BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/15780 21. Wahlperiode 22.01.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom 14.01.19 und Antwort des Senats Betr.: Psycho-Rohrstock: Gewalt gegen Kinder durch „Neue Autorität“ Das Konzept der „Neuen Autorität“ von Haim Omer und Arist von Schlippe macht in pädagogischen Kreisen die Runde. Es verspricht denjenigen, die es anwenden, in Konfliktsituationen mit Kindern und Jugendlichen durch die Anwendung verschiedener technischer Mittel die Handlungshoheit wiederzuerlangen . Diese Handlungsfähigkeit gegenüber der Insubordination des Kindes gegenüber den Erwachsenen wird mit repressiven, autoritären Maßnahmen durchgesetzt, die einzig durch das Verbot körperlicher Gewalt und verbaler Herabsetzungen begrenzt wird. Ausgangspunkt für das Handeln ist die emotionale Welt der Erwachsenen. Kinder sind in dem Konzept der „Neuen Autorität“ einzig Objekt des Handelns. Rationalisiert und ausgeschmückt wird die „Neue Autorität“ mit einer Rhetorik des gewaltlosen Widerstands Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings – obwohl „Neue Autorität“ genau das Gegenteil ist: Durchsetzung von Herrschaft gegenüber Schutzbefohlenen und Unterlegenen; Machtverhältnisse werden umgekehrt, um den Einsatz massiver Eingriffe zu rechtfertigen. Seit 2014 werden am Institut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) Seminare für Lehrkräfte angeboten, die sogenannte Sieben Handlungsfelder der Neuen Autorität in die schulische Erziehung einführen sollen.1 Zuerst richtete sich die Fortbildung an Berufseinsteiger/-innen, mittlerweile auch an Pädagogische Fachkräfte und Beratungslehrer/-innen.2 Durch offizielle Mitteilungen der Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) wird unter Pädagogen /-innen wie Eltern für das Konzept der „Neuen Autorität“ geworben.3 Vor dem Hintergrund der grundlegenden Kritik4 an der Wiederauferstehung autoritärer pädagogischer Beeinflussung geht von der Anwendung des Konzepts der „Neuen Autorität“ die Gefahr aus, pädagogische Arbeit in ihrem Fundament anzugreifen sowie zugleich die jungen von den Vereinten Nationen verabschiedete Kinderrechtskonvention zu missachten. „Neue Autorität“ untergräbt gerade die Erörterung und Reflexion der Konfliktursachen und bezieht Kinder und Jugendliche und deren Sichtweisen, emotionale und soziale Lagen nicht in ein. 1 Recherche auf dem Fortbildungsangebot des LI (https://tis.li-hamburg.de/catalog). Veranstaltung 1427A0302 (13.-14.06.2014). 2 Veranstaltungen 1732P0601 (10.01.2017), 1826L1701 (26.11.2018), 1826L2901 (14.06.2018), 1926L2901 (21.03.2019; fällt laut Website aus). 3 Dietmar Otto/Olaf Hansen: „Ich muss nicht gewinnen – nur beharren“, BSB-Info 1/2018, Seiten 24 – 28. 4 Siehe Stefan Dierbach: Der Plan von der Abschaffung der Ohnmacht, Forum für Kinder und Jugendarbeit, 2/2016, 3/2016. Drucksache 21/15780 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Ich frage den Senat: Das übergeordnete Ziel des Konzepts der „Neuen Autorität“ ist die Stabilisierung von tragfähigen, bindungsförderlichen und unterstützenden Beziehungen als pädagogische Grundlage für einen lernförderlichen Unterricht. Das Konzept „Neue Autorität“ ist an humanistischen, systemischen und gewaltfreien Sichtweisen ausgerichtet. Dabei wird nicht auf alte Mechanismen wie Macht, Distanz, Kontrolle und Strafe zurückgegriffen , sondern diese werden durch „Präsenz, wachsame Sorge, Selbstkontrolle, Transparenz und Beharrlichkeit ersetzt. Die mit dem Konzept der „Neuen Autorität“ vermittelten Möglichkeiten und Haltungsaspekte grenzen sich ausdrücklich und klar von durchsetzungsbetonten repressiven sowie autoritären Maßnahmen ab. Stattdessen fokussieren sie konsequent auf deeskalierende und entwicklungsförderliche Beziehungen im pädagogischen Feld. Entscheidende Aspekte sind dabei die transparente Kooperation, der Dialog und die gemeinschaftliche Gestaltung von Partizipation. Demokratielernen und das Konzept der „Neuen Autorität“ stellen keine Gegensätze dar, vielmehr gehören beide zusammen zu einer wertegebundenen Schulentwicklung, die zum Erfolg schulischen Lernens entscheidend beiträgt. Entgegen der Ausführungen der Fragestellerin wird die pädagogische Arbeit mit dem Konzept gestärkt und nicht gefährdet. Auch entspricht das Konzept der UN-Kinderrechtskonvention. Die Fortbildungen des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI), die besonders für Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger