BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/1488 21. Wahlperiode 15.09.15 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Daniel Oetzel (FDP) vom 07.09.15 und Antwort des Senats Betr.: Anwendung von Wechselmodellen bei Trennung von Eltern Marc Serafin, Dipl.-Sozialarbeiter und Leiter eines Jugendamtes, stellt in einem Artikel in „ZKJ − Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe“ vom Mai 2015 fest: „Zur besseren Bewältigung der Trennungskonflikte bedarf es fachlicher und institutioneller Umorientierungen. Längst sind in der heutigen gesellschaftlichen Lebenspraxis eine breitgefächerte Pluralität und Diversität von Lebensstilen und die Zunahme von multilokalen Formen des familiären Zusammenlebens kennzeichnend und wegweisend.“ In vielen der europäischen Nachbarländer ist die gemeinsame elterliche Verantwortung (auch im juristischen Sinne) ab der Geburt des Kindes eine Selbstverständlichkeit und werden streitdeeskalierende Modelle von anteiliger Betreuung (paritätische Doppelresidenz) und entsprechend anteiliger Unterhaltsaufteilung ausdrücklich gefördert und gewünscht. Gegenwärtig besteht Nachholbedarf bei der Überwindung ideologischer Familienbilder und überholter Geschlechterrollenzuweisungen für getrennte Eltern  bei der Herausbildung lösungs- und ressourcenorientierter Fachstandards im gesamten Handlungsfeld,  bei der konsequenten Umsetzung elterlicher Gleichstellung in der Beratungs -, Familienrechts- und Verwaltungspraxis,  bei der Anpassung des bestehenden Unterhaltsrechts an Formen anteiliger Betreuung,  beim Ausbau von Strukturen der Zusammenarbeit und Qualitätsentwicklung zwischen den verfahrensbeteiligten Fachprofessionen im Sinne der Hamburger Praxis und  beim Ausbau präventiver Unterstützungsangebote der Jugendhilfe zur Bewältigung von Trennung und Scheidung als kritischem Lebensereignis im familiären Entwicklungsverlauf. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Das fachliche vom Gesetzgeber formuliertes Ziel ist es, nach einer Trennung oder Scheidung der Eltern das gemeinsame Sorgerecht zu erhalten und zu einer einver- Drucksache 21/1488 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 nehmlichen Umgangs- und Betreuungsregelung in Bezug auf die Kinder zu kommen. In vielen Fällen gelingen Eltern die notwendigen Absprachen zum Umgang und zur Betreuung selbständig, in anderen Fällen sind Familiengerichte, Jugendamt sowie freie und öffentliche Träger an der Erarbeitung von tragfähigen Umgangs- und Betreuungsmodellen nach der Trennung beteiligt. Nach Auffassung der zuständigen Behörde kann ein ausreichender und gelingender Umgang der Kinder mit beiden Elternteilen in der Regel der Stabilisierung der Kinder in der für alle beteiligten neuen Lebenssituation dienen. Das Wechselmodell beziehungsweise die paritätische Doppelresidenz ist eine von verschiedenen Möglichkeiten , wie Eltern auch nach einer Trennung das gemeinsame Sorgerecht ausüben können . Wenn durch eine paritätische Aufteilung der Betreuung an den jeweiligen Lebensorten der Eltern die Kinder beide Elternteile auch zeitlich in etwa gleichem Umfang erleben können, kann dies elterliche Konflikte entschärfen und Loyalitätskonflikte der Kinder vermeiden helfen. Die Durchführbarkeit eines solchen Wechselmodells erfordert allerdings neben verschiedenen Umfeldfaktoren (nahe gelegene Wohnorte , Abstimmung der Arbeitszeiten, akzeptable Entfernungen zu Kitas und Schulen) auch eine hohe Kooperationsfähigkeit der Eltern und regelmäßige Absprachen im Alltag. Grundsätzlich hängen die zu vereinbarenden Sorgerechts- und Umgangsregelungen vom Einzelfall ab, sie richten sich insbesondere nach dem Wohl des Kindes und den jeweils zu berücksichtigenden Umständen der Trennungssituation. Insofern können bestimmte Modelle wie zum Beispiel das Wechselmodell nicht vorab als Leitbild vorgegeben werden, sondern die