BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG Drucksache 21/18156 21. Wahlperiode 03.09.19 Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Anna-Elisabeth von Treuenfels-Frowein (FDP) vom 27.08.19 und Antwort des Senats Betr.: Transparente Rechtsprechung – Publikation von Gerichtsentscheidungen Bürger müssen in einer zunehmend komplexen Rechtsordnung zuverlässig in Erfahrung bringen können, welche Rechte sie haben und welche Pflichten ihnen obliegen. Die Möglichkeiten und Aussichten eines Individualrechtsschutzes müssen für die Bürger annähernd vorhersehbar sein. Ohne ausreichende Publizität der Rechtsprechung ist dies nicht möglich. Aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt grundsätzlich eine Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen.1 Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgert aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratiegebot und dem Grundsatz der Gewaltenteilung grundsätzlich eine Rechtspflicht zur Publikation „veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen“ (vergleiche BVerfG NJW 2015, 3708). Die Veröffentlichungspraxis von Entscheidungen Hamburger Gerichten trägt den Vorgaben dieser Rechtsprechung in jeder Hinsicht Rechnung. Jede Entscheidung, die einen veröffentlichungswürdigen Inhalt hat, wird durch die jeweils zuständige Stelle der Hamburger Gerichte veröffentlicht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Vielzahl von Entscheidungen gerade keinen veröffentlichungswürdigen Inhalt hat. Dazu zählen von vornherein etwa Versäumnisurteile, Anerkenntnisurteile, Verzichtsurteile, Verweisungsbeschlüsse, Beschlüsse nach § 91a ZPO (sofern die Parteien auf die Gründe verzichtet haben), Beschlüsse nach Klagrücknahme gemäß § 269 Absatz 3 S. 2 ZPO, feststellende Vergleichsbeschlüsse gemäß § 278 Absatz 6 ZPO, für den Bereich des Strafrechts Beschlüsse gemäß §§ 153, 153a, 154 StPO. Diese Arten von Entscheidungen enthalten in aller Regel weder Tatbestand noch Entscheidungsgründe beziehungsweise Ausführungen zur materiellen Rechtslage, sodass eine Veröffentlichung für unbeteiligte Dritte keinerlei Mehrwert ergeben würde. Darüber hinaus kommen immer wieder Entscheidungen vor, bei denen gleichgelagerte, parallele Sachverhalte betroffen sind, sodass hier jeweils nur die Veröffentlichung einer und nicht der Vielzahl aller gleichgelagerten Entscheidungen für Dritte einen Erkenntnisgewinn schafft. Der Aufwand neben den veröffentlichungswürdigen Entscheidungen alle verfahrensbeendenden Entscheidungen zu veröffentlichen, stünde in keinem Verhältnis zu einem daraus zu erwartenden Erkenntnisgewinn für die demokratische Meinungs - und Willensbildung. Denn jede individuelle Entscheidung müsste vor einer Veröffentlichung anonymisiert werden. Im Gegenteil würde eine derartige Praxis einen 1 Vergleiche BVerfG NJW 2015, 3708 Rn. 16, 20; BVerwGE 104, 105, 108 f.; ausführlich Walker, Die Publikation von Gerichtsentscheidungen, 1998, Seite 132 fortfolgende. Drucksache 21/18156 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 2 Erkenntnisgewinn sogar verringern, da die Veröffentlichung einer Flut irrelevanter Fälle den Blick auf wichtige Entscheidungen gerade verstellen könnte. Unabhängig davon stellen die Hamburger Gerichte indes sicher, dass eine Entscheidung stets auch dann veröffentlicht wird, wenn ein Bürger die Entscheidungsgründe beim jeweiligen Gericht anfragt. Dies vorausgeschickt, beantwortet der Senat die Fragen wie folgt: 1. Welche zuständige Stelle entscheidet auf welcher Grundlage, ob und welche Urteile Hamburger Gerichte veröffentlicht werden? An den Hamburger Gerichten existiert keine zentrale Stelle, die über eine Veröffentlichung von Entscheidungen entscheidet. Teilweise ist die Entscheidung über eine Veröffentlichung Aufgabe der Gerichtsverwaltung. Teilweise ist diese Aufgabe den jeweils für die Entscheidung verantwortlichen Richterinnen und Richtern übertragen. Maßgeblich für die Frage, ob eine Entscheidung