BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/16261 21. Wahlperiode 22.02.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Michael Kruse, Dr. Kurt Duwe und Ewald Aukes (FDP) vom 15.02.19 und Antwort des Senats Betr.: Zur Verhältnismäßigkeit von Fahrverboten Im Zuge der Debatte über die Auswirkungen von Diesel-Fahrverboten auf das Leben der Bürger in Deutschland sowie die dadurch entstehenden volkswirtschaftlichen Schäden hat die Bundesregierung Maßnahmen beschlossen, um unverhältnismäßige Fahrverbote zu vermeiden. Nach einem Änderungsantrag der Bundesregierung zum Bundes-Imissionsschutzgesetz (BImSchG) (BT.-Drs. 19/6335) ist künftig in Gebieten, in denen die Belastung durch Stickstoffdioxid (NO2) den Wert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel nicht überschreitet, davon auszugehen, dass Fahrverbote nach dem BImSchG wegen der Überschreitung des Luftqualitätsgrenzwerts für Stickstoffdioxid in der Regel unverhältnismäßig sind.1 Es sei nämlich davon auszugehen, dass der Luftqualitätsgrenzwert für NO2 aufgrund von bereits angelaufenen Maßnahmen gemäß den Vorgaben der EU- Richtlinie 2008/50/EG bald eingehalten wird. Als solche Maßnahmen werden zum Beispiel Softwareupdates, Elektrifizierung des Verkehrs, Nachrüstung von ÖPNV Bussen mit Abgasreinigungssystemen, Digitalisierung des Verkehrs oder die Hardwarenachrüstung von schweren Kommunalfahrzeugen genannt. Fahrverbote wären im Einzelfall nur dann von den zuständigen Landesbehörden in Betracht zu ziehen, wenn nach Ausschöpfung aller weniger eingreifenden Maßnahmen die zwingenden Vorgaben der Richtlinie 2008/50/EG nicht eingehalten werden können.2 Der Grenzwert von 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel, der einzuhalten ist und für dessen Erreichung gegebenenfalls umfassende Maßnahmen im Zuge eines Luftreinhalteplans zu ergreifen sind, hat dabei weiterhin Bestand. Medieninformationen zufolge hat die EU-Kommission keine grundsätzlichen Bedenken gegen dieses Vorgehen. Der Entsprechend könnte eine solche Änderung bald umgesetzt werden. Diese Regelung könnte auch für Hamburg in Betracht kommen. Im Zuge der Umsetzung des Luftreinhalteplans für Hamburg, der zahlreiche weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität in Hamburg vorsieht, wurden am 31. Mai 2018 auch die bundesweit ersten streckenbezogenen Diesel- 1 Unter anderem wird ein § 47(4a) ins BImSchG eingefügt: „Verbote des Kraftfahrzeugverkehrs für Kraftfahrzeuge mit Selbstzündungsmotor kommen wegen der Überschreitung des Immissionsgrenzwertes für Stickstoffdioxid in der Regel nur in Gebieten in Betracht, in denen der Wert von 50 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel überschritten worden ist.“ 2 Vergleiche BT.-Drs. 19/6335: Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Drucksache 21/16261 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Durchfahrtsbeschränkungen für Teilabschnitte der Max-Brauer-Allee und Stresemannstraße eingerichtet. Dadurch kommt es nicht nur zu starken Einschränkungen des Pendler- und Wirtschaftsverkehrs, sondern auch zu umfangreichem Ausweichverkehr. Die Belastungen für die betroffenen Anwohner durch diesen Ausweichverkehr konnte der Senat bisher noch nicht transparent darstellen. Vor diesem Hintergrund erscheint es wünschenswert, dass die Fahrverbote möglichst bald durch weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden können. In Hamburg werden die Jahresdurchschnittsgrenzwerte von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter an den vier „verkehrsnahen Messstationen“ noch überschritten . Dabei ist zu bedenken, dass diese „verkehrsnahen Messstationen“ Spitzenwerte messen, die anderswo nicht auftreten. Diese Hotspots befinden sich nach Angaben des Senats an Straßenabschnitten mit einer hohen Verkehrsbelastung und einer durchgehend hohen Randbebauung, die eine gute Durchlüftung behindert und für erhöhte Messwerte sorgt.3 Für höhere Messwerte sorgt in Hamburg auch die Tatsache, dass bei den Messungen auch Werte in 1,5 m Höhe ermittelt werden, obwohl nach dem EU-Standard auch Messungen in 4 m Höhe erlaubt wären, welche niedrigere Werte ergibt. In den vergangenen Jahren sind dennoch an allen diesen Stationen schon vor Einführung des Fahrverbotes stetig sinkende Messwerte zu verzeichnen gewesen. Eine Unterschreitung der Werte ist also absehbar. So wurde im Jahr 2018 bei Messungen in 4 m Höhe der Jahresmittelwert von 50 Mikrogramm