BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/18080 21. Wahlperiode 27.08.19 Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Harald Feineis (AfD) vom 19.08.19 und Antwort des Senats Betr.: Zunehmende Gewalt gegen Mediziner und medizinisches Fachpersonal in Krankenhäusern und Arztpraxen. Kennt der Senat das wahre Ausmaß und reichen die bestehenden staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen aus? Das Problem ist seit Jahren1 bekannt und gewinnt zunehmend an Brisanz2. Mediziner und Pflegepersonal in Kliniken sowie niedergelassene Ärzte und ihre medizinischen Fachangestellten werden Opfer physischer Gewalt, sind immer häufiger psychischem Druck ausgesetzt oder sehen sich mit schweren Verbalinjurien konfrontiert. In den Medien wird regelmäßig über derartige Missstände berichtet, kassenärztliche Vereinigungen bieten Präventionsseminare an3 und sogar Selbstverteidigungskurse 4 gehören mittlerweile zum Repertoire der Abwehrmaßnahmen gegen Patienten- und Angehörigengewalt. Die Hessische Landesärztekammer verteilt Meldebögen zur Datenerfassung unter ihren Mitgliedern , um sich einen statistischen Überblick über die Problemlage zu verschaffen 5, und bundesweit investieren Krankenhäuser in Schutzkonzepte und Sicherheitspersonal, um das Ausmaß der Attacken einzudämmen6. Als Hauptgründe für die zunehmende Gewaltbereitschaft von Patienten und Angehörigen werden eine allgemein festzustellende Verrohung im alltäglichen Umgang sowie ein überzogenes Anspruchsdenken im Hinblick auf Behandlungs-und Therapieumfänge, Arzneimittelverordnungen und Wartezeiten angeführt. Dabei sind die Ergebnisse statistischer Erhebungen bezogen auf die Gewaltausübung in Kliniken und Arztpraxen gleichermaßen erschreckend. So präsentierten die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der NAV-Virchow- Bund Zahlen, die belegen, dass es – bundesweit und täglich – bei niederge- 1 Laut einer 2015 veröffentlichten Studie sind 91 Prozent der Hausärzte in Ausübung ihrer Arbeit schon einmal Opfer von aggressivem Verhalten geworden. 23 Prozent der Mediziner erlebten schwerwiegende Aggressionen und Gewalt, bei 11 Prozent der Befragten ereigneten sich die heftigen Zwischenfälle in den vergangenen zwölf Monaten. Medi Verbund Baden-Württemberg. https://www.medi-verbund.de/news/aerzte_sollen_besser_vor_gewalt_ geschuetzt_werden. 2 Tichys Einblick, 23.Juli 2019, Kliniken: Immer mehr Übergriffe – wer sind die Täter? 3 aerzteblatt.de, 16.09.2018: Gewappnet für den Ernstfall. 4 „Süddeutsche Zeitung“, 05.06.2019, Interview mit Henrik Herrmann – Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein. 5 Der Hausarzt.Digital, 13.03.2019. 6 stern.de, 16.01.2019. Drucksache 21/18080 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 lassenen Ärzten 75 physisch ausgeführte Gewalttaten gibt und in durchschnittlich 2870 Fällen verbale Gewalt ausgeübt wird.7 Für den Krankenhausbereich konnte anhand von offiziell in Nordrhein-Westfalen erfassten Straftaten (unter anderem Körperverletzung) für das gesamte Bundesgebiet hochgerechnet werden, dass es etwa 14 000 derartige Delikte p.a. gibt. Hierin nicht einmal inkludiert sind Beschimpfungen und physische beziehungsweise psychische Drohungen und Bedrängungen, denen das medizinische Personal ausgesetzt ist.8 In der Bundes- und Landespolitik wird die beschriebene Problematik ebenfalls seit Langem thematisiert. Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Relevanz und der inzwischen erreichten Dimension der Missstände – vom Leidensdruck der Betroffenen ganz zu schweigen – ist bemerkenswert, wie rudimentär die Kenntnisse des Hamburger Senats im Hinblick auf die Bedrohungs - und Gewalttatbestände im ambulanten und stationären Medizinsektor der Hansestadt geblieben sind. Eine Zusammenschau der Antworten, die der Senat im Zeitraum der vergangenen beiden Jahre auf Anfragen unterschiedlicher Bürgerschaftsfraktionen zur Thematik der Gewalt gegen medizinisches Personal gegeben hat, ergibt folgendes Bild. Die Anzahl der Vorfälle von Gewaltausübung gegen medizinisches Personal ist dem Senat nicht einmal größenordnungsmäßig bekannt. Aufgrund unzureichend differenzierter Datenerhebung, kann der Senat nicht einmal angeben , in wie vielen Fällen Mitarbeiter der Freien und Hansestadt Hamburg, die im medizinischen Bereich tätig sind, Gewalthandlungen, Bedrohungen oder Bedrängungen ausgesetzt waren. Im Übrigen wäre nach Ansicht des Senats der mit einer präzisen Fallzahlenfeststellung verbundene Auswertungsaufwand ohnehin zu groß.9 Gern begründet der Senat die Tatsache, über keine aussagekräftige Datenbasis im Hinblick auf Gewaltausübung gegen medizinisches Personal in der Stadt zu verfügen, auch damit, dass Akteure aus dem Gesundheitswesen – wie zum Beispiel die Kassenärztliche Vereinigung oder die Ärztekammer – solche Daten bisher nicht geliefert hätten.10 Auf eine Anfrage der AfD-Fraktion11 hin stellte der Senat wenigstens eine schmale Auswahl konkreter Zahlen bezüglich „registrierter Vorfälle“ zur Verfügung , die in Hamburgs Plankrankenhäusern im Zeitraum 2014 bis 2018 (1. Quartal) stattgefunden hatten. Diese Zahlen jedoch leuchten lediglich einen sehr kleinen Teilbereich der Gesamtproblematik aus, weil Statistiken über Fälle physischer oder psychischer Gewaltausübung gegenüber dem Klinikpersonal nur von einer verschwindend geringen Anzahl der Plankrankenhäuser überhaupt geführt werden. Es bleibt deshalb ein riesengroßes Dunkelfeld . Differenziertere Auskünfte zu Formen von Übergriffen und Gewalt gegenüber Krankenhausmitarbeitern vermag der Senat lediglich auf Grundlage der sogenannten KPMD-PMK-Statistik zu erteilen. Diese Statistik erfasst allerdings nur politisch motivierte Straftaten und adressiert bezogen auf Kranken- 7 aerzteblatt.de, 16.09. 2018. 8 Tichys Einblick, 23.Juli 2019. 9 Antwort des Senats auf eine Anfrage der FDP-Fraktion, 19.01.2018, Drs. 21/11607 10 Antwort des Senats auf eine Anfrage der FDP-Fraktion, 08.08.2017, Drs. 21/10007 und Antwort des Senats auf eine Anfrage der AfD-Fraktion, 24.08.2018, Drs. 21/13891. 11 Drs. 21/13891 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18080 3 häuser einen so minimalen Ausschnitt der Gesamtproblematik, dass die Daten hier zu vernachlässigen sind.12 Auf die Frage, welche Maßnahmen der Senat ergreift, um Gewalt gegen medizinisches Personal einzudämmen beziehungsweise zu verhindern, wird unter anderem auf die Kriminalpolizeiliche Beratungsstelle im Fachstab des Landeskriminalamtes (LKA FSt 33) verwiesen.13 Es handelt sich hierbei allerdings nicht um ein Beratungsangebot, welches die spezifischen Problemlagen im Kontext von Arztpraxen und Kliniken adressiert, sondern um ein sehr allgemein ausgerichtetes. Gleiches gilt auch für alle anderen vom Senat in diesem Zusammenhang aufgeführten Maßnahmen.14 Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Senat über keine aussagefähige Datenbasis verfügt, um die Tragweite der dargestellten Gewaltproblematik in der Hansestadt realistisch einschätzen zu können. Es ist zumindest fraglich , ob die seitens des Senats angebotenen Maßnahmen zielgenau genug sind, um die spezifischen Gefährdungslagen im Bereich