BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/17596 21. Wahlperiode 28.06.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Sabine Boeddinghaus (DIE LINKE) vom 20.06.19 und Antwort des Senats Betr.: Übergang von Internationalen Vorbereitungsklassen (IVK) in Regelklassen – Sozial gerecht? Der Jahresbericht 2019 des Landerechnungshofes weist auf eine sehr bedenkliche Entwicklung im Bereich der Beschulung der Schülerinnen und Schülern mit Flucht- beziehungsweise Migrationshintergrund hin. Auf Seite 85 zeigt die Tabelle zum Verbleib dieser Schüler-/-innengruppe nach ihrem Besuch einer IVK im Regelschulsystem, dass der weit größte Teil einen Platz in einer Klasse an einer Stadtteilschule in einem KESS-I- und –II-Gebiet zugewiesen bekamen. Da drängt sich selbstverständlich die Frage auf, wie diese Schulen dieser Aufgabe angemessen gerecht werden sollen beziehungsweise können vor dem Hintergrund ihrer weiteren herausfordernden Verpflichtungen der Inklusion und der guten Beschulung von jungen Menschen mit unterschiedlichen Problemlagen. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die Integration der nach Hamburg zugewanderten jungen Menschen in die Hamburger Schulen wird unter großem Engagement der Schulen seit Jahrzehnten erfolgreich bewältigt. Insbesondere das starke Anwachsen der Schülerzahl mit Flucht- und Migrationshintergrund ab dem Jahr 2015 stellte eine besondere Herausforderung für das Hamburger Schulwesen und die Hamburger Schulen dar. Dieser Herausforderung haben sich die Schulen gemeinsam angenommen. Schon frühzeitig wurden Lösungsstrategien entwickelt, um die Bewältigung dieser Aufgabe auf möglichst viele Schulen im Stadtgebiet zu verteilen. Ein Grundsatz der Verteilung der zugewanderten jungen Menschen ist, dass in keiner Klasse mehr als vier neu zugewanderte Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden und eine gute Integration ermöglicht wird. Bei der Einrichtung der Internationalen Vorbereitungsklassen (IVK) achtet die für Bildung zuständige Behörde sehr genau auf eine gerechte Verteilung, obwohl das angesichts der Verteilung der Flüchtlingsunterkünfte auf die Stadt nicht einfach ist. Mit Stand 1. Mai 2019 befinden sich 33 Prozent der IVK an Schulen mit dem KESS- Index 1 oder 2, 36 Prozent an Schulen mit KESS-Index 3 oder 4 und 31 Prozent an Schulen mit dem KESS-Index 5 oder 6. Von dort gehen die Schülerinnen und Schüler in die Regelklassen über. Dabei werden Schulwünsche der Eltern nach Möglichkeit berücksichtigt. Beim Übergang älterer Schülerinnen und Schüler nach Klasse 6 sind außerdem die Eingangsvoraussetzungen für den Besuch des Gymnasiums zu beachten. Aufgrund der kurzen Verweildauer in Deutschland erbringen nicht alle Schülerinnen und Schüler entsprechende Leistungen . Da die Stadtteilschule Schülerinnen und Schüler auf alle denkbaren Schulab- Drucksache 21/17596 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 schlüsse vorbereitet, bietet die Schulform gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schullaufbahn. 26 der 58 Stadtteilschulen haben den KESS-Index 1 oder 2. Daher ist es naheliegend, dass ein großer Teil der der Schülerinnen und Schüler beim Übergang in die Regelklassen auf diese Stadtteilschulengehen. Stadtteilschulen in KESS-Index-1-Gebieten oder KESS-Index-2-Gebieten leisten ebenso gute Arbeit wie Stadtteilschulen in anderen Gebieten der Stadt und sind bei den Eltern in der Anwahl sehr beliebt, beispielhaft seien die Stadtteilschule Wilhelmsburg (121 Erstwünsche, 23 Anmeldungen mehr als 2018), die Stadtteilschule Richard- Linde-Weg (184 Erstwünsche, 31 Anmeldungen mehr als 2018) oder die Goethe- Schule Harburg (196 Erstwünsche, 42 Abweisungen) genannt. