BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/14972 21. Wahlperiode 20.11.18 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Cansu Özdemir (DIE LINKE) vom 12.11.18 und Antwort des Senats Betr.: Geschlechtsspezifische Tötung von Frauen – Feminizide in Hamburg Weltweit wird international über das Thema geschlechtsspezifischer Tötung von Frauen und Mädchen diskutiert – dem Feminizid. Alle Tötungen von Frauen, die durch die hierarchischen Geschlechterverhältnisse motiviert sind, sind Feminizide. Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation ist ein Feminizid der vorsätzliche Mord an Frauen, weil sie Frauen sind (vergleiche http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/77421/WHO_RHR_12.38_eng .pdf). Jedoch fehlt es, auch in Deutschland, an der Implementierung von Beobachtungsstellen von Feminiziden und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie an Stärkung und Reformierung des Rechtssystems, um Feminizide zu verhindern. Zwar werden in Deutschland seit 2011 im Rahmen der Polizeilichen Kriminalstatistik Zahlen zu Tötungen von Frauen in (Ex-)Partnerschaften erhoben, diese Zahlen werden allerdings erst seit 2015 durch das Bundeskriminalamt kriminalistisch ausgewertet und der allgemeinem Öffentlichkeit so leichter zur Verfügung gestellt (vergleiche https://www.bka.de/DE/ AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/Partnerschaftsgewalt/ partnerschaftsgewalt_node.html). Dies sind jedoch die einzigen Erhebungen. Im Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017 wird demnach das Fazit gezogen, dass „aktuelle differenzierte Daten zu Gewalt gegen Frauen“ fehlen (www.gleichstellungsbericht.de/zweitergleichstellungsbericht .pdf. Seite 18). Entwicklungen in Mexiko, Peru und Argentinien zeigen, dass die öffentliche Debatte sowie unabhängige Berichterstattungen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) dazu führen können, dass zumindest in der Gesetzgebung die geschlechtsspezifische Tötung als solche benannt wird. So zeigen in Spanien und Argentinien zwei zivilgesellschaftliche und unabhängige Organisationen (femicido.net und La Casa del Encuentro) die Wichtigkeit davon, Daten über Feminizide aufzuschlüsseln, darzustellen und der Gesellschaft zugänglich zu machen. Diese und andere Statistiken machen deutlich, dass es sich bei Feminiziden um ein globales Phänomen handelt. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die im internationalen Raum geführte Diskussion zu dem Thema geschlechtsspezifischer Tötungen an Frauen, Mädchen sowie selektiver Abtreibung, dem sogenannten Femizid oder Feminizid, ist dem Senat bekannt. Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frau und Mädchen ist dem Hamburger Senat ein wichtiges Anliegen und wird auf der Basis des Hamburger Opferschutzkonzeptes und durch ein umfangreiches Hilfe- und Unterstützungssystem verfolgt, vergleiche Drs. 21/4174 und Drs. 20/10994. Aus dem in der Anfrage zitierten Papier der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird erkennbar , dass dort der Begriff des Femizid oder Feminizid nicht klar konturiert ist, sondern Drucksache 21/14972 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 verschiedene Interpretationsmöglichkeiten von einer sehr weiten Auslegung (Any killings of women and girls) bis hin zu einer engen Auslegung („intentional murder of women because they are women“) eröffnet werden. Weiterhin lassen sich unter dem Begriff Femizid unterschiedliche Ausprägungsformen und Typen subsummieren, wie