der niedergelassenen Ärzte und der Kliniken adressieren. Hamburg nimmt für sich in Anspruch – von der BGV gern und oft betont –, ein Medizinstandort von besonderer Bedeutung zu sein. Und tatsächlich weisen die Beschäftigtenzahlen, die Wachstumsquoten und der Umfang der generierten Wertschöpfung in diesem Bereich beeindruckende Größenordnungen auf. Umso erstaunlicher ist es, dass es der Senat bisher versäumt hat, sich ein genaues Bild über die seit Langem verschlechterte Sicherheitslage der in der Medizinbranche Tätigen zu verschaffen und möglicherweise mit unspezifischen Maßnahmen auf spezifische Bedrohungslagen zu reagiert. Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Der Senat betrachtet die Gewaltausübung gegen medizinisches Personal, ebenso wie gegen Angehörige anderer helfender Berufe, mit großer Aufmerksamkeit. Die zuständige Behörde ist mit den Institutionen, die Ansprechpartner für die betroffenen Personengruppen sind, insbesondere die Heilberufekammern, die Kassenärztliche Vereinigung und die Hamburgische Krankenhausgesellschaft in engem Austausch. Die zuständige Behörde begrüßt, dass von diesen Institutionen präventive Ansätze zur Gewaltvermeidung eingeführt worden sind, um die Konfliktlösungsstrategien des Personals zu stärken. So bietet die Ärztekammer Kurse zur Konfliktlösungskompetenz für Ärztinnen/Ärzte und Medizinische Fachangestellte an. Auch andere Anbieter bieten Fortbildungsveranstaltungen zu diesem Thema an, die zum Ziel haben, gefährliche Situationen zu entschärfen und damit die Gewaltausübung gegen medizinisches Personal einzudämmen. Zusätzlich haben die Krankenhäuser als Arbeitgeber vielfältige und geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getroffen . Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen teilweise auf der Grundlage von Auskünften der Ärztekammer Hamburg, der Kassenärztlichen Vereinigung und der beteiligten Plankrankenhäuser wie folgt: 1. Welche Formen der Zusammenarbeit gibt es zwischen dem Senat und Akteuren der Hamburger Gesundheitswirtschaft, um das Problem der Gewaltausübung gegen medizinisches Personal einzudämmen beziehungsweise zu entschärfen? 12 Im Dreijahreszeitraum von 2015 – 2017 gab es nach KPMD-PMK-Kriterien insgesamt zwei Fälle von Körperverletzung und drei Fälle von versuchter Körperverletzung. 13 Drs. 21/13891. 14 Ebenda, Seite 5. Drucksache 21/18080 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 Siehe Vorbemerkung. 2. Gibt es Bestrebungen des Senats – gegebenenfalls in Kooperation mit Akteuren der Gesundheitswirtschaft –, eine statistische Datengrundlage zu schaffen, um die tatsächliche Tragweite der geschilderten Gewaltproblematik in Hamburg realistisch einschätzen zu können? Der Ausschuss „Interprofessionelle Gewalt“ der Ärztekammer Hamburg beschäftigt sich mit der Fragestellung. Im Übrigen siehe Drs. 21/11607. 3. Gibt es Bestrebungen des Senats, im Rahmen der Polizeilichen Kriminalstatistik eine differenziertere Opfererfassung vorzunehmen, um die Gewaltproblematik im Medizinsektor besser beurteilen zu können? Die Polizei erfasst Straftaten gemäß dem Straftatenkatalog der bundeseinheitlichen Richtlinien für die Erfassung und Verarbeitung der Daten in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Eine Opfererfassung erfolgt grundsätzlich nur bei strafbaren Handlungen gegen höchstpersönliche Rechtsgüter (Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit , Ehre, sexuelle Selbstbestimmung), soweit sie im Straftatenkatalog zur Opfererfassung vorgesehen sind. Dies betrifft vornehmlich die Bereiche Straftaten gegen das Leben, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und Rohheitsdelikte. Innerhalb der Opfererfassung kann die räumlich-soziale Beziehung des Opfers zum Tatverdächtigen mit den Kategorien „Krankenhaus“, „Senioren-/Pflegeheim“, „häusliche Pflege“ sowie „sonstiges im Gesundheitswesen“ erfasst werden. Die standardisierte Ausgabe dieser Kategorie erfolgt jedoch nicht, sondern ist nur im Rahmen einer Sonderauswertung möglich. Änderungen im Bereich der Opfererfassung sind derzeit nicht vorgesehen. 