an allen Hamburger Messstationen nicht mehr überschritten. Nur bei Messungen in 1,5 m Höhe wurde 2018 dieser Grenzwert mit 55 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jahresmittel an der Messstation Habichtstraße („68HB“) überschritten.4 Andere Messstationen an der Kieler Straße („64KS“), Stresemannstraße („17SM“), und Max-Brauer-Allee („70MB“) wiesen niedrigere Werte von 46 und 44 Mikrogramm (für 1,5 m Messhöhe) beziehungsweise 42 (für 4 m Messhöhe) auf. Die Messstationen in denjenigen Straßen, für welche der Umweltsenator Fahrverbote erlassen hat, weisen also unabhängig von der Messhöhe Werte weit unter der von der Bundesregierung ausgerufenen neuen „Verhältnismäßigkeits-Grenze“ aus. Vor diesem Hintergrund fragen wir den Senat: Das Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) ist noch nicht abgeschlossen. Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf der Europäischen Kommission zur Notifizierung vorgelegt. Zu den in der Anfrage erwähnten Medienberichten hat die Europäische Kommission am 13. Februar 2019 folgende Erklärung abgegeben: „Klarstellung: EU-Kommission rüttelt nicht an Stickoxid-Grenzwerten Die Europäische Kommission weist Medienberichte zurück, laut denen die Kommission Deutschland genehmige, den Grenzwert für Stickoxid in Deutschland auf 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft zu erhöhen. Das ist falsch. Der Grenzwert von 40 Mikrogramm im Jahresmittel ist EU-weit verbindlich und von den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament beschlossen worden. Daran wird nicht gerüttelt. Wie die einzelnen Länder diesen Grenzwert erreichen, ist die alleinige Entscheidung eines jeden Landes. Deutschland hat am 12. November 2018 die EU-Kommission über den Kabinettsbeschluss zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes informiert, demzufolge Fahrverbote in Regionen mit Stickstoffdioxid-Belastungen bis zu einem Wert von 50 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel in der Regel nicht erforderlich seien, da der Grenzwert von 40 Mikrogramm durch andere 3 Antwort des Senats auf ein interfraktionelles Auskunftsersuchen der Bezirksversammlung Altona bezüglich Fortschritten bei der Luftreinhaltung, Drs. 20-5438. 4 http://luft.hamburg.de/clp/schadstoffe/clp1/station/68hb?period=1y×pan=all. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/16261 3 Maßnahmen erreicht werden könne. Fahrverbote werden dabei nicht vollständig ausgeschlossen – liegen aber in der alleinigen Entscheidungskompetenz der Mitgliedstaaten . Über das Notifizierungsverfahren bei der Kommission können technische Vorschriften bereits vor ihrem Erlass geprüft werden, um sicherzustellen, dass sie mit EU-Recht übereinstimmen. Die Europäische Kommission hat Deutschland heute (Mittwoch) fristgerecht geantwortet. Die Kommission hat auf einige Punkte hingewiesen, die einer weiteren Klärung bedürfen. Die Anmerkungen der Kommission verpflichten den betreffenden Mitgliedstaat aber nicht zu einer weiteren Stellungnahme und haben keinen Einfluss auf den Zeitplan für die Annahme der Maßnahme.“ Dies vorangeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Die Bundesregierung hat im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zur Änderung des BImSchG den Bundesrat um eine Stellungnahme gebeten . Welche Position nahm beziehungsweise nimmt der Senat zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung und zur geplanten Verhältnismäßigkeits -Regelung ein? 2. Hat der Senat an der Stellungnahme des Bundesrates mitgewirkt? Wenn ja, welche Anmerkungen hat der Senat gemacht, welche Änderungen hat er vorgeschlagen? Wie bewertet der Senat die Stellungnahme des Bundesrates? Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 14. Dezember 2018 zu der vorgeschlagenen Gesetzesänderung die aus der BR.-Drs. 575/18 (Beschluss) ersichtliche kritische Stellungnahme abgegeben. Hamburg hat diesem Beschluss zugestimmt. 3. Wie bewertet der Senat die Auswirkungen der geplanten Änderung des BImSchG für Hamburg? 4. Das Gesetz soll laut Gesetzesentwurf nach entsprechendem Beschluss sofort in Kraft treten. Welche Vorbereitungen hat der Senat bereits getroffen beziehungsweise plant der Senat zur Umsetzung der Gesetzesänderung , um Bürger von Fahrverboten zu entlasten? 