beispielsweise der Mord einer Frau innerhalb und außerhalb einer Partnerschaft oder der Mord „im Namen der Ehre“. Diese Konstellationen zeichnen sich dadurch aus, dass das Geschlecht der Opfer beziehungsweise die ihnen aufgrund ihres Geschlechts zuerkannte gesellschaftliche Stellung für die Tatbegehung mitbestimmend ist; die aufgezeigten Kategorien von Taten werden ausschließlich oder ganz überwiegend zum Nachteil von Frauen begangen. Die Taten werden allerdings nicht ausschließlich deshalb begangen, weil es sich bei den Opfern um Frauen handelt. Vorsätzliche Tötungsdelikte richten sich, auch wenn sie einer typisierbaren Kategorie zuzuordnen sind, stets gegen das Individuum, weil sie das geschützte Individualrechtsgut des Lebens verletzen. Der Senat ist an das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbulkonvention) gebunden. Die dort fixierten Definitionen zu geschlechtsspezifischer Gewalt sind für die Arbeit des Senats maßgeblich. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Teilt der Hamburger Senat die Auffassung, dass es sich bei Feminiziden um Gewalttaten handelt, die auf der Gruppenzugehörigkeit Geschlecht basieren und sich nicht gegen das Individuum richten? 2. Verwenden der Hamburger Senat und die entsprechenden Behörden den Begriff des „Feminizides“? Wenn ja, wie lautet die Definition? Wenn nein, warum nicht? 3. Ist der Hamburger Senat der Ansicht, dass es sich bei der Tötung von Frauen in Beziehungen um Feminizide handelt? 4. Auf welche Merkmale berufen sich der Hamburger Senat und die entsprechenden Behörden bei geschlechtsspezifischer Tötung von Frauen? Bei einer vorsätzlichen Tötung, bei der das Geschlecht des Opfers für die Tatbegehung jedenfalls mitbestimmend ist, ist die strafrechtliche Bewertung anhand der Straftatbestände des 16. Abschnitts des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs vorzunehmen . Es ist durch Ermittlung und rechtliche Würdigung des Sachverhalts festzustellen , welcher der infrage kommenden Straftatbestände (insbesondere Mord gemäß § 211 Strafgesetzbuch oder Totschlag gemäß § 212 Strafgesetzbuch) erfüllt ist. Die Motive des Täters werden im Rahmen dieser rechtlichen Würdigung berücksichtigt, wenn sie für die rechtliche Einordnung der Tat relevant sind, etwa, weil sie ein Mordmerkmal erfüllen. Darüber hinaus sind die Motive des Täters bei der Strafzumessung des erkennenden Gerichts von Bedeutung. Im Übrigen siehe Vorbemerkung 5. Wie viele Frauen wurden nach Kenntnis des Hamburger Senates außerhalb von Paarbeziehungen in Hamburg getötet (bitte nach Datum und Tatbestand aufschlüsseln) seit 2016 bis zum jetzigen Zeitpunkt? Inwiefern hat der Hamburger Senat Kenntnis darüber, dass sich unter diesen Fällen Feminizide befinden? Die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ist auf Jahresauswertungen ausgelegt. Innerhalb eines Berichtsjahres unterliegt der PKS-Datenbestand einer ständigen Pflege, zum Beispiel durch Hinzufügen von nachträglich ermittelten Tatverdächtigen oder der Herausnahme von Taten, die sich im Nachhinein nicht als Straftat erwiesen haben. Eine Aufschlüsselung nach Datum wird in der PKS nicht dargestellt. Zu den im Sinne der Fragestellung in der PKS erfassten Daten siehe Anlage. Die Tatmotivation wird in der PKS nicht erfasst. Zur Beantwortung dieser Frage wäre eine Durchsicht aller Hand- und Ermittlungsakten des erfragten Zeitraums bis zum Stichtag 14. November 2018 bei der zuständigen Dienststelle des Landeskriminalam- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/14972 