am Verfahren beteiligten Professionen – insbesondere Jugendhilfe und Familiengerichte – müssen jeweils auf den Einzelfall bezogen in Zusammenarbeit mit den Eltern die bestmögliche Lösung für Umgangs- und Betreuungsregelungen finden. Fachliche Standards werden dabei ständig aktualisiert, diskutiert und zwischen den Professionen ausgetauscht im Rahmen von Aus- und Fortbildung, Dienst- und Fachbesprechungen sowie im Arbeitskreis „Hamburger Praxis“ (siehe www.hamburg.de/ hamburger-praxis). Die zuständigen Behörden sehen daher keine Notwendigkeit zu einer grundlegenden Umorientierung der an Trennungs- und Scheidungsverfahren sowie Umgangsregelungen beteiligten Institutionen. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Welche Weiterbildungsangebote existieren im Rahmen der oben genannten Schwerpunktthemen, insbesondere hinsichtlich einer Präferenz für eine Elternschaft auf Augenhöhe im Sinne der paritätischen Doppelresidenz auch nach Trennung und Scheidung? Ziel der Fortbildung in diesem Themenbereich ist unter anderem, sozialpädagogische Fachkräfte über die rechtlichen und fachlichen Entwicklungen zu informieren, lösungsund ressourcenorientierte Methoden der Beratung und Aufarbeitung der Trennungskonflikte kennenzulernen und anzuwenden und die Aspekte des Kindeswohls zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund wurden in den Jahren 2014 und 2015 im Fortbildungsprogramm für Sozialpädagogische Fach- und Führungskräfte des Sozialpädagogischen Fortbildungszentrum (SPFZ) der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) unter anderem folgende Fortbildungsveranstaltungen offen ausgeschrieben: • Mediation – Konfliktbearbeitung in Alltag und Beruf, • Familienstrukturen in interkulturellen Vergleich, • Die Mitwirkung des Jugendamtes im familiengerichtlichen Verfahren, • Hochstrittige Elternkonflikte als Herausforderung für die Beratungsarbeit. Darüber hinaus bietet das SPFZ der BASFI keine Fortbildungen mit dem alleinigen Ziel an, die teilnehmenden sozialpädagogischen Fachkräfte über die Möglichkeit der paritätischen Doppelresidenz zu informieren. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/1488 3 2. Wird im Rahmen der familienrechtlichen „Hamburger Praxis“ kontinuierlich an einer Verbesserung der Zusammenarbeit der familiären Professionen gearbeitet, um die Ergebnisse strittiger Verfahren a. stärker auf eine Eigenentscheidung der Eltern hinzuführen und b. mit dem Ziel der Erhaltung kindlicher Bindungen zu beiden Eltern zu führen? 3. Werden die Ergebnisse solcher Aktivitäten gemessen und bestehen Aufzeichnungen und Dokumentationen über erzielte Fortschritte? Der Arbeitskreis „Hamburger Praxis“ arbeitet auch weiterhin kontinuierlich an einer Verbesserung der Zusammenarbeit der am familiengerichtlichen Verfahren beteiligten Professionen. Aufzeichnungen oder Dokumentationen über erzielte Ergebnisse werden nicht erstellt; es findet jedoch ein regelmäßiger Austausch im Arbeitskreis und darüber hinaus auch innerhalb der Professionen statt. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. Der Landesjugendhilfeausschuss formuliert in einem Positionspapier zur Personalentwicklung unter Punkt 3: „Im Zuge der Verankerung des „lebenslangen Lernens“ ist von pädagogischen Fachkräften eine Bereitschaft zur Fort- und Weiterbildung zu erwarten. Insofern befürworten wir eine für Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindliche Fortbildungspflicht der Fachkräfte im Umfang von ca. 40 Stunden jährlich, die z.B. auch eigene Veranstaltungen einschließen kann. Die Verbindlichkeit für die Arbeitgeber bedeutet dabei, dass seitens der Arbeitnehmer ein Anspruch auf Freistellung im entsprechenden Umfang und Kostenbeteiligung der Arbeitgeber bestehen muss.