geeignet sind, stellen die Verbindung von Pädagogik und Unterricht in den Mittelpunkt. Dabei beinhaltet die Kompetenzentwicklung der schulischen Akteure eine an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Schülerin beziehungsweise des Schülers ausgerichtete Handlungs- und Reflexionsfähigkeit. Der Umgang mit schwierigen Praxissituationen wird trainiert und reflektiert. In der von der für Bildung herausgegebenen Zeitschrift „Hamburg macht Schule“ 1/2018 wird das Konzept der „Neuen Autorität“ als „pädagogischer Handlungs- und Reflexionsrahmen vorgestellt“. Siehe: https://www.hamburg.de/contentblob/10711846/ f0aad947d326ae512be948680184e80b/data/hms-1-18.pdf). Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Wer entscheidet, welche Fortbildungen am LI angeboten werden? (Bitte den konkreten Weg von Idee zur Realisierung in seinen formellen dienstlichen Schritten aufzeigen.) Die Entscheidungen über die Angebote treffen die Abteilungsleitungen des LI. 2. Welche Stelle hat aus welchen Gründen die Aufnahme des Konzepts der „Neuen Autorität“ am LI positiv entschieden? Die Abteilungsleitung „Fortbildung“ hat aufgrund der großen Nachfrage von Kolleginnen und Kollegen das Angebot in die Fortbildung aufgenommen. 3. Wie begründet der Senat/die zuständige Behörde sachlich und fachlich das Konzept der „Neuen Autorität“ als Berufseinsteiger-/-innenseminar und darüber hinaus anzubieten? (Bitte konkret am Konzept der „Neuen Autorität“ und den jeweiligen sachlichen und fachlichen Anforderungen argumentieren. Ebenfalls bitte die konkreten Erfordernisse an Hamburger Schulen benennen.) Die Aufgabenbeschreibung und das Anforderungsprofil von Lehrkräften in Hamburg beinhalten unter anderem einen umfassenden Erziehungsauftrag. Die Lehrkräfte sorgen unter anderem dafür, dass Klassen und Lerngruppen Umgangsformen, Regeln und Rituale in altersgerechter Form vereinbaren, reflektieren, dokumentieren und einhalten . Bei Konflikten sind Ursachen zu klären und Lösungen zu suchen. Dazu müssen Konflikte – insbesondere im Zusammenhang mit dem Durchsetzen von Regeln für Schülerinnen und Schüler – benannt, Grenzen gezogen und angemessene Lösungswege entwickelt werden. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/15780 3 Die Angebote des LI zum Konzept der „Neuen Autorität“ ermöglichen es, dass das pädagogische Personal an Schulen ihre Kompetenzen im Bereich „Erziehung“ weiterentwickeln kann. In der Berufseingangsphase werden Hilfestellungen beim Aufbau von Routinen angeboten. Auf dieser Basis können alle an Schule beteiligten Akteure in einen wertebasierten sowie kooperativ ausgerichteten pädagogischen Dialog treten. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 4. An welchen Schulen wird mit dem Konzept der „Neuen Autorität“ gearbeitet ? (Bitte nach Schulen unter Benennung der Schulform, des KESS- Faktors und des Anwendungsgebiets in einer Excel-Tabelle aufstellen.) Die mögliche Umsetzung des Konzepts in Schulen wird vom LI nicht erfasst. 5. Welche Schulen haben Fortbildungen im Bereich der „Neuen Autorität“ abgefragt? (Bitte konkret die Schulen unter Einbezug der Anfrage- und Durchführungszahlen, die Schulstufen und den KESS-Faktor angeben.) Schulinterne Lehrerfortbildungen haben in einer Stadtteilschule und zwei Regionalen Bildungs- und Beratungszentren stattgefunden. 6. Gibt es im Zuständigkeitsbereich der BSB außerdem LI eine Arbeit mit oder in Anlehnung an das Konzept „Neue Autorität“? (Bitte konkret benennen und im Einzelfall sachlich und fachlich begründen.) Nein. 7. Ist dem Senat/der zuständigen Behörde Kritik am Konzept der „Neuen Autorität“ bekannt? Wenn ja, welche Gründe überwogen, sich des Themas anzunehmen? (Bitte konkret und mit Angaben der kritischen Literatur darlegen.) Bekannt ist die Kritik am Ansatz des Konzepts der „Neuen Autorität“ von St. Dierbach, die er in zwei Artikeln der Zeitschrift Forum für Kinder und Jugendarbeit 2/3 2016 ausführt : „Der Plan von der Abschaffung der Ohnmacht“ Teil 1 und 2. Dabei wird der Ansatz des Konzepts in die Nähe eines machtorientierten, autoritären und gewaltvollen Anwendungsbezugs gestellt, gegen den sich die „Neue Autorität“ explizit abgrenzt. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 8. Wie stellt sich die praktische Anwendung an Schulen konkret dar? (Bitte Fallkontexte und Fallzahlen nennen.) Fallkontexte werden in der von der für Bildung zuständigen Behörde herausgegebenen Zeitschrift „Hamburg macht Schule“ 1/2018 ausführlich dargestellt. Siehe: https://www.hamburg.de/contentblob/10711846/f0aad947d326ae512be948680184e80 b/data/hms-1-18.pdf. Eine zentrale Erfassung von Fällen, in denen das Konzept angewandt wurde, erfolgt nicht. 