3 tes (LKA 41) erforderlich. Die Auswertung von 391 Vorgängen ist in der für die Beantwortung einer Schriftlichen Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich . Im Vorgangsverwaltungs- und Vorgangsbearbeitungssystem MESTA wird unter anderem nicht zuverlässig erfasst, ob ein Verfahren eine vollendete Tat zum Gegenstand hat, welches Geschlecht das Tatopfer hatte und ob es sich um die Gewalttat außerhalb einer Paarbeziehung handelt. Es müssten daher zur Beantwortung der Frage jedenfalls alle Verfahren beigezogen und händisch ausgewertet werden, in welchen als Tatvorwurf unter anderem § 211, § 212 oder § 227 StGB verzeichnet ist. Seit dem Jahr 2016 wurden 352 derartige Verfahren eingetragen. Die Beiziehung und Auswertung dieser Akten sind in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. MESTA ist im Übrigen nicht als statistisches Programm konzipiert. 6. Wie viele Verurteilungen von Tötungsdelikten nach dem Mordmerkmal der Heimtücke sind der Bundesregierung bekannt (bitte nach Geschlecht und Beziehung aufschlüsseln)? Siehe hierzu BT.-Drs. 19/4059. 7. Unterstützt der Hamburger Senat unabhängige Monitoring-Stellen zur Datenerhebung von geschlechtsspezifischer Tötung? Wenn ja, welche? Und um welche Art von Unterstützung handelt es sich? Den zuständigen Behörden liegen keine Erkenntnisse zu unabhängigen Monitoring- Stellen vor. 8. Welche Maßnahmen ergreift der Hamburger Senat, um geschlechtsspezifische Gewalt beziehungsweise Feminizide in der Gesellschaft sichtbar zu machen? Der Senat verfolgt bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt einen breiten Ansatz, der neben der Bekämpfung von Gewalt insbesondere die Prävention und den Schutz gewaltbetroffener Frauen und Mädchen verfolgt, siehe Drs. 20/10994, 21/4174. Dabei ist ein Ziel der Aktivitäten, auf die gesamtgesellschaftliche Dimension der Gewaltproblematik zu verweisen und zu einer Enttabuisierung des Themas beizutragen . Mit verschiedenen Öffentlichkeitskampagnen, wie zum Beispiel 2017 mit der mehrfach ausgezeichenten Kampagne „Aus-Weg“, https://www.hamburg.de/ opferschutz/9908842/opferschutzkampagne-aus-weg/ macht der Senat öffentlichkeitswirksam auf die Gewaltproblematik und das Hilfesystem aufmerksam. Rund um den Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen am 25. November unterstützt der Senat zudem jährlich verschiedene Aktionen, wie zum Beispiel die Brottütenkampagne „Gewalt kommt mir nicht in die Tüte“, http://www.gewaltkommtnichtindietuetehamburg .de/ und die Hissung der Fahne gegen Gewalt, https://www.aluartfahnenmast .de/news/fahnen-gegen-gewalt-fahnenaktion-terre-des-femmes/, am Hamburger Rathaus. Siehe auch Drs. 21/14950. 9. Wie stellt der Hamburger Senat und die entsprechenden Behörden sicher, dass Trans*personen und Intergeschlechtliche Personen bei geschlechtsspezifischer Tötung in den Statistiken auftauchen? Die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Länder hat auf ihrer Frühjahrskonferenz 2016 auf Initiative Hamburgs beschlossen, dass Hasskriminalität bundeseinheitlich bei den Staatsanwaltschaften erfasst wird. In Hamburg werden durch die Staatsanwaltschaft seit dem 1. Juli 2018 im Rahmen der Erfassung der Hasskriminalität unter anderem solche Taten statistisch erfasst, die sich auf die sexuelle Orientierung/Identität beziehen. 