“ 4. Wer übt Einfluss auf die Curricula dieser Fortbildungen aus? 5. Werden die eingangs formulierten Feststellungen aktiv als Gegenstände dieser Curricula berücksichtigt oder gefördert? Fortbildungen haben zumeist den Charakter eines Angebotes an die einzelnen Fachkräfte oder ihre Anstellungsträger. Fachkräfte streben aus eigener Initiative die Teilnahme an und bitten ihren Anstellungsträger um die Zustimmung und die Finanzierung entstehender Kosten. Im Zusammenhang mit internen Personal- oder Qualitätsentwicklungsmaßnahmen motiviert der Anstellungsträger die Fachkräfte zur Teilnahme . Die wesentlichen Inhalte von Fortbildungen entwickelt der Fortbildungsträger, zum Beispiel das SPFZ, unter Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher, fachlicher und rechtlicher Grundlagen. Das SPFZ hat Fachanweisungen und Empfehlungen der zuständigen Fachämter der BASFI zu beachten. Bei Themen mit herausgehobenem fachpolitischem Stellenwert erfolgt stets zusätzlich eine Abstimmung mit den Fachabteilungen in der BASFI. Ist die Teilnahme an Fortbildungen durch die öffentlichen Träger , zum Beispiel die Fachämter für Jugend- und Familienhilfe, als verbindlich vorgesehen , werden die Inhalte auch mit diesen Anstellungsträgern abgestimmt. Eine enge Abstimmung erfolgt auch, wenn die Dienststelle eines öffentlichen Trägers die Durchführung einer auf die konkreten Arbeitsanforderungen zugeschnittenen Fortbildung anstrebt. Im Übrigen siehe Antwort zu 1. und Vorbemerkung. 6. Inwieweit ist durch die Öffentlichkeit überprüfbar, welche Maßnahmen die öffentlichen und freien Träger durchgeführt haben und ob diese Maßnahmen an der benötigten Umorientierung im Sinne des Einführungstextes ausgerichtet werden? Das SPFZ unterbreitet den Fachkräften jährlich ein Programm offen ausgeschriebener Fortbildungsveranstaltungen, das unter anderem auf der Internetseite www.hamburg.de/spfz eingesehen werden kann. Drucksache 21/1488 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 7. Wie wird konkret sichergestellt, dass insbesondere der Erkenntnisstand zur Kindeswohldienlichkeit der paritätischen Doppelresidenz im Wissensstand der Beraterinnen und Berater der Jugendhilfe verankert ist? Aktuelle Forschungsergebnisse werden im regelmäßigen fachlichen Austausch sowie im Rahmen der Fort- und Weiterbildung bekannt gemacht und fließen in die Beratungsprozesse ein. Im Übrigen siehe Antwort zu 1. und Vorbemerkung. 8. Wie sollen Berater in- und außerhalb von Verfahren mit Eltern umgehen können, um die Vorteilhaftigkeit zu vermitteln? Siehe Vorbemerkung. Aktuelle Zahlen: 9. Wie viele Verfahren zum elterlichen Umgang, wie viele Verfahren zur elterlichen Sorge werden in Hamburg geführt? (Bitte für die Jahre 2011, 2012, 2013 und 2014 aufschlüsseln.) Es wird statistisch nicht erfasst, wie viele Verfahren zur elterlichen Sorge und zum Umgangsrechts in Hamburg zu einem bestimmten Stichtag geführt werden. Eine händische Auswertung ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Es existieren belastbare Statistiken zu den Erledigungszahlen, die nachfolgend aufgeführt werden. Verfahrensgegenstand elterliche Sorge Erledigte Verfahren AG Erledigte Verfahren OLG 2011 3791 220 2012 3837 212 2013 4321 228 2014 4801 251 Verfahrensgegenstand Umgangsrecht Erledigte Verfahren AG Erledigte Verfahren OLG 2011 1657 84 2012 1602 96 2013 1723 69 2014 1656 84 10. Wie viele SGB-VIII-Maßnahmen wurden von öffentlichen, wie viele von freien Trägern der Jugendhilfe wahrgenommen? (Bitte aufschlüsseln für 2011 − 2014 aufgeteilt nach §§ 16,17,18, 50, 51 SGB VIII und Trägern.) Die nachstehende Aufstellung enthält die im möglichen Zusammenhang mit Trennung und Scheidung stehenden Maßnahmen nach den §§ 16 bis 18 und 50 SGB VIII für die Jahre 2012 bis 2014. Für 2011 liegen keine verwertbaren Daten vor. Die Maßnahmen nach § 51 SGB VIII sind für die Jahre 2011 bis 2014 aufgeführt. Öffentliche Träger Freie Träger § 16 § 17 § 18 § 50 § 51 § 16 § 17 § 18 § 50 § 51 2011 24 - 2012 3.043 1.506 2.115 