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Der Bericht stellt fest, dass „es (…) derzeit nicht möglich (ist), alle Schülerinnen und Schüler aus Klassen für Flüchtlinge und Migranten der Jahrgangsstufen 4 bis 8 nach einem Jahr in die Regelklassen der Klassenstufen 5 bis 9 aufzunehmen und dabei gleichzeitig die Klassenhöchstgrenzen einzuhalten“. a) Wie stellt sich der Senat, beziehungsweise die zuständige Behörde zu dieser Aussage und was plant er, um hier Abhilfe zu schaffen? 2. In wie vielen Fällen sind in den beiden letzten Schuljahren die Klassenhöchstgrenzen an welchen Schulen genau überschritten worden? Bitte nur beantworten, wenn die Behörde selbst über die Zahlen verfügt, ohne die Schulen abfragen zu müssen! 3. Der Rechnungshof hat die bisherige Verteilung ehemaliger IVK- Schülerinnen und -Schüler auf Stadtteilschulen und Gymnasien ausgewertet und schreibt, dass in beiden Schulformen der Anteil der ehemaligen IVK-Schülerinnen und -Schüler abnimmt, je höher der Sozialindex der Schulen war. In Schulen mit niedrigem Sozialindex war ihr Anteil demzufolge am höchsten. So wechselte die Mehrheit ehemaliger IVK- Schülerinnen und -Schüler im Anschluss an die IVK in Regelklassen an Stadtteilschulen. Nach § 87 Absatz 1 Hamburgisches Schulgesetz soll an Stadtteilschulen in den Jahrgangsstufen 5 und 6 keine Klasse größer als 23 Schülerinnen und Schüler, in den übrigen Jahrgangsstufen keine Klasse größer als 25 Schülerinnen und Schüler sein. Nach Auskunft der Schulaufsicht waren an zahlreichen Stadtteilschulen zum 1. Februar 2018 vielfach Klassen bereits überfrequent. Es gab in den Klassenstufen 5 bis 10 zu wenig freie Schulplätze an Stadtteilschulen , insgesamt nur 240 freie Schulplätze an Stadtteilschulen, sodass eine Verteilung der oben genannten 1 303 IVK-Schülerinnen und -Schüler in Regelklassen an Stadtteilschulen nur mit Überschreitung der Klassenhöchstgrenzen möglich war. a) Wie bewertet der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde diese Darstellungen und Analysen des Rechnungshofes und was gedenkt er beziehungsweise sie, dagegen zu unternehmen? b) In wie vielen Fällen ist in der Realität gegen den § 87 Absatz 1 Hamburgisches Schulgesetz verstoßen worden? Bitte für jede Schule jeweils auflisten. Bitte nur beantworten, wenn die Behörde selbst über die Zahlen verfügt, ohne die Schulen abfragen zu müssen! Bei der Verteilung der Schülerinnen und Schüler ins Regelschulsystem sind nach § 42 Hamburgisches Schulgesetz (HmbSG) altersangemessene Schulwege zu beachten. Um dieses Ziel erreichen zu können, hat sich die für Bildung zuständige Behörde entschlossen , eine maßvolle Überschreitung der Höchstfrequenzen der jeweiligen Schulform um zwei Schülerinnen und Schüler zuzulassen. Mit dieser Maßnahme ist einer- Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/17596 3 seits eine schnelle Integration der ehemaligen IVK-Schüler in den Regelunterricht gesichert. Andererseits ist durch diese maßvolle Überschreitung der Höchstfrequenz auch die Integrationsfähigkeit der bestehenden Klassen angemessen berücksichtigt. Um die vorhandenen