10. Liegen dem Hamburger Senat und den entsprechenden Behörden Daten vor, dass die weibliche Population, insbesondere Frauen mit Migrationsgeschichte , Sexarbeiter/-innen, Frauen mit Beeinträchtigung und obdachlose Frauen, in erheblichen Maße von Gewalt durch Partner und Ex-Partner betroffen sind und diese zudem häufig auch ein hohes Maß Drucksache 21/14972 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 an Diskriminierung und Gewalt außerhalb der Paarbeziehungen und in unterschiedlichen Lebenskontexten erfahren? Inwieweit werden diese Formen von Mehrfachbetroffenheit bei der Erhebung von Daten zu geschlechtsspezifischer Gewalt und Tötung von Frauen in Deutschland erfasst? Grundsätzlich wird bei der Opfererfassung in der PKS keine Mehrfachbetroffenheit ausgewiesen. Dies gilt sowohl für die Opferwerdung als auch für die Mehrfachbetroffenheit der genannten Merkmale, da bei der Erfassung der Opferspezifik das Merkmal erfasst wird, dass die engste Beziehung zu der Tat aufweist. Daten von Opfern/ Geschädigten zum Migrationshintergrund, zu ausgeübten Tätigkeiten und Beeinträchtigungen und Obdachlosigkeit werden in der PKS nicht erfasst. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die eine erhöhte Betroffenheit von Frauen mit Behinderungen durch unterschiedliche Formen von Gewalt belegen, sind dem Senat bekannt. Dies gilt auch für die erhöhte Betroffenheit von Gewalt von Frauen in Paarbeziehungen (siehe Drs. 20/10994). Im Zuge der 2004 veröffentlichten repräsentativen Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland “ (https://www.bmfsfj.de/blob/94206/1d3b0c4c545bfb04e28c1378141db65a/ lebenssituation-und-belastungen-von-frauen-mit-behinderungen-langfassungergebnisse -der-quantitativen-befragung-data.pdf) sowie der darauf aufbauenden Sekundärauswertung „Gesundheit-Gewalt-Migration“ in 2008 (https://www.bmfsfj.de/ blob/93964/588d6d5da075d2803f8696dfbbe3d35c/gesundheit-gewalt-migrationlangfassung -studie-data.pdf) wurden auch nicht repräsentative Zusatzbefragungen verschiedener Gruppen von Frauen, darunter mit türkischem oder osteuropäischem Migrationshintergrund sowie von Prostituierten ausgewertet. Aus diesen Teiluntersuchungen ergeben sich jeweils Hinweise auf gruppenspezifisch erhöhte Gewaltbetroffenheit in diesen Gruppen. Diese Hinweise wurden in der 2014 veröffentlichten Studie „Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen“ (https://www.bmfsfj.de/blob/93970/ 957833aefeaf612d9806caf1d147416b/gewalt-paarbeziehungen-data.pdf) nochmals bestätigt. insgesamt Partnerschaften insgesamt (inklusive ehemalige Partnerschaften) außerhalb von Partnerschaften 010079 Sonstiger Mord 1 0 1 020010 Totschlag § 212 StGB 5 3 2 030000 Fahrlässige Tötung 10 1 9 insgesamt Partnerschaften insgesamt (inklusive ehemalige Partnerschaften) außerhalb von Partnerschaften 010079 Sonstiger Mord 1 1 0 012000 Mord im Zusammenhang mit Sexualdelikten 1 0 1 020010 Totschlag § 212 StGB 1 1 0 020030 Tötung auf Verlangen 1 0 1 030000 Fahrlässige Tötung 10 0 10 insgesamt Partnerschaften insgesamt (inklusive ehemalige Partnerschaften) außerhalb von Partnerschaften 010079 Sonstiger Mord 7 3 4 020010 Totschlag § 212 StGB 3 3 0 030000 Fahrlässige Tötung 4 0 4 PKS- Schlüssel Delikt (vollendet) Anzahl weibliche Opfer davon PKS- Schlüssel Delikt (vollendet) Anzahl weibliche Opfer davon 01.01.2018 - 30.09.2018 Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung -formal- PKS- Schlüssel Delikt (vollendet) Partnerschaften insgesamt (inklusive ehemalige Partnerschaften) 01.01.2017 - 31.12.2017 01.01.2016 - 31.12.2016 Anzahl weibliche Opfer davon Seite 1 von 1 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/14972 5 Anlage 14972ska_text 14972ska_Antwort_Anlage