BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/16586 21. Wahlperiode 26.03.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Detlef Ehlebracht und Peter Lorkowski (AfD) vom 20.03.19 und Antwort des Senats Betr.: „Auffahrunfall“ auf der Elbe mit Todesfolge – Begünstigt durch unzureichende Verkehrsregeln auf dem Wasser? Presseberichten zufolge ist aktuell der Kapitän eines Elbe-Schubverbandes vor dem Amtsgericht Hamburg freigesprochen worden. Er hatte mit seinem über 100 Meter langen Frachtschiff ein vor ihm – nicht vorschriftsmäßig – fahrendes Sportboot gerammt und versenkt. Es gab einen Toten. In der Urteilsbegründung hieß es sinngemäß, dass es nach den Regeln der Kollisionsverhütung im Hamburger Hafen nicht vorgeschrieben sei, bei einem Überholmanöver das vor sich fahrende Fahrzeug zu warnen. Eine solche Warnung hatte der Kapitän des Schubverbandes auch unterlassen, obgleich er das vor ihm fahrende Sportboot schon Kilometer im Voraus wahrgenommen hatte. In einer online abrufbaren Broschüre der Polizei Hamburg „Fahrregeln auf der Seeschifffahrtsstraße Elbe“ wird zwar ausführlich über Ansteuerungstonnen , Ausweichpflichten und Vorfahrtregeln und das Rechtsfahrgebot sowie das Kreuzen des Fahrwassers eingegangen; auf Überholmanöver oder Kollisionsgefahren durch unterschiedliche Geschwindigkeiten wird jedoch nicht eingegangen. Dies vorausgeschickt fragen wir den Senat: Der im Zuständigkeitsbereich der Wasserschutzpolizei Hamburg liegende Teil der Elbe ist in drei Streckenabschnitte mit unterschiedlicher Rechtslage unterteilt. A. Binnenschifffahrtsstraße (die Elbe oberhalb des Hamburger Hafens; Elbkilometer 607,5): Schifffahrtverkehrsvorschrift ist die Binnenschifffahrtsstraßen-Ordnung (BinSchStrO). B. Seeschifffahrtsstraße (die Elbe unterhalb des Hamburger Hafens; Elbkilometer 639): Schifffahrtsverkehrsvorschriften sind die Internationalen Regeln von 1972 zur Verhütung von Zusammenstößen auf See (Kollisionsverhütungsregeln (KVR)) und die Seeschifffahrtsstraßen-Ordnung (SeeSchStrO). C. Hamburger Hafen: Schifffahrtsverkehrsvorschriften sind das Hafenverkehrs- und Schifffahrtsgesetz (HVSchG), die Verordnung über den Verkehr im Hamburger Hafen und auf anderen Gewässern (Hafenverkehrsordnung, (HVO)) sowie die SeeSchStrO und die KVR, sofern die HVO keine abweichenden Regelungen enthält . Im Folgenden werden die Antworten zu den Fragestellungen, die sich auf die unterschiedlichen Streckenabschnitte der Elbe beziehen, durch A., B. oder C. gekennzeichnet . Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: Drucksache 21/16586 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 1. Welche Regeln genau gelten für das Überholen von Schiffen auf der Elbe? A. Es gelten die Regeln § 6.03 BinSchStrO – Allgemeine Grundsätze: Das Begegnen, Kreuzen oder Überholen ist nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt. § 6.09 BinSchStrO – Allgemeine Bestimmungen für das Überholen: Das Überholen ist nur gestattet, nachdem sich der Überholende vergewissert hat, dass dieses Manöver ohne Gefahr ausgeführt werden kann. Der Vorausfahrende muss das Überholen, soweit dies notwendig und möglich ist, erleichtern. Er muss nötigenfalls seine Geschwindigkeit vermindern, damit das Überholmanöver gefahrlos und so schnell ausgeführt werden kann, dass der übrige Verkehr nicht behindert wird. § 6.10 BinSchStrO – Verhalten und Zeichengebung der Fahrzeuge beim Überholen: Der Überholende darf an Backbord oder an Steuerbord des Vorausfahrenden überholen . Ist das Überholen möglich, ohne dass der Vorausfahrende seinen Kurs (oder Geschwindigkeit) zu ändern braucht, gibt der Überholende kein Schallzeichen. § 17.04 BinSchStrO – Fahrgeschwindigkeit: Auf der Binnenschifffahrtsstraße Elbe beträgt die Mindestgeschwindigkeit gegenüber dem Ufer für ein Fahrzeug oder einen Verband, ausgenommen Kleinfahrzeuge (Fahrzeuglänge ist kürzer 20 m), in der Bergfahrt (elbaufwärts) 4 km/h (es gibt keine Höchstgeschwindigkeitsbegrenzung). B. Es gelten die Regeln § 23 Abs. 1-4 SeeSchStrO – Überholen: Grundsätzlich muss links überholt werden. Soweit die Umstände des Falles es erfordern , darf rechts überholt werden. Das überholende Fahrzeug muss die Fahrt soweit herabsetzen oder einen solchen seitlichen Abstand vom vorausfahrenden Fahrzeug einhalten, dass kein gefährlicher Sog entstehen kann und während des ganzen Überholmanövers jede Gefährdung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Das vorausfahrende Fahrzeug muss das Überholen soweit wie möglich erleichtern. Das Überholen ist in der Nähe von in Fahrt befindlichen, nicht frei fahrenden Fähren, an engen Stellen und in unübersichtlichen Krümmungen, vor und innerhalb von Schleusen sowie innerhalb der Schleusenvorhäfen und Zufahrten des Nord-Ostsee- Kanals sowie an bekanntgemachten Streckenabschnitten verboten. Kann in einem Fahrwasser nur unter Mitwirkung des zu überholenden Fahrzeugs sicher überholt werden, so ist das Überholen nur erlaubt, wenn das zu überholende Fahrzeug auf eine entsprechende Anfrage oder Anzeige des überholenden Fahrzeugs hin eindeutig zugestimmt hat. Regel 34 KVR – Manöver- und Warnsignale i.V.m. § 1 Absatz 4 SeeSchStrO – Geltungsbereich (anwendbare Rechtsvorschrift): Haben Fahrzeuge in einem engen Fahrwasser oder einer Fahrrinne einander in Sicht, so muss ein überholendes Fahrzeug seine Absicht durch Pfeifensignale anzeigen. (Mitwirkungspflicht des zu Überholenden). C. Es gelten die Regeln § 23 Absatz 1-4 SeeSchStrO – Überholen i.V.m. § 1 Absatz 1 HVO – Anwendbare Rechts-vorschriften, § 12 Abs. 6 HVO – Allgemeines: Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/16586 3 Da es in der HVO keine Regelung für das Überholen (außer für den Signalaustausch) gibt, greift die SeeSchStrO/KVR. Jedoch bestimmt die HVO, dass die Bestimmungen der KVR über den Signalaustausch beim Überholen keine Anwendung finden. 2. Welche Regeln hat der Kapitän eines Schiffes zu beachten, wenn er sich einem vor ihm fahrenden, langsameren Schiff nähert? Siehe Antwort zu 1. a) Gibt es eine Verpflichtung, das vorausfahrende Schiff zu warnen? Falls ja, in welcher Weise? Falls nein, warum nicht? Nein. Nur wenn eine Mitwirkung des zu Überholenden benötigt wird, ist für A., B. und C. eine Absprache oder Warnung erforderlich. b) Muss der Kapitän des auffahrenden, schnelleren Schiffes in einem solchen Fall seine Geschwindigkeit reduzieren? Falls ja, aufgrund welcher Regel? Falls nein, warum nicht? A. Nein, aber § 1.04 BinSchStrO (Allgemeine Sorgfaltspflicht) regelt unter anderem, dass jeder Verkehrsteilnehmer auf Binnenschifffahrtsstraßen alle Vorsichtsmaßnahmen zu treffen hat, um insbesondere • Gefährdungen von Menschenleben zu vermeiden, • Beschädigungen anderer Fahrzeuge oder Schwimmkörper, der Ufer, der Regelungsbauwerke sowie von Anlagen jeder Art in der Wasserstraße oder an ihren Ufern zu vermeiden, • Behinderungen der Schifffahrt zu vermeiden und • jede vermeidbare Beeinträchtigungen der Umwelt zu verhindern. Das heißt unter anderem, dass jeder Schiffsführer seine Geschwindigkeit so zu wählen hat, dass niemand durch seinen Sog oder Wellenschlag gefährdet wird. Das gilt auch für das Überholen. Zu beachten ist, dass eine Verringerung der Geschwindigkeit durch den Überholenden eine deutliche Verlängerung des Überholvorgangs nach sich zieht. B. Nein, aber § 3 Absatz 1 SeeSchStrO (Grundregeln für das Verhalten im Verkehr) ist