Spielräume auszuschöpfen, kann zudem vor Beginn eines Schuljahres geprüft werden, ob in einem Jahrgang zusätzliche Klassen beziehungsweise Lerngruppen eingerichtet werden können, wenn dabei der Grundsatz, dass nicht mehr als vier neu zugewanderte Schüler in einer Klasse unterrichtet werden, berücksichtigt wird. Insbesondere im Übergang von Klasse 6 des Gymnasiums in die Jahrgangsstufe 7 der Stadtteilschule ist dies gängige Praxis. Zur Anzahl der im laufenden Schuljahr zusätzlich eingerichteten siebten Klassen an Stadtteilschulen siehe Drs. 21/17591. Eine Klasse mit einer höheren Schülerzahl bekommt zugleich mehr Lehrkräfte. Dadurch können die Schulen die Ressource, die sie für jede Schülerin beziehungsweise jeden Schüler für die Erteilung des Unterrichts erhalten, für eigene schulische Konzepte der Differenzierung einsetzen. So ist es zum Beispiel in der Jahrgangsstufe 8 einer Stadtteilschule in einer mit 27 Schülerinnen und Schülern besetzten Klasse möglich, neun bis zehn Unterrichtsstunden pro Woche durch eine Doppelbesetzung (eine zweite Lehrkraft) abzusichern. Seit dem Schuljahr 2018/2019 werden an den Stadtteilschulen zusätzliche Unterrichtsstunden zur Vertiefung und Übung in Deutsch und Mathematik gegeben, da in diesen Fächern Schlüsselqualifikationen für alle Bildungs - und Lebensbereiche verankert werden. So werden in den Klassenstufen 5 bis 10 mindestens 26 Wochenstunden Deutsch (bisher mindestens 22 Stunden) und mindestens 26 Wochenstunden Mathematik (bisher mindestens 24 Stunden) erteilt. Werden also ab Jahrgangsstufe 7 vier bis fünf Stunden Deutsch und Mathematik pro Woche erteilt, können in einer Klasse mit 27 Schülerinnen und Schülern nahezu alle Unterrichtsstunden in den Fächern Deutsch und Mathematik durch eine zweite Lehrkraft abgesichert werden. Die für Bildung zuständige Behörde versucht nach Möglichkeit Überfrequenzen zu vermeiden. Ein Verstoß gegen § 87 Absatz 1 HmbSG Iiegt in keinem Fall vor. § 87 Absatz 1 Satz 1 und 2 HmbSG beschreibt eine Soll-Vorgabe für Klassengrößen an Stadtteilschulen und Gymnasien. § 87 Absatz 1 Satz 4 HmbSG sieht die Überschreitung dieser Soll- Vorgabe in bestimmten Fällen ausdrücklich vor. Im Übrigen siehe Antwort zu 2. sowie Drs. 21/16121. Umschulungen gegen den Willen der Schülerinnen und Schüler, um eingetretene Überfrequenzen abzubauen, wären rechtswidrig. Im Übrigen siehe Vorbemerkung . Gemäß § 87 Absatz 3 HmbSG sind bei schulorganisatorischen Entscheidungen von der für Bildung zuständige Behörde neben der gleichmäßigen Versorgung mit altersangemessen erreichbaren Angeboten der verschiedenen Schulformen und Schulstufen , die Entwicklung der Anmeldungen an den einzelnen Schulen und Schulformen miteinzubeziehen. Im Schuljahr 2017/2018 war bei 205 von 1 078 Klassen, bei denen die Höchstfrequenz überschritten wurde, dies auf die Zugänge von Schülerinnen und Schülern aus IV- und Basisklassen zurückzuführen. Im Schuljahr 2018/2019 waren dies 318 von 1 194 Klassen. 