veröffentlicht wird, ist dabei in allen Fällen gemäß den Kriterien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ob die Entscheidung „veröffentlichungswürdig“ ist. Darüber hinaus gelten an den nachfolgenden Gerichten Besonderheiten: Am Hanseatischen Oberlandesgericht (HansOLG) werden Entscheidungsanforderungen von Rechtsanwälten, Privaten und Fachverlagen innerhalb der Präsidialverwaltung als Verwaltungsangelegenheit bearbeitet, soweit es um zivilrechtliche Entscheidungen geht (vergleiche BGH, Beschluss vom 5. April 2017 – IV AR (VZ) 2/16 –, juris). Sofern die Herausgabe einer Entscheidung zum Schutz höherrangiger Rechtsgüter nicht im Ausnahmefall ganz oder teilweise abzulehnen ist, werden angeforderte Entscheidungen in anonymisierter Form zur Verfügung gestellt. Über die Herausgabe von Urteilen in Strafsachen entscheiden nach Maßgabe von §§ 475 folgende der Strafprozessordnung (StPO) die Strafsenate (vergleiche hierzu BGH, Beschluss vom 20. Juni 2018 – 5 AR (Vs) 112/17 –, BGHSt 63, 156-161). Entsprechend dem Format der Anforderung erfolgt der Versand zumeist in Dateiform per E-Mail. Entscheidungsanforderungen von Fachverlagen führen regelmäßig zu einer Veröffentlichung der Entscheidung in einschlägigen Zeitschriften und juristischen Datenbanken wie beckonline und juris. Darüber hinaus machen die Senate regelmäßig Gebrauch von der Möglichkeit einer eigeninitiativen Veröffentlichung bedeutsamer Entscheidungen. Diese werden von den Senaten benannt und über die Präsidialverwaltung an einen aus Fachverlagen und Datenbanken bestehenden Verteiler (einschließlich der juris- Datenbank) verschickt, zugleich werden solche Entscheidungen in die Datenbank www.rechtsprechung-hamburg.de eingestellt, die frei zugänglich ist und auf von der Internetseite des HansOLG verlinkt wird. Schließlich werden anonymisierte Entscheidungen im Rahmen von Presseauskünften an Medienvertreterinnen und Medienvertreter herausgegeben. Die Gerichtspressestelle bei dem HansOLG ist für alle Presseauskünfte zuständig, die die ordentliche Gerichtsbarkeit in Hamburg betreffen und versendet anonymisierte Entscheidungen an Pressevertreterinnen und Pressevertreter nach Maßgabe von § 4 Absatz 1 und 2 des Hamburgischen Pressegesetzes (HmbPressG). Am Landgericht Hamburg wird eine Entscheidung stets dann veröffentlicht, wenn eine entsprechende Anfrage Dritter bei der Verwaltung eingeht. Das Landessozialgericht Hamburg veröffentlicht alle Urteile und Beschlüsse auf der Internetplattform www.sozialgerichtsbarkeit.de. Alternativ können die gewünschten Entscheidungen auch über das Landesozialgericht angefordert werden. Am Oberverwaltungsgericht Hamburg entscheidet die „Veröffentlichungskommission für das Hamburgische Oberverwaltungsgericht“ (vergleiche § 8 der Satzung des nicht rechtsfähigen Vereins in der Fassung vom 28. März 2011) über eine Veröffentlichung der von den jeweiligen Senaten hierfür freigegebenen Gerichtsentscheidungen des Oberverwaltungsgerichts in Fachzeitschriften und den juristischen Datenbanken juris und beck-online. Über eine Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen des Oberverwaltungsgerichts auf der Homepage des Gerichts entscheidet die Gerichtsverwaltung nach Rücksprache mit den jeweiligen Senaten. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode Drucksache 21/18156 3 Am Verwaltungsgericht veröffentlicht das Gericht durch Entscheidung der Gerichtsverwaltung Entscheidungen von allgemeinem Interesse auf seiner Homepage. Am Landesarbeitsgericht Hamburg (sowie auch am Arbeitsgericht Hamburg) kann neben der jeweils zuständigen Vorsitzenden beziehungsweise dem jeweils zuständigen Vorsitzenden auch der jeweilige Gerichtspräsident über eine Veröffentlichung entscheiden. Am Finanzgericht Hamburg können Entscheidung auch durch die Pressesprecherin beziehungsweise den Pressesprecher veröffentlicht werden. 