführungs- beziehungsweise Ausweisungsinteresse sich insbesondere auch danach bestimmt, ob der Betroffene sich rechtstreu verhalten hat und führen zur Definition eines besonders schwer wiegenden Ausweisungsinteresses einen Straftatenkatalog auf. Allerdings beziehen sich diese auf rechtskräftig abgeschlossene Verfahren. Auch nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz des Bundesministeriums des Innern soll § 72 Absatz 4 verhindern, dass durch die ausländerrechtlichen Maßnahmen der Ausweisung und Abschiebung die Strafverfolgung wesentlich erschwert oder vereitelt wird (Ziffer 74.4.1). Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 17. Juni 2010 festgestellt, dass Abschiebung und Abschiebungshaft in den Fällen mangelnder Zustimmung der Staatsanwaltschaft ausscheiden und dies mit Beschluss vom 18. August 2010 auf die Fälle der Zurückschiebung ausgedehnt. Ausnahmen gelten bei geringem Strafverfolgungsinteresse. Zuletzt haben sich die Staatsrätin der Justizbehörde und der Staatsrat der Behörde für Inneres und Sport gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern ihrer Häuser, der Staatsanwaltschaft und des Einwohner-Zentralamtes Ende August dieses Jahres getroffen und die vor einer rechtskräftigen Entscheidung bei der Abwägung zwischen Strafverfolgungs- und Rückführungsinteresse zu beachtenden Gesichtspunkte einvernehmlich erörtert. Die maßgeblichen Kriterien und Wege wurden dabei gemeinsam geprüft und als angemessen und zielführend bewertet. Zugleich wurde zwischen Staatsanwaltschaft und Einwohner-Zentralamt verabredet, die Kommunikation in konkreten Einzelfällen noch weiter zu intensivieren, um das gegenseitige Verständnis zu verbessern und die effektive Bearbeitung weiterhin zu sichern. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Frage wie folgt: 1. Wie viele Fälle von Überstellungsanträgen zur Vollstreckung einer in Deutschland ausgesprochenen Strafe von ausländischen Verurteilten, die in Hamburger JVAs waren, hat es seit 2015 gegeben? Wie viele Bewilligungen und wie viele Ablehnungen waren darunter? Für den Zeitraum 2015 bis 2018 sind 32 Verfahren zur Überstellung verurteilter Personen in deren Heimatstaat erfasst, im Einzelnen: - In sieben Verfahren wird derzeit die Stellung eines Übernahmeersuchens geprüft. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/14373 3 - In sechs Fällen ist über die Übernahmeersuchen seitens der Vollstreckungsstaaten noch nicht entschieden worden. - Acht Personen wurden überstellt. - In zwei Fällen wurden die Übernahmeersuchen vom Vollstreckungsstaat abgelehnt . - In drei Fällen hat die Staatsanwaltschaft die Anträge der Verurteilten, ein Übernahmeersuchen an ihren Heimatstaat zu stellen, abgelehnt. - In drei Fällen haben die Verurteilten ihre Anträge zurückgenommen. - In zwei Fällen hat die Staatsanwaltschaft ihr Ersuchen an den Vollstreckungsstaat zurückgenommen. - In einem Fall fand das Verfahren durch eine parallel getroffene Absehensentscheidung nach § 456a StPO seine Erledigung. 2. In wie vielen Fällen wurde seit 2015 von einer Vollstreckung der Strafe gemäß § 456a Absatz 1 StPO abgesehen? Bitte die Gründe benennen? Im Vorgangsbearbeitungs- und Vorgangsverwaltungssystems der Staatsanwaltschaft MESTA – dem sich im Sinne der Fragestellung keine validen Daten entnehmen lassen , weil es nicht als Statistikprogramm konzipiert ist – werden die Absehensentscheidungen nach § 456a StPO nicht zuverlässig erfasst. Eine Antwort ist daher bezogen auf Absehensentscheidungen der Staatsanwaltschaft Hamburg als Vollstreckungsbehörde nicht möglich. Entlassungen aus den Hamburger Justizvollzugsanstalten infolge von Absehensentscheidungen erfolgten seit 2015 in 240 Fällen (Stand 18.09.2018). Hierbei können aber auch Absehensentscheidungen auswärtiger Strafvollstreckungsbehörden zugrunde liegen. Dies und die Gründe der Entscheidungen im Einzelnen können in der für die Beantwortung der Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht ermittelt werden. Im Übrigen siehe Drs. 21/13956. In der Leitstelle des Fachverfahrens der Ausländerbehörde war aufgrund aktueller krankheitsbedingter Personalausfälle eine Auswertung dieser Fälle in der für die Beantwortung dieser Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. 3. Nach welchen Kriterien übt die zuständige Behörde nach § 456a Absatz 1 StPO ihr pflichtgemäßes Ermessen aus? a. Inwieweit werden Umstände der Tat, Schwere der Schuld, Dauer der bereits verbüßten Strafe, öffentliches Interesse an der Durchsetzung des Strafanspruchs sowie die Lage der Verurteilten berücksichtigt ? b. Welche maßgeblichen Umstände müssen im konkreten Fall miteinander abgewogen werden? c. Unter welchen genauen Umständen ist das Absehen von der Vollstreckung gemäß § 456a Absatz1 StPO vorgesehen? Siehe Vorbemerkung. 4. In wie vielen Fällen hat die Vollstreckungsbehörde in Hamburg vom § 456a Absatz 1 StPO Gebrauch gemacht und ihr Ermessen mit welchem Ergebnis ausgeübt? Bitte Fälle der Jahre 2011 bis 2018 nach Jahren gegliedert darstellen? a. Welche Gewichtung wurde in diesen Fällen den Rückführungsinteressen und den Strafverfolgungsinteressen eingeräumt? Unter welchen Umständen werden beziehungsweise können die Rückführungsinteressen stärker berücksichtigt werden? b. In wie vielen Fällen handelte es sich bei der Anwendung von § 456a Absatz 1 StPO um bereits verurteilte Personen und um straffällig gewordene Personen? c. In wie vielen Fällen wurden Personen ausgeliefert, überstellt oder in ein anderes Land ausgewiesen? Bitte anhand von Prüfungen im Drucksache 21/14373 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Rahmen von § 456a Absatz 1 StPO der Vollstreckungsbehörde und seit 2011 darstellen. Siehe Antwort zu 2. 5. Gibt es Vorgaben/Anweisungen der zuständigen Behörde an die Vollstreckungsbehörde , wie das pflichtgemäße Ermessen auszuüben sei beziehungsweise nach welchen Kriterien die Gewichtung gemäß § 456a Absatz 1 StPO erfolgen solle? Wenn ja, bitte darstellen? Siehe Vorbemerkung. 6. Wer trifft federführend die Entscheidungen als Vollstreckungsbehörde für Überstellungsanträge zur Vollstreckung ins Ausland? Sind dies die Oberstaatsanwälte und/oder die Staatsanwälte in Hamburg? Die Entscheidungen darüber, ob ein Ersuchen um Übernahme der Vollstreckung an den Heimatsstaat des Verurteilten gerichtet wird, sind dem Leiter der Hauptabteilung I der Staatsanwaltschaft zugewiesen. 7. Hat die Arbeitsgruppe zwischen Staatsanwaltschaft und Einwohnerzentralamt bereits ihre Arbeit aufgenommen? Wenn ja, welche Ergebnisse sollen in welchem Zeitraum erarbeitet werden und welche Zielsetzungen werden verfolgt? Siehe Vorbemerkung.