4. Der Rechnungshof hat der BSB empfohlen, für den Fall, dass ehemalige IVK-Schülerinnen und -Schüler auf Regelklassen an weiterführenden Schulen mit bereits erreichter Klassenhöchstgrenze verteilt werden müssen , hierbei besonders solche Schulen zu berücksichtigen, die bisher eine geringe Anzahl von ehemaligen IVK-Schülerinnen und -Schüler aufgenommen oder einen höheren Sozialindex haben. a) Wie steht der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde zu diesem Vorschlag und plant er beziehungsweise sie, diesen umzusetzen ? Durch den flächendeckenden Ausbau des IVK-Systems ist es gelungen, eine ausgewogene Verteilung von IVK nach KESS-Indices zu erreichen. Bei dem Übergang in das Regelsystem sind allerdings sowohl entstehende Schulweglängen wie leistungs- Drucksache 21/17596 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 bezogene Voraussetzungen für den Wechsel an Gymnasien zu beachten, sodass die Steuerungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 5. Wie bewertet der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde die massive Ungleichverteilung der Schüler/-innen aus IV-Klassen auf Klassen der Stadtteilschulen in KESS-1- und KESS-2-Gebieten? Bitte fachlich , sozial- und bildungspolitisch ausführen! 6. Sollte der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde diese Ungleichverteilung kritisch sehen, was sind genau die Maßnahmen, mit denen der Senat, beziehungsweise die zuständige Behörde plant, dieser Entwicklung wirksam entgegenzusteuern? Die Entwicklung der Schülerzahl in den einzelnen Jahrgängen in einem Bezirk ist von vielen Faktoren abhängig, wie den zu erwartenden Zuzügen in öffentlich rechtliche Unterkünfte und deren Lage, dem Alter der zugezogenen Kinder, der Akzeptanz von Wohnunterkünften in der Bevölkerung sowie den normalen Umzügen und Bauaktivitäten . Eine Steuerung dieser sich dynamisch verändernden Schülerströme ist daher nur begrenzt möglich. Im Übrigen siehe Vorbemerkung. 7. Ist der Senat beziehungsweise die zuständige Behörde der Auffassung, dass gerade die Stadtteilschulen in KESS-1- und KESS-2-Gebieten gemäß ihren multiplen pädagogischen Aufgaben angemessen personell, räumlich und materiell ausgestattet sind? Bitte begründen? Die Stadtteilschulen haben die beste Personalausstattung der allgemeinen Schulen, ein Pädagoge beziehungsweise eine Pädagogin betreut hier durchschnittlich 10,8 Schülerinnen und Schüler. Damit haben Stadtteilschulen im Vergleich zu gleich großen Gymnasien knapp 40 Prozent mehr Personal. Die Zuweisung spezifischer Ressourcen erfolgt auch an den Stadtteilschulen in Abhängigkeit vom KESS-Index. So ist die Zuweisung der allgemeinen Sprachförderung eine pauschalierte Zuweisung für alle Schülerinnen und Schüler. Der Zuweisungswert an Stadtteilschulen mit KESS-Index 1, 2 oder 3 ist viermal so hoch wie an Stadtteilschulen mit KESS-Index 4, 5 oder 6. Außerdem ist die Zuweisung für die sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Förderschwerpunkt Lernen, Sprache oder emotionale/soziale Entwicklung an Stadtteilschulen mit KESS- Index 1 oder 2 um 10 Prozent höher als an Stadtteilschulen mit KESS-Index 3 bis 6 (siehe Drs. 21/11428). Stadtteilschulen haben in den Klassenstufen 5 bis 10 im Schnitt 23,9 Schülerinnen und Schüler pro Klasse. In den fünften Klassen liegt sie im Durchschnitt bei 22,4 Schülerinnen und Schüler pro Klasse und damit unter der schulgesetzlichen Sollobergrenze von 23 Schülerinnen und Schülern. Alle 58 Stadtteilschulen haben Ganztagsangebote, um mehr Lernzeit und mehr Bildungsangebote zu ermöglichen, davon haben 46 Schulen ein gebundenes oder teilgebundenes Angebot, zwölf ein offenes Angebot. Die Teilnahmequote am Ganztag in den Stadtteilschulen stieg von 53 Prozent im Schuljahr 2013/2014 auf fast 72 Prozent seit dem Schuljahr 2017/2018. Im Übrigen siehe Vorbemerkung.