9. Weshalb erachtet der Senat/die zuständige Behörde es für notwendig, „Neue Autorität“ als Konzept für pädagogische Fachkräfte anzubieten? (Bitte auf die Grundlagen pädagogischer Arbeit, die bekanntlich ausdrücklich die Lagen und Perspektiven von Kindern und Jugendlichen einbeziehen, reflektieren.) Siehe Antwort zu 3. und Vorbemerkung. 10. Wenn die Grundannahme des Konzepts der „Neuen Autorität“ ausdrücklich ein (im engeren Sinne emotionaler beziehungsweise familiärer) Notstand bei Eltern und Erwachsenen ist, welchem institutionellen Notstand im Bereich der schulischen Bildung liegt die Einführung des Konzepts der „Neuen Autorität“ zugrunde? Das Konzept der „Neuen Autorität“ wurde ursprünglich für die Elternberatung entwickelt und wurde in den letzten zehn Jahren von einem krisenbezogenen Unterstüt- Drucksache 21/15780 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 zungsansatz zu einem allgemeinen pädagogischen Konzept weiterentwickelt. Im Übrigen siehe Antwort zu 3. und Vorbemerkung. 11. Wie steht der Senat/die zuständige Behörde zu dem Faktum, dass Beschämung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene ein ausdrückliches Mittel der „Neuen Autorität“ ist? 12. Wie bewertet der Senat/die zuständige Behörde die Implementierung von Beschämung als pädagogischem Mittel vor dem Hintergrund, dass gerade Beschämung ein herabwürdigendes Erziehungsmittel ist und Beschämung nachweislich ein wesentliches Mittel des Mobbings ist – und damit eines der unmittelbaren Hauptgründe für Schulabsentismus? (Bitte detailliert begründen.) Die Beschämung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene wird in jedweder Form abgelehnt und ist kein ausdrückliches Mittel des Konzepts der „Neuen Autorität“. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 13. Im Rahmen der Diskussion um die Einführung eines Dienstzeitmodells für das pädagogisch-therapeutische Fachpersonal an Schulen wurde die systematische Zerstörung einer fachlich und sachlich angemessenen Schulsozialarbeit bemängelt.5 Wie verhält sich die Einführung des Konzepts der „Neuen Autorität“ zu diesem Faktum, da „Neue Autorität“ eine auch längerfristige, planmäßige Intervention durch Lehrkräfte ohne Einbezug der Schulsozialarbeit bedeutet und die Einbindung von Dritten (Erwachsenen) einzig die Bestärkung der Lehrkraft zum Ziel hat?6 (Bitte sachlich und fachlich konkret begründen.) Die Einbeziehung des pädagogischen Personals und der Eltern ist Teil des Konzepts und wichtiger Bestandteil der intendierten Etablierung von unterstützenden Netzwerken für das Kind beziehungsweise den Jugendlichen. Im Übrigen siehe Vorbemerkung . 14. Kann der Senat/die zuständige Behörde darlegen, wie die Anwendung von „Neuer Autorität“ die Bildungserfahrung junger Menschen fördert? (Bitte detailliert darlegen.) Das Konzept der „Neuen Autorität“ stellt auf eine bewusste Gestaltung des sozialen Lernens und Miteinanders auf allen Ebenen als Grundlage für nachhaltige Bildungserfahrungen ab. 15. Inwieweit bestärkt nach Ansicht des Senats/der zuständigen Behörde das Konzept der „Neuen Autorität“ im schulischen Zusammenhang das Verständnis von Demokratie, Egalität, Wirkmächtigkeit und gleichen Rechte bei jungen Menschen? 16. Welche gesellschaftlichen Gründe sieht der Senat/die zuständige Behörde für die Renaissance autoritärer Erziehungsformen? 17. In der UN-Kinderrechtskonvention ist ausdrücklich das Recht von Kindern und Jugendlichen festgehalten, im Geiste der Würde und Toleranz der Gleichheit und Solidarität erzogen zu werden. Der zweite Paragraf des HmbSG geht in seiner Wortwahl sogar über die UN-Konvention hinaus und verpflichtet Unterricht und Erziehung in der Freien und Hansestadt zur Bestärkung der Humanität, der Gleichheit, des körperlichen und seelischen Wohlbefindens, der Achtung und Toleranz, Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit sollen ebenfalls gefördert werden. Wie bringt der Senat/die zuständige Behörde die Vermittlung und Anwendung der „Neuen Autorität“ mit diesen Rechten überein? (Bitte unter Bezug auf die UN-Kinderrechtskonvention und das HmbSG detailliert begründen.) Siehe Vorbemerkung. 5 Siehe Fachgutachten von Prof. em. Gerd Krüger im Auftrag der GEW Hamburg. 6 Siehe Otto/Hansen, Gewinnen…, Seite 27.