5. Plant der Senat, die beiden Fahrverbote in der Max-Brauer-Alle und Stresemannstraße aufzuheben, sofern die neue „Verhältnismäßigkeitsgrenze von 50 Mikrogramm im Gesetz verankert wird und die Luftmessung Ergebnisse unter der neuen „Verhältnismäßigkeitsgrenze“ liefert? Wenn ja, wann wird dies voraussichtlich der Fall sein? Wenn nein, warum nicht? 6. Hält der Senat nach der Neubewertung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen im BImSchG Fahrverbote in Hamburg insgesamt noch für verhältnismäßig? Warum? Der Senat richtet seine Entscheidungen nicht nach Gesetzentwürfen, sondern nach Gesetzen aus. Sollte die entsprechende Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes in Kraft treten, wird der Senat die Auswirkungen auf Hamburg bewerten. 7. Um nach geplanter Neuregelung bei der Beibehaltung des Fahrverbotes die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme begründen zu können, wird der Senat künftig die Wirksamkeit der Maßnahme vor Ort gegenüber anderen weniger einschneidenden Maßnahmen beweisen müssen. a) Wie misst und berechnet der Senat derzeit jeweils den Anteil des Fahrverbots und anderer Maßnahmen an der kontinuierlichen Reduktion der NO2-Emissionen? b) Was haben die bisherigen Bewertungen ergeben (Bitte gegebenenfalls auch Anteile angeben in Prozent und absoluten Zahlen)? Drucksache 21/16261 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 c) Wenn noch keine Bewertung stattfand: warum nicht? Wie und wann wird künftig diese Messung erfolgen? Messstellen erfassen die Immissionsbelastung der Luft nicht getrennt nach Emittentengruppen . Der Anteil von Durchfahrtsbeschränkungen an der Reduktion der Immissionsbelastung ist daher rechnerisch zu ermitteln. Hierzu werden in Deutschland spezielle Rechenmodelle eingesetzt. Die Zulässigkeit solcher Modellrechnungen ergibt sich direkt aus der 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchV). Die Grundlage der 2. Fortschreibung des Luftreinhalteplans (LRP) für Hamburg ist eine gutachterlich durchgeführte Immissionsmodellierung, mit der die Entwicklung der Luftbelastung für die Prognosejahre 2020 und 2025 berechnet wurde. Dieses Modell berücksichtigt sowohl die Effekte einer Flottenerneuerung auf Grundlage des Handbuches für Emissionsfaktoren (HBEFA) als auch die Quantifizierung der zehn im LRP angeführten Maßnahmenpakete sowie der zusätzlich geprüften lokalen Einzelmaßnahmen an Straßenabschnitten, an denen die Umsetzung der gesamtstädtischen Maßnahmenpakete nicht zu einer schnellstmöglichen Einhaltung des NO2-Jahresmittelgrenzwertes führt. Im LRP sind die gutachterlich bestimmten Verursacheranteile der einzelnen Emittenten für die vier verkehrsnahen Luftmessstationen in Hamburg einschließlich der lokalen Zusatzbelastung durch den Kfz-Verkehr dargestellt. An den beiden Straßenabschnitten der Max-Brauer-Allee und der Stresemannstraße hat der Kfz-Verkehr demnach den größten Anteil an der NO2-Immissionsbelastung. Mit Inkrafttreten des LRP wurde die Umsetzung der zehn gesamtstädtisch wirkenden Maßnahmenpakete beschlossen. Diese werden gemäß gutachterlicher Berechnung zu einer Verringerung der modellierten NO2-Belastung um 2,1 µg/m³ an der Max- Brauer-Allee und um 3,2 µg/m³ an der Stresemannstraße im Jahr 2020 führen. In beiden Fällen wird die Einhaltung des NO2-Jahresmittelgrenzwertes mit den Maßnahmenpaketen des LRP an den von Überschreitung betroffenen Abschnitten der beiden Straßen nicht erreicht, weshalb zusätzliche lokal wirksame Einzelmaßnahmen geprüft wurden. Die Minderungspotenziale der geprüften Einzelmaßnahmen sind im LRP angeführt. Die Durchfahrtsbeschränkungen als jeweils eine der geprüften lokalen Maßnahmen erreichen modellierte Minderungspotenziale von bis zu −7,5 µg/m³ (Diesel- Durchfahrtsbeschränkung Max-Brauer-Allee) beziehungsweise bis zu −3,2 µg/m³ (Lkw-Durchfahrtsbeschränkung Stresemannstraße). Diese im LRP angeführten Minderungspotenziale waren Grundlage der Bewertung und Einschätzung, dass der NO2-Jahresmittelgrenzwert an den beiden hier relevanten Straßen nur durch die Kombination aus Maßnahmenpaketen und ergänzenden lokalen Minderungsmaßnahmen – hier insbesondere Dieseldurchfahrtsbeschränkungen – schnellstmöglich, spätestens im Jahr 2020, sicher eingehalten werden kann. Die Abwägungsaspekte zur Umsetzung der Maßnahmen sind im LRP angeführt. Da der gültige Grenzwert für Stickstoffdioxid im Jahresmittel zu erheben ist, kann noch keine abschließende Aussage zur Wirksamkeit der im Luftreinhalteplan beschlossenen und unterdessen umgesetzten Maßnahmen getroffen werden. Im Übrigen siehe Antwort zu 3. bis 6.