BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/14950 21. Wahlperiode 16.11.18 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Dirk Nockemann (AfD) vom 08.11.18 und Antwort des Senats Betr.: Muslimische Frauenhäuser in Hamburg (II) Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein Phänomen, das in Deutschland zum Alltag gehört. Mit dem Ziel, die Gesellschaft für Delikte aus diesem Bereich zu sensibilisieren, hatten Fraueneinrichtungen in den 1970er-Jahren erstmals öffentlich auf das Thema hingewiesen. Seither ist Gewalt gegen Frauen weitgehend erforscht.1 Heute weiß man, dass gewalttätige Übergriffe gegen Personen weiblichen Geschlechts überproportional häufig im Verwandtschafts - und Freundeskreis stattfinden. Eine 2004 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) herausgegebene Studie hat gezeigt, dass etwa 25 Prozent der Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch Beziehungspartner erlebt haben.2 Dabei kommt es jeweils zu Angriffen, die sich kaum einheitlich beschreiben lassen, sondern vielmehr verschiedene Formen annehmen. Ferner ist deutlich geworden, dass 37 Prozent der Befragten bis zu ihrem 16. Lebensjahr mindestens einmal körperliche Gewalt erlebt haben. Indes erklärten 13 Prozent, in diesem Zeitraum sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein, wohingegen 58 Prozent angaben, in unterschiedlicher Weise sexuell belästigt worden zu sein.3 Der Polizeilichen Kriminalstatistik (2015) zufolge, in der häusliche Gewalt in Partnerschaften systematisch untersucht wird, wurden im Jahr 2015 insgesamt 65.800 Frauen zu Opfern von einfacher Körperverletzung. Ferner sind 16.200 Fälle von Bedrohung, 11.400 Fälle von gefährlicher Körperverletzung, 7.900 Fälle von Stalking sowie 331 Fälle von Mord und Totschlang registriert worden.4 Hinzu kommt, dass die Opfer von Vergewaltigung und sexueller Nötigung nahezu zu 100 Prozent weiblich sind. Die Vergleichswerte für Bedrohung und Stalking sowie Körperverletzungsdelikten liegen hingen bei 90 beziehungsweise 80 Prozent.5 Man kann feststellen, dass Gewalt gegen Frauen in Deutschland noch immer eine Erscheinung darstellt, von der ein großer Teil der weiblichen Bevölke- 1 Hierzu die 2014 im Auftrag der Europäischen Union erstellte Studie „Gewalt gegen Frauen – eine EU-weite Erhebung“. 2 Confer Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin 2004. Seite 8. 3 Confer ibidem. Seite 7. 4 Confer Frauen vor Gewalt schützen – Häusliche Gewalt. Abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeuslichegewalt /haeusliche-gewalt/80642?view=DEFAULT. 5 Confer ibidem. Drucksache 21/14950 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 rung im Laufe ihres Lebens betroffen ist. Dabei spielt keine Rolle, ob diese Gewalt physischen oder psychischen Ursprungs ist. Hierzu stellt das BMFSJ fest: „Die Befunde zeigen, dass alle erfassten Formen von Gewalt und Belästigung in hohem Maße zu psychischen Folgebeschwerden führen können, die von Schlafstörungen, erhöhten Ängsten und vermindertem Selbstwertgefühl über Niedergeschlagenheit und Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken , Selbstverletzung und Essstörungen reichen.“6 Um sich effektiv vor solchen Übergriffen zu schützen, haben Frauen mit hoher Gewaltprävalenz nicht selten keine andere Möglichkeit, als sich in sogenannte Frauenhäuser zu flüchten. Dabei handelt es sich um Einrichtungen, die Frauen und Mädchen aufsuchen können, um vorübergehend Unterstützung durch Fachpersonal sowie Schutz vor akuter Bedrohung durch Dritte zu erhalten. Vor diesem Hintergrund sucht die Politik unumwunden nach Mitteln und Wegen, um effektiv gegen Gewalt gegen Frauen vorzugehen. Dieses Ansinnen manifestiert sich auch im Staatsvertrag, den der Senat im November 2012 mit den muslimischen Glaubensgemeinschaften geschlossen hat. In Artikel 2 (2) heißt es zu den gemeinsamen Wertegrundlagen: „Die Freie und Hansestadt Hamburg und die islamischen Religionsgemeinschaften bekennen sich insbesondere zur Gleichberechtigung der Geschlechter und zur vollständigen und gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Mädchen am gesellschaftlichen und politischen sowie am schulischen und beruflichen Leben. Sie setzen sich für die Verwirklichung der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Mädchen ungeachtet ihrer religiösen Überzeugungen an Bildung , Erwerbstätigkeit und gesellschaftlichem Leben ein und wenden sich entschieden gegen jede Art von Diskriminierung.