analog zu § 1.04 BinSchStrO zu sehen. Im Übrigen siehe Antwort zu A. C. Nein, aber § 5 HVSchG (Allgemeines Verhalten) ist zu beachten, siehe Antwort zu B. c) Falls der Kapitän des schnelleren, auffahrenden Schiffes seine Geschwindigkeit nicht reduziert oder nicht reduzieren muss, gibt es für diesen Fall eine Verpflichtung, das vorausfahrende Schiff seitlich mit entsprechendem Abstand zu überholen? Falls ja, in welcher Weise und auf Grund welcher Regel? Falls nein, warum nicht? Ein Passierabstand des Überholenden zum Überholten ist in Metern nicht vorgeschrieben . Er muss jedoch so groß sein, dass keine Gefährdungslage entsteht. Im Übrigen siehe Antwort zu 2. b). d) Ist der Kapitän des schnelleren, auffahrenden Schiffes verpflichtet, die zuständige Hafenbehörde/Seestraßen-Behörde unverzüglich über ein die Schifffahrt behinderndes Fahrzeug zu informieren? Falls ja, in welcher Weise – und ist dies im konkreten Fall erfolgt? Falls nein, warum nicht? Drucksache 21/16586 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Ja. Jeder Fahrzeugführer hat der zuständigen Behörde unverzüglich zu melden, wenn er unbezeichnete, gesunkene oder treibende Fahrzeuge feststellt, die die Schifffahrt gefährden können. Kommunikationswege und -mittel sind nicht vorgegeben. Ein langsam fahrendes Sportboot stellt an sich keine Gefährdung dar. Eine diesbezügliche Meldung erfolgte daher nicht. 3. Sind in der Vergangenheit schon ähnliche Kollisionsfälle wie im Vorspann beschrieben auf der Elbe vorgekommen oder nur knapp vermieden worden? Falls ja, bitte die Fälle einzeln nach Datum sortiert aufführen und den jeweiligen Sachverhalt sowie die sich daraus ergebenden – auch juristischen Folgen – erläutern. Eine Vergleichbarkeit der Schiffsunfälle ist nur bedingt möglich. Im Folgenden wurden daher Schiffsunfälle aufgelistet, die infolge von Überholvorgängen erfolgten. Aufgrund der Aktenaufbewahrungsfristen für Schiffsunfälle wurden die Akten für die Jahre ab 2014 ausgewertet. Lfd.Nr. Datum Sachverhalt Schäden Juristische Folge 1 12.08.2018 Kollision beim Überholen, Fehlverhalten beider Schiffsführer Sachschaden 1 Person leicht verletzt Strafanzeigen gegen die Beschuldigten 2 14.05.2018 Kollision in Folge mangelnder Absprache Sachschaden Ordnungswidrigkeitenanzeigen gegen die Betroffenen 3 04.04.2018 Kollision beim Überholvorgang, Sogwirkung durch gefährliche Annäherung Sachschaden Ordnungswidrigkeitenanzeigen gegen die Betroffenen 4 22.09.2017 Kollision durch zu geringen Passierabstand Sachschaden Ordnungswidrigkeitenanzeigen gegen die Betroffenen, Bußgeld 5 18.07.2016 Kollision, mangelnde Absprache, Missachtung der Ausweichregeln Sachschaden Ordnungswidrigkeitenanzeige gegen den Betroffenen, Bußgeld 6 26.11.2015 Kollision beim Passieren aufgrund fehlender Absprache Sachschaden Ordnungswidrigkeitenanzeigen gegen die Betroffenen 4. Gibt es Initiativen der Verkehrsbehörde oder anderer für die Elbschifffahrt zuständiger Behörden, die Regeln für Auffahren und Überholen von Schiffen auf der Elbe vor dem Hintergrund des aktuellen Falles beziehungsweise von Erfahrungen aus der Vergangenheit anzupassen? Falls ja, in welcher Weise genau? Falls nein, warum nicht? Für Initiativen zur Anpassung der Regeln im Hinblick auf das Überholen sieht der Senat keinen Bedarf, da die vorhandenen Regelungen als ausreichend angesehen werden. Die Verkehrsregeln auf Bundeswasserstrassen sind in einschlägigen Bundesvorschriften geregelt. Die Hafenverkehrsordnung, die im Hamburger Hafengebiet Anwendung findet, verweist auf diese Bundes-vorschriften gemäß dem Grundsatz der Harmonisierung schifffahrtsrechtlicher Regelungen. Darüber hinaus siehe Vorbemerkung und Antwort zu 1.