2. Nach welchen Kriterien werden Urteile zur Publikation als relevant eingestuft und dann online veröffentlicht? An den Hamburger Gerichten besteht kein abschließender Kriterienkatalog. Maßgebliches Kriterium ist die juristische Relevanz der Entscheidung, also ob die Entscheidung über den Einzelfall hinaus Bedeutung hat. Kriterien können darüber hinaus ein allgemeines und/oder aktuelles öffentliches Interesse an einer Entscheidung, ein besonderer regionaler Bezug einer Entscheidung zu Hamburg oder die Bedeutung einer Entscheidung für die Vertiefung, Änderung oder Fortbildung der Rechtsprechung sein. Entscheidungen werden zudem dann veröffentlich, wenn sie von Dritten angefragt werden. 3. Mit welchem personellen, sachlichen und technischen Aufwand rechnet die zuständige Behörde, wenn alle Gerichtsentscheidungen unter Achtung der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten online veröffentlicht werden? Die zuständige Behörde rechnet für diesen Fall mit einem ganz erheblichen personellen , sachlichen und technischen Aufwand. Für die Anonymisierung einer Entscheidung kann zwar als technisches Hilfsmittel ein kostenlos von Juris bereitgestelltes Tool eingesetzt werden. Auch der Einsatz eines solchen Programms erfordert aber einen gewissen personellen Zeitaufwand bei der Anwendung des Tools. Zudem kann sich die Erkennbarkeit der Betroffenen auch aus inhaltlichen Darstellungen in dem Urteil oder Beschluss ergeben. Daher sollte im Rahmen einer Anonymisierung immer auch eine Richterin beziehungsweise ein Richter (vorzugsweise diejenige beziehungsweise derjenige, die beziehungsweise der das Urteil verfasst hat) noch einmal prüfen, ob die die Anonymisierung auch vollständig ist. Nach Rückmeldungen seitens der Gerichte muss für die Anonymisierung einer Entscheidung ein Zeitaufwand von fünf Minuten bis 30 Minuten (je nach Umfang der Entscheidung ) veranschlagt werden. Für die Einschätzung des Aufwands geht der Senat von einem Aufwand von durchschnittlich zehn Minuten aus, da der Anteil an kürzeren Entscheidungen überwiegen dürfte. Angesichts von durchschnittlich etwa 270 000 Gerichtsentscheidungen (Urteile und verfahrensbeendende Beschlüsse) pro Jahr in den Jahren 2016 bis 2018 und einem durchschnittlichen Zeitaufwand von zehn Minuten pro Akte, müssten zu diesem Zweck rund 25 Vollzeitstellen geschaffen werden. Mindestens die Hälfte dieser Stellen müsste auf Richterinnen- und Richterstellen entfallen, damit sichergestellt werden kann, dass keine Erkennbarkeit der Betroffenen über inhaltliche Ausführungen in der Entscheidung gegeben ist. Der personelle sachliche und technische Aufwand würde bei Schaffung von 17 Richterstellen und zehn A9-Stellen jährlich zusammengenommen 3,4 Millionen Euro betragen. 4. Wie häufig gab es in den letzten drei Jahren Anfragen von Bürgern, weil Gerichtsentscheidungen der Hamburger Gerichte nicht online zur Verfügung gestellt wurden und Bürger diese aber dennoch online einsehen wollten? Derartige Anfragen und Eingaben werden bei den Hamburger Gerichten statistisch nicht erfasst. Bei der zuständigen Behörde sind keine entsprechenden Anfragen eingegangen . Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern zu Gerichtsentscheidungen wer- Drucksache 21/18156 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – 21. Wahlperiode 4 den – je nach Gericht und Verfahrensstand – teils zu den Verfahrensakten, teils zu gesonderten Verwaltungsakten und vereinzelt auch zu keiner Akte genommen, etwa wenn die Anfrage telefonisch eingeht und die Verfahrensakten bereits für die entsprechende Instanz geschlossen sind. Hinsichtlich der Anzahl der zu überprüfenden Verfahrensakten siehe Antwort zu 3. Eine Beiziehung und händische Auswertung der Verfahrensakten ist in der für die Beantwortung einer Parlamentarischen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Selbst bei Überprüfung sämtlicher Verfahrensakten und der relevanten Verwaltungsakten aller Hamburger Gerichte könnte die Frage nicht verlässlich beantwortet werden, da nicht alle Anfragen zu einer Akte genommen werden.