BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/16333 21. Wahlperiode 01.03.19 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Harald Feineis (AfD) vom 21.02.19 und Antwort des Senats Betr.: Wie wichtig ist dem Senat die Einsetzung einer staatlichen Zulassungsstelle zur Verbesserung der Medizinproduktesicherheit? Im Gegensatz zu pharmazeutischen Erzeugnissen, die seitens des BfArM1 umfangreichen Sicherheits- und Nutzenprüfungen unterworfen werden, ist die Marktzulassung für Medizinprodukte2 von wesentlich weniger strengen Kriterien abhängig. Das gegenwärtig praktizierte Zulassungsverfahren für Medizinprodukte ist nach Auffassung maßgeblicher Fachkreise3 von einer Reihe gravierender Mängel gekennzeichnet. So führt etwa das sogenannte Äquivalenzprinzip dazu, dass zur Zulassungsprüfung angemeldete Produkte keinerlei klinische Evaluierung durchlaufen müssen, wenn es bereits vergleichbare (Vorgänger-)Produkte auf dem Markt gibt – und dies ist in der weit überwiegenden Zahl der Produktanmeldungen der Fall.4 Greift das Äquivalenzprinzip, entscheiden – ohne jede klinische Prüfung – private Organisationen wie zum Beispiel der TÜV Rheinland oder auch die Dekra über die Marktzulassung, ohne in ihren Testkonzepten irgendeine fachliche Spezialisierung auf Medizinprodukte vorweisen zu können. Als problematisch ist dabei zu werten, dass diese nicht staatlichen Prüfunternehmen 5 in ihrem Prüfgebahren keineswegs unabhängig sind, sondern vielmehr von den Herstellerunternehmen selbst beauftragt und für ihre Testdienstleistungen auch bezahlt werden. Somit besteht zwischen den Medizinprodukteherstellern und den Prüforganisationen ein Kunden-Anbieter- Verhältnis, was dazu führt, dass die Prüfer ganz offen mit kostengünstiger und komplikationsloser Abwicklung des Marktzugangs für neue Medizinprodukte werben,6 weil sie an der Treue ihrer Kunden und an Folgeaufträgen interessiert sind. 1 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. 2 Herzschrittmacher, Endoprothesen, Insulinpumpen, Stents et cetera. 3 „Süddeutsche Zeitung“, 29. November 2018. 4 Nur etwa 10 Prozent der Medizinprodukte in der höchsten Risikoklasse werden systematisch /klinisch am Patienten erprobt. https://projekte.sueddeutsche.de/implantfiles/ politik/implant-files-schwachstellen-im-medizinprodukte-system-e701831/. 5 Unter anderem TÜV Rheinland, Dekra, BSI Group Deutschland. 6 Als eines von vielen Beispielen siehe BSI Group Deutschland GmbH, Firmen-Website, https://www.bsigroup.com/de-DE/medical-devices/Unsere-Dienstleistungen/. „Durch das Drucksache 21/16333 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Selbst wenn ein Prüfunternehmen die Produkt-Zertifizierung (sogenanntes CE-Kennzeichen) verwehrt und der Marktzugang an dieser Stelle zunächst scheitert, kann sich der Hersteller jederzeit an einen anderen der vielen in ganz EU-Europa verstreuten Anbieter wenden, um sein Produkt schließlich doch für den EU-Markt zertifizieren zu lassen. Weil der erfolgreiche Marktzugang des Kundenproduktes letztlich den Kern des Geschäftsmodells der Prüforganisation darstellt, erhält in der Praxis nahezu jedes neue Medizinprodukt das gewünschte CE-Zeichen.7 Eine seit 2017 in Kraft befindliche neue EU-Medizinprodukte-Verordnung, welche aber erst bis 20208 in den Mitgliedstaaten umgesetzt sein muss, enthält Regelungen, die die Zulassungshürden für Medizinprodukte zweifelsohne erhöhen und den Patientenschutz voraussichtlich verbessern werden. Im Zentrum steht hierbei unter anderem die Einschränkung des oben genannten Äquivalenzprinzips. So können sich Hersteller bei der Markteinführung eines Medizinproduktes nicht länger auf die bereits erfolgte Zulassung eines ähnlichen Produktes eines anderen Herstellers berufen, sondern müssen zukünftig eigene klinische Studien erstellen (lassen). Weitere Verbesserungen der Patientensicherheit werden dadurch erreicht, dass die Prüforganisationen in Zukunft unangekündigte Kontrollen bei den Herstellerfirmen durchführen können und dass Fälle von Produktmängeln, Komplikationen und Patientenschädigungen nunmehr den Behörden verpflichtend zu melden sind. Das gravierendste Problem jedoch wird auch durch die Regelungen der neuen EU-Verordnung nicht beseitigt. Es besteht nach wie vor in der geschäftlichen Interessenübereinstimmung zwischen den Prüfstellen und den Herstellern . Da die Prüfunternehmen auch weiterhin von den Herstellern für ihre Dienstleistungen bezahlt werden, wurde von Fachleuten im Zusammenhang mit der neuen EU-Verordnung immer wieder auf die