528 25 547 248 267 1.723 - 2013 3.815 1.899 2.760 1.004 22 536 233 314 1.799 - 2014 3.847 2.389 4.603 1.371 21 613 219 324 1.850 - Quellen: Berichtswesen Familienförderung für die Berichtsjahre 2012 bis 2014, gesonderte Angaben der Bezirke zu auf freie Träger übertragenen Aufgaben nach § 18 Absatz 3 Satz 4 und § 50 SGB VIII und zu den Daten nach § 51 SGB VIII Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/1488 5 11. Ist dem Senat bekannt, wie viel Personal in den oben angeführten Beratungs - und Verfahrensbeteiligungsfeldern arbeitet? (Bitte nach Träger für die Jahre 2011 − 2014 aufschlüsseln.) Für die öffentlichen Träger arbeiten die Fachkräfte der Allgemeinen Sozialen Dienste und der Erziehungsberatungsstellen in den oben angeführten Beteiligungsfeldern. Der Umfang an Fachkräften in den Allgemeinen Sozialen Diensten in Vollzeitäquivalenten in den Bezirksämtern betrug für die Jahre (jeweils Stichtag 31.12.; Quelle: Stichtagsabfrage ASD): 2011: 310,00 2012: 353,70 2013: 358,14 2014: 374,40 Für die Erziehungsberatungsstellen in öffentlicher Trägerschaft siehe Drs. 20/13239. Für die freien Träger der Jugendhilfe, die sich mit den Themenfeldern Trennungs- und Scheidungsberatung befassen, lässt sich das Personal nicht eindeutig ermitteln, da die Finanzierung über Zuwendungen erfolgt und teilweise mit Honorarkräften gearbeitet wird. Insofern liegen hierzu keine entsprechenden Informationen vor. Planungen des Senats: 12. Plant der Senat das Weiterbildungsprogramm aktiv zu verstärken, insbesondere hinsichtlich gemeinsamer Elternschaft und paritätischer Doppelresidenz ? Siehe Vorbemerkung sowie Antworten zu 1., 4. und 5. 13. Besteht eine Zusammenarbeit mit der Justizbehörde oder der Justizverwaltung des Hanseatischen Oberlandesgerichts, um auch für Familienrichter entsprechenden Weiterbildungsbedarf anzubieten und also vorteilhaft zu bewerben? Für Hamburger Richterinnen und Richter gibt es regelmäßige Fortbildungsangebote zum Umgangsrecht, welche immer auch die Erörterung des Wechselmodells beinhalten . Dies gilt auch für die Tagungen des Nordverbundes für Dezernatswechsler und für die Tagungen der Deutschen Richterakademie zum Umgangsrecht, an denen Hamburgs Richterinnen und Richter teilnehmen können. Im Jahr 2014 wurde in der landeseigenen Fortbildung eine eintägige Veranstaltung für Hamburger Familienrichterinnen und Familienrichter unter anderem mit dem Thema „Umgangsrecht im Spektrum zwischen Wechselmodell und Umgangsausschluss“ veranstaltet. Hamburg wird im Jahr 2016 eine eigene Tagung bei der Deutschen Richterakademie mit dem Thema „Kindschaftsrecht mit interdisziplinären Bezügen“ ausrichten. Auch hier wird das Umgangsrecht einschließlich des Wechselmodells ausführlich behandelt werden. 14. Gibt es Ansätze, wie solcherlei Maßnahmen vor dem Hintergrund richterlicher Unabhängigkeit positiv befördert werden können? Den mit dem Familienrecht befassten Richterinnen und Richtern ist das Wechselmodell bekannt. Nach geltender Rechtslage kann ein Wechselmodell nur einvernehmlich von den Eltern eingerichtet werden und gerade nicht gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden. Maßnahmen zur Förderung einer bestimmten Entscheidungspraxis werden durch die Gerichtsverwaltung auch vor dem Hintergrund der in Artikel 97 Grundgesetz verankerten richterlichen Unabhängigkeit nicht getroffen. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 15. Gibt es insbesondere für die öffentlichen Träger der Jugendhilfe interne Maßnahmen zur Umorientierung, die über die Weiterbildung hinausgehen ? (Zum Beispiel Umstrukturierungen der Organisation, neue Angebote , neue Systeme der QM unter Einbindung der freien Träger – wie es Drucksache 21/1488 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 6 das Personalentwicklungskonzept des Landesjugendhilfeausschusses ausdrücklich forderte.) Siehe Vorbemerkung.