4. Gibt es Bestrebungen des Senats – gegebenenfalls in Kooperation mit Akteuren der Gesundheitswirtschaft –, Maßnahmen und Konzepte zu erarbeiten, um unter besonderer Berücksichtigung der im Medizinsektor vorzufindenden Bedrohungslagen des Personals das geschilderte Gewaltproblem zu entschärfen? Siehe Vorbemerkung. 5. Der Beratungsansatz des LKA FSt 33 bezieht sich generell auf Unternehmen , Kirchen, Verbände, internationale Organisationen und die öffentliche Verwaltung und kann auch von niedergelassenen Ärzten und Klinikverantwortlichen in Anspruch genommen werden. a. In wie vielen Fällen wurde das Beratungsangebot des LKA FSt 33 im Zeitraum 2012 bis 2019 (Juli) von Krankenhäusern und Praxen in Anspruch genommen? Um eine differenzierte Darstellung gegliedert nach Jahren und Krankenhäusern/Arztpraxen wird gebeten. Die Kriminalpolizeiliche Beratungsstelle (LKA FSt 33) führt keine Statistik im Sinne der Fragestellung. b. Welche spezifischen Beratungsinhalte bietet der LKA FSt 33 Betrieben und Berufstätigen des Gesundheitssektors – etwa in Abgrenzung zu Sicherheitsanforderungen anderer Betriebe? Die Inhalte der kriminalpräventiven Beratung von Betrieben und Berufstätigen des Gesundheitssektors entsprechen in ihren Rahmenparametern den Inhalten, die auch bei der Beratung von anderen Unternehmen abgeprüft werden. Je nach individueller Problemstellung und vor Ort erkannter Schwachstellen variieren die Anteile verhaltenspräventiver , organisatorischer oder technisch/baulicher Verbesserungsmaßnahmen in der unverbindlichen polizeilichen Empfehlung erheblich. Im Übrigen siehe Drs. 21/11607 und 21/13891. 6. Welche Formen der Zusammenarbeit bestehen zwischen dem Hamburger Senat und anderen Landesregierungen im Hinblick auf die geschilderte Gewaltproblematik im ambulanten und stationären Medizinsektor? Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18080 5 Es besteht keine Zusammenarbeit zwischen dem Senat und anderen Landesregierungen im Sinne der Fragestellung. 7. Um eine zahlenmäßige Fortschreibung der Tabelle auf Seite 2 der Drs. 21/13891 für die Jahre 2018 und 2019 (2. Quartal) wird gebeten. Sofern die Hamburger Plankrankenhäuser Vorfälle von Gewalt gegen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeldet haben, sind sie der nachstehenden Übersicht zu entnehmen . Anzahl registrierter Vorfälle Krankenhaus 2018 2019 (1. Halbjahr) Albertinen Krankenhaus 34 14 Asklepios Klinik Altona - 1 Asklepios Klinikum Harburg 10*) 11 Asklepios Klinik Nord 101 82 Asklepios Klinik St. Georg 6 4 Bethesda Krankenhaus Bergedorf 11 4 Ev. Krankenhaus Alsterdorf 2 1 Kath. Marienkrankenhaus 36 6 Wilhelmsburger Krankenhaus Groß-Sand 1 2 ZKH 1 - *) zweites Halbjahr Für das Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) werden Fälle von physischer und psychischer Gewalt wie auch verbale Angriffe gegen die Medizinerinnen und Mediziner sowie das medizinische Fachpersonal des UKE nicht gesondert erfasst. Eine abrufbare und auswertbare Statistik über derartige Fälle besteht dort insoweit nicht. Im Übrigen siehe Drs. 21/13891.