mangelnde Objektivität der rein privatwirtschaftlich operierenden Prüforganisationen aufmerksam gemacht und Abhilfe durch die Etablierung einer unabhängigen staatlichen Zulassungsstelle verlangt.9 Im Zuge der Veröffentlichung der sogenannten Implant Files durch ein Recherchenetzwerk – bestehend aus NDR, WDR und SZ – wurde die Brisanz des Themas einer breiteren Öffentlichkeit im Herbst 2018 erneut kurzzeitig offenbar. In einer Pressemitteilung sprach sich die Gesundheitssenatorin dafür aus, den Marktzugang von besonders risikobehafteten Medizinprodukten wie zum Beispiel Herzschrittmachern und Gelenkprothesen ebenso streng zu kontrollieren wie die Zulassung von Arzneimitteln. Dazu gehörten – so die Senatorin – klinische Studien und eine staatliche Zulassungsstelle.10 CE-Kennzeichen erhalten Sie Zugang auf den europäischen Markt. Unsere Experten unterstützen Sie bei einem reibungslosen Prozess.“ Zugriff am 20.02.2018. 7  In den vergangenen acht Jahren wurden in Deutschland 10 254 Medizinprodukte neu zertifiziert , aber nur 84 Anträge abgelehnt, „Süddeutsche Zeitung“: https://projekte.sueddeutsche.de/implantfiles/politik/implant-files-schwachstellen-immedizinprodukte -system-e701831/.  8 Gegenwärtig drängen Interessenverbände der Medizinproduktehersteller bei den behördlichen Stellen darauf, die dreijährige Übergangsfrist zu verlängern. 9 Die Bundesregierung dürfe nicht länger die Interessen der Industrie und privater Prüfstellen über den Patientenschutz stellen. „Süddeutsche Zeitung“, 29. November 2018. 10 Patientensicherheit: Prüfer-Storcks für strengere Kontrollen bei risikobehafteten Medizinprodukten . GESUNDHEITSSENATORIN: PATIENTENSICHERHEIT MUSS AN ERSTER STELLE STEHEN. 26. November, Pressearchiv FHH. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/16333 3 Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: 1. Vertritt der Senat die Ansicht, dass es nicht Ländersache ist, sich für die Verschärfung von EU-Regelungen einzusetzen – selbst auf Bundesebene nicht? 2. Wenn der Senat die unter 2. genannte Ansicht nicht vertritt: Gab es – abgesehen von PR-Maßnahmen – bereits Initiativen des Senats (zum Beispiel auf Bundesebene), um die Medizinproduktesicherheit durch strengere und unabhängige Kontrollen zu verbessern? 3. Wann wurden diese Initiativen auf den Weg gebracht und welche Ergebnisse sind bisher vorzuweisen? Nein. Im Rahmen der Unterrichtung durch die Europäische Kommission wurde dem Bundesrat der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nummer 178/2002 und der Verordnung (EG) Nummer 1223/2009 vorgelegt . Der Gesundheitsausschuss des Bundesrates hat auf Antrag Hamburgs dem Bundesrat empfohlen, die Bundesregierung zu bitten, im weiteren Verfahren darauf hinzuwirken, dass für implantierbare Medizinprodukte die Einführung eines zentralen behördlichen Zulassungsverfahrens geprüft wird (BR.-Drs. 575/1/12). Dieser Empfehlung ist der Bundesrat nicht gefolgt (BR.-Drs. 575/12 (Beschluss)). Unbeschadet dessen war diese Frage auch Gegenstand der Betrachtung im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auf europäischer Ebene. Letztlich mündete das europäische Gesetzgebungsverfahren in die Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte , die keine staatliche Zulassungsstelle vorsieht, aber sowohl die Vorgaben für die Benennung einer Konformitätsbewertungsstelle als auch deren Überwachung verschärft sowie das Konformitätsbewertungsverfahren für bestimmte Hochrisikoprodukte (unter anderem implantierbare Produkte der Klasse III) einem Konsultationsverfahren (Begutachtung durch ein Expertengremium unter Aufsicht der Kommission) unterwirft. 4. Sind gegebenenfalls (weitere) Initiativen (etwa auf Bundesebene) geplant und welchen Inhalts werden diese sein? 5. Bestehen aus Sicht des Senats auf Landesebene legislative beziehungsweise administrative Möglichkeiten, die zu schwach ausgeprägten inhaltlichen und organisatorischen Prüfanforderungen der geltenden EU- Medizinprodukte-Verordnung zu kompensieren? Bei der Verordnung (EU) 2017/745 handelt es sich um eine unmittelbar geltende europäische Verordnung. Die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz überwacht als zuständige Behörde die Einhaltung der bestehenden rechtlichen Regelungen . Eine Gesetzgebungskompetenz des Senats ist nicht gegeben. Aufgrund des Geltungsbeginns der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte am 26. Mai 2020 sowie der abzuwartenden Erfahrungen mit den verschärften Regelungen ist derzeit keine Initiative auf Bundesebene geplant.