“7 Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die konsequente Durchsetzung des Opferschutzes ist in erster Linie eine staatliche Aufgabe, Hamburg fördert daher eine vielfältige Opferhilfelandschaft, die allen Gewaltbetroffenen unabhängig vom Einkommen, sozialen Status, aber auch Herkunft, Religion oder Weltanschauung offen steht und anonym in Anspruch genommen werden kann. Neben dem Staat kann – im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen und ganzheitlichen Verständnisses von Opferschutz – auch die Zivilgesellschaft in eigener Verantwortung einen Beitrag zur Verhütung von Gewalt leisten (siehe Drs. 20/10994, 21/4174, 21/10281). Der Senat hat insoweit mehrfach dargelegt, dass die Arbeit der islamischen Religionsgemeinschaften und der ihnen angehörenden Gemeinden über die religiöse Betreuung der Gemeindemitglieder hinausgeht, ohne dass die einzelnen Aktivitäten systematisch erfasst oder bewertet werden (siehe Drs. 21/9053 und Drs. 21/4035). In Umsetzung der Verträge mit den Religionsgemeinschaften sind die zuständigen Behörden regelmäßig im Gespräch zu verschiedensten fachbehördlichen Aspekten und Fragen des Zusammenlebens., siehe hierzu auch Drs. 21/13288 und 21/11794. Auch zu der gemeinwesenorientierten Arbeit der Religionsgemeinschaften hat der Senat wiederholt berichtet. Darüber hinaus siehe auch Drs. 21/11156. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wie viele Frauenhäuser8 werden gegenwärtig von den im Staatsvertrag als „islamische Religionsgemeinschaften“ bezeichneten Organisationen SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg, DITIB- Landesverband Hamburg e.V. und dem Verband der Islamischen Kulturzentren in Hamburg betrieben beziehungsweise unterstützt? 6 Confer Lebenssituation. Seite 13. 7 Confer Staatsvertrag Artikel 2 (2). 8 Gemeint sind Einrichtungen, in denen Frauen anonym Schutz vor Gewalt durch Dritte finden können. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/14950 3 2. Wie viele Fälle sind dem Senat bekannt, in denen Frauen aus muslimisch -migrantischem Herkunftskontext seit November 2017 aufgrund von gegen sie gerichteter Gewalt Strafanzeige erstattet haben? 3. Welche Bemühungen haben die oben genannten Organisationen seit November 2017 proaktiv unternommen, um Frauen zu unterstützen, die Opfer von folgender Gewalt geworden sind: a) physischer/häuslicher Gewalt durch Angehörige beziehungsweise Ehepartner; b) sexueller Gewalt durch Angehörige, Ehepartner beziehungsweise Fremde; c) psychische Gewalt durch Angehörige, Ehepartner beziehungsweise Fremde. 4. Wie viele Projekte, die Frauen die Möglichkeit bieten, sich häuslicher Gewalt zu entziehen, werden gegenwärtig von den oben genannten Organisationen unterhalten? 5. Wie viele Frauentelefone werden gegenwärtig von ihnen betrieben? 6. Wie lange bestehen diese und unter welchen Bedingungen sind sie erreichbar? 7. Welche Möglichkeiten haben muslimische Frauen in Hamburg, sich innerhalb ihrer Gemeinden vor gegen sie gerichteter Gewalt zu schützen , ohne ihre Identität öffentlich preiszugeben? Siehe Vorbemerkung sowie Drs. 21/11156. Darüber hinaus liegen keine neueren Erkenntnisse vor. 8. Welche Schritte hat der Senat seit November 2017 unternommen, um die islamischen Religionsgemeinschaften für das Thema „Gewalt gegen Frauen“ zu sensibilisieren? Falls ja, jeweils wann? Falls nein, warum nicht? 9. Wie haben die Vertreter der islamischen Religionsgemeinschaften darauf reagiert und welche Initiativen haben sie daraufhin ergriffen? Am 16. Oktober 2018 haben Imame der SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg e.V. an einer von der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration mit organisierten Informationsveranstaltung von i.bera – Interkulturelle Beratungsstelle für Opfer von häuslicher Gewalt und Zwangsheirat und LÂLE – Interkulturelle Beratung für Opfer von häuslicher Gewalt und Zwangsheirat teilgenommen. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 10. Sind dem Senat Fälle bekannt, in denen islamische Vereine sich im Rahmen von Workshops explizit mit dem Thema „Gewalt gegen Frauen in islamisch geprägten Gesellschaften“ auseinandergesetzt beziehungsweise die Stellung der Frau im Islam problematisierend erörtert haben? Siehe Vorbemerkung. 11. Was will der Senat tun, um Frauen aus islamischen Kulturkontexten dazu zu ermutigen, sich Hilfe bei häuslicher Gewalt zu suchen, auch wenn sich diese gegen eigene Familienangehörige richten würde? Hamburg fördert Schutz- und Beratungskonzepte, die Betroffene unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit ermutigen, Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen und eigene Ressourcen zu mobilisieren (sogenannter Empowermentansatz ). Auch Öffentlichkeitskampagnen – wie zum Beispiel 2017 die Hamburger Kampagne zu häuslicher Gewalt „aus-weg“ (https://aus-weg.de/) – tragen dazu bei, Menschen , die von Gewalt gefährdet oder betroffen sind, über ihre Rechte und Möglichkei- Drucksache 21/14950 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 ten aufzuklären und sie zu ermutigen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies entspricht den zentralen Leitlinien der Hamburger Opferschutzpolitik (siehe Drs. 20/10994). Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 12. Welche Intentionen hat der Senat bei der Formulierung von Artikel 2 (2) Staatsvertrag in Hinblick auf Gewalt gegen Frauen in muslimischer Milieus verfolgt und inwieweit sieht er diese bislang durch die Initiativer islamischer Verbände verwirklicht? Siehe